Wie wird der Film "SuckMyDick" Ihrem Gefühl nach abschneiden?
Roehler: Das ist nicht abzusehen. Ich glaube, die Verhältnisse im Kino jetzt sind genauso chaotisch wie die generellen Verhältnisse, wenn du den Fernseher einschaltest. Du hast es mit einer wahnsinnig überpowerten Kinolandschaft zu tun. Es kommen irrsinnig viele Filme raus, gerade Majors, die die Kinos echt blockieren. Da kriegst du Probleme: mein Film startet mit 40 Kopien. Wir wollten eigentlich größer starten, haben den Film erst einmal in ein paar Kinos nicht reingekriegt. Ich selber habe eigentlich ein gutes Gefühl, ein besseres als bei der "Unberührbaren", wegen des Fun-Faktors. Es kommt jetzt darauf an, dass der halbwegs promotet wird und wie die Leute in der Vorstellung reagieren. Ich habe schon diverse Festivals hinter mir und das war eigentlich klasse.
Wie groß ist denn das Thema der Potenzängste und ähnliche, die Sie anpacken?
Roehler: Verlustangst ist doch ein echtes Kardinalthema. Das ist eigentlich der Aufhänger gewesen. Meine Prämisse für den Film war: alle laufen rum, die Köpfe sind geschwollen von irgendwelchen Ängsten, Erwartungen oder hypothetischen Dingen, die jeder ständig im Kopf durchspielt. Der Film geht davon aus, was passiert, wenn deine schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Wie reagiert deine Umwelt darauf? Wie reagiert deine Ex-Frau, wenn du deinen Schwanz verlierst? Wie läufst du durch die Welt, wenn du jeden Morgen, nachdem du dir irgend etwas Schlimmes vorgestellt hast, feststellst, das ist jetzt wirklich. Und, was bleibt dann von dir letztlich noch übrig? Viele Frauen sehen den Film als eine Art Demontage der Männlichkeit. Ich weiß nicht genau, ob ich das wirklich so einschätze. Ich wüsste auch nicht, was ich für einen Film gemacht hätte, wenn ich eine Frau wäre; ob ich dann einen Film darüber gemacht hätte, dass ich morgens aufwache und mein Loch ist zu, wie Jekyll das so schön im Film ausdrückt. Ich glaube, eher weniger. Bei uns Männern, und wenn ich mich selber einschätze, kreist es oft um Erfolg und Misserfolg oder Soll und Haben. Etwas, das nachweisbar ist: wenn wir durch eine Börsenspekulation am nächsten Tag eine gewisse Summe auf dem Konto haben. Oder wenn wir uns etwas in sexueller Hinsicht vorgenommen haben, ob wir das als Ziel erreichen. Dadurch dass wir bestimmt alle schwanzgesteuert sind, sind wir alle unheimlich zielgerichtet. Das ist eine große Schwäche und was wahrscheinlich jeder von uns zugibt und was jeder an uns als männlicher Spezies durchschaut hat. Es gibt auch keine Ansatzpunkte von Selbstheilung. Es ist genetisch programmiert, wie wir sind und wie wir handeln.
Kann man etwas dagegen tun?
Roehler: Mein Gott, so weit wie möglich meinen trivialen Bedürfnissen zu gegebenem Zeitpunkt der Erleichterung zu verhelfen. Wir können beim Sex anfangen. Man kann sein Leben klar anders ausrichten. Ich glaube, dass wir auch im Westen so programmiert sind. Es gibt Kulturen und Religionen, wo das anders funktioniert, aber das kann ich nicht wirklich beurteilen.
Was bedeutet der Titel?
Roehler: Es gibt ganz viele Zuschauer, die in den Film reingegangen sind, die immer gesagt haben: "Sag mal Dick." Für die Omis, die ihn gesehen und genossen haben, als ich auf dem wirklich tollen Publikumsfestival in Baden-Württemberg war. Sie fanden das total o.k., dass ein Film so heißt.
Ist der Titel nicht eine Provokation?
Roehler: Total. Alle haben sich lange gegen den Titel gewehrt, und dann hat sich der Titel letztendlich doch durchgesetzt. Ich glaube, es war der Titel, der sich durchgesetzt hat, ich war es nicht, weil man mich überreden hätte können. Aber der Titel war zu stark, als das man ihn hinters Licht führen konnte. Der blieb einfach und stand plötzlich auf dem Plakat.
War der Titel spontan, oder kam er als Konzept daher?
Roehler: Völlig spontan, wie im Grunde der ganze Film. Von Anfang an war der Spaßfaktor die Hauptfigur, erst einmal nachzuvollziehen, wie die Geschichte passiert. Jekyll (erfolgreicher Buchautor im Film – Red.) sitzt beim Psychiater, und irgend etwas arbeitet in ihm, das raus muss. Mit welcher Schicksalhaftigkeit seine schlimmsten Befürchtungen war werden: das hat schon beim Schreiben einen unendlichen Spass gemacht. Jemanden so ausflippen zu sehen, aus Ohnmacht und Hilflosigkeit so wahnsinnig werden lassen: das fand ich ziemlich klasse. Ich liebe ja auch Leute – das war ein Faktor im Film – die sich outen oder sich selber an den Pranger stellen, sich der Öffentlichkeit in ihrer ganzen Lächerlichkeit preisgeben. Ich mag auch Leute wie Jenny Elvers, auf irgend eine Art als Pendant zu meinem Jekyll vielleicht. Eine ganz gute Jeanny hätte sie auch abgeben können. Indem du dich outest, nimmst du unheimlich viel auf dich. Du musst aber erst einmal, um überhaupt so weit zu sein, dass du vor die Leute trittst und beispielsweise sagst, wie er (Jekyll) das in der Publikumsbeschimpfung gemacht hat: "Habt ihr schon mal Kinder im Krieg verloren? Habt ihr schon mal ein Bein verloren?" Wenn du "Fuck You!" zu den Leuten sagen kannst, musst du eigentlich deine Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg, deine Angst Geld zu verlieren überwunden haben. Meinem Held ist das Schicksal dabei zu Hilfe gekommen, indem das Schicksal ihm in Form seines Gegenspielers alles weggenommen hat, was ihn gehindert hat sich zu outen.
Gibt es eine Botschaft im Film?
Roehler: Ich würde es anders formulieren. Ich glaube, dass der Film zeigt, dass man wenn man alles verloren hat, wovor man Angst hatte, dass man es verliert, geistig und mental befreiter dasteht als vorher. Mein Held ist für mich zum Schluss zum Philosophen geworden, der alles verloren hat und sich in seinem Sessel zurücklehnen kann, der ein Bild wie der letzte Penner abgibt, der ganz gemütlich darüber nachdenken kann, was das Leben eigentlich für ihn bedeutet. Er bezieht wieder einen gewissen Spass daraus. Der ganze Stress, der ihn von seinen Erwägungen abgehalten hat, ist plötzlich – erst einmal – weg.
Die koksende Tochter ist die einzige, die ihren Vater versteht – heißt das, dass man die Realität nicht nüchtern ertragen kann?
Roehler: Die Realität selber ist in höchstem Maße delirös und überhaupt nicht mehr nüchtern. Ich glaube eher, dass es umgekehrt ist, dass die Realität nicht mehr nüchtern ist, dass die Realität in der Form gar nicht existiert. Je verrückter man ist, desto besser kommt man auch mit der Realität klar. Die Frauenfiguren in dem Film beispielsweise sind ganz bewusst klischeehaft. Ich hatte Freude daran, mit Klischees zu spielen – mit einem zwinkernden Auge. Zum Beispiel auf die Tochter, die Koks braucht um ihre Mathe-Aufgaben zu machen. Ich wollte das einfach verharmlosen, als lustig darstellen und nicht alles so ernst nehmen müssen. Roehler: Klischees habe ich eingebaut: die Frau, dien ihn hasst hat, weil er sie 20 Jahre lang in der ehe betrogen hat. Es war für mich wichtig zu zeigen, wie man 50 – 60 Jahre lebt – der Konsens besteht eigentlich nur so lange, als er selbst noch Macht- und die Oberhand hat. Irgendwann rächt sich alles an ihm. Das ist die uralte Geschichte, ob es bei Clockwork Orange, Harry außer sich. Es gibt so viele Filme, wo irgendwann sich mal alles wieder an einem rächt- irgendeinem schlimmen, der mit seinem Charme und Intelligenz tausend Leute gekränkt, beleidigt, gedemütigt hat. Diese Dingen tauchen wieder an seinem Weg auf und zahlen alles zurück.
Sehen Sie bei der Klischeehaftigkeit die Gefahr der Übertreibung?
Roehler: Viel ist in dem Film übertrieben.
Oder verpuffen die Effekte des Films dadurch zu sehr?
Roehler: Der Film wirkt dem entgegen, indem er versucht, die Leute in Atem zu halten. Ich habe bei meiner Geschichte bemerkt, dass man, wenn man sie sieht, nicht weiß, wo die Geschichte entlangläuft. Man versucht immer mehr neue Überraschungen zu bieten. Es passiert eben immer wieder etwas Neues in der Story. Ich habe das Gefühl, dass die Leute total bei der Stange bleiben, es sie also niemanden langweilt ins Kino zu gehen.
Wozu bieten Sie die ganze Prominenz im Film auf?
Roehler: Das war bei der Geschichte die einzige Möglichkeit, dem Ganzen einen gewissen Glamour zu verleihen. Ich wollte einfach Glanzlichter in dem Film haben, die schon für sich selbst sprechen, wie zum Beispiel Wolfgang Joop.
Sehen Sie einen Selbstbezug, wenn Sie die Stars in Ihrem Film platzieren? Stars sind ja gerade von Verlustängsten geplagt.
Roehler: Ich glaube, dass es eher um die Berliner Szene geht. Ich wollte eigentlich als Untertitel unter "Suck my Dick" schreiben: "Hatten Sie jemals Verlustängste?". Was mir bei dem Film als Prinzip aufgefallen ist, ist folgendes. Du bekommst so etwas beim Fernsehen nie als Serie unter, weil Serien auf Zielpublikum ausgerichtet sind und werden recht programmatisch aufgebaut. Was mir nun aufgefallen ist, als ich die ersten neunzig Minuten, die jetzt im Kino kommen, geschrieben und gedreht hatte, ist – Wow! – das ist der Pilot für die nächsten dreißig Folgen, die in der Berliner Gesellschaft spielen, wo immer mal der eine oder der andere vom Virus der Angst befallen wird, der irgendwann ausbricht. Das könnte ich übertragen auf Jekylls Tochter, Jekylls Frau, auf X interessante Figuren aus den unterschiedlichsten Milieus. Das wäre eine irre interessante Studie, die man mit einem großen Spass beliebig fortsetzen könnte. Was passiert einer Putzfrau, die plötzlich Verlustängste bekommt. Ich hatte das Gefühl, dass das Thema unerschöpflich sei. Normalerweise hast du das Gefühl – wie bei der "Unberührbaren": du hast den Film gemacht, Thema erledigt. Die nächsten zehn Jahre wirst du so etwas überhaupt nicht mehr angehen. Hier hatte ich das Gefühl, ich könnte mich gleich wieder ransetzen und Teil 2, Teil 3, Teil 4 und Teil 5 schreiben.
Funktioniert das wirklich bei einer Putzfrau, wenn man also die Glamour-Ebene verlässt?
Roehler: Es würde in der einen oder anderen Form auch tragischer sein und sich nicht einfach nur auf die Verlustängste beziehen. Es geht darum, in den Geist der Leute einzutauchen, zu erfahren, was das eigene Hirn sich als hypothetische Möglichkeiten ausdenkt, wie das eigene Leben aussehen kann. Es geht auch um Träume. Man träumt ja zum Teil das aberwitzigste Zeug. Das Verrückte ist ja, dass Träume oft nur im Detail Dinge wiederholen, die man im Leben auch an unscheinbaren Ereignissen erlebt hat und setzt sie auf kuriose Art zusammen. Dann entstehen die bizarrsten Albträume. Was man da für Rückschlüsse auf sich selber ziehen kann, ist erstaunlich. Es ist ein weites Feld. Es ist vielleicht auch ein Grundprinzip. Es war auch in "Kingdom" von Lars von Trier so, wo du auch dachtest, eine Folge hatte immer so viele Charaktere gehabt. Es ist ein Spiel mit der Wirklichkeit. Man kann an verschiedenen Ecken ansetzen und es weiterstricken. Was könnte passieren – wie bei "Lola rennt". Was für eine Biographie in sieben Fotos hinter der Figur steckt. Oder wie würde sich Jekyll beispielsweise in der Beziehung mit der Sechzehnjährigen machen? Wie würde er sich als eine Art Big Lebowski im Supermarkt machen, der sich gerade eine Tüte Milch holt. Man kann sich einfach unheimlich viel zu der Figur ausdenken.
War der Film bei den vielen surrealen Szenen eine neue filmische Herausforderung?
Roehler: Auf jeden Fall. Auch da stellst du plötzlich fest, dass das ein weites Feld ist. Je mehr Geld du hast, je mehr du auf die Kacke hauen könntest, je mehr Spass wirst du an der Szene haben. Es ist auf jeden Fall neu und lässt sich erweitern. Es macht wahnsinnig viel Lust darauf, rein filmisch noch weiter von der Realität abzuheben und völlig verrückte Bilder zu schaffen. Es ist ein Weg aus der üblichen Darstellung von Realität herauszukommen. Ich habe jetzt beispielsweise ein Musical gedreht, das ist quasi aus dem Nichts entstanden. Für mich hat sich durch "Suck my Dick" eine ganz spaßige Möglichkeit eröffnet, in verschiedenen Genres zu arbeiten und auch aufwendigere Filme zu machen. Ich habe sehr viel Spass daran gehabt.
Manche, die sich über den Film geäußert haben, meinten es als Kompliment, dass Sie sich dadurch immer noch nicht in der deutschen Kinolandschaft etabliert haben. Erfreut Sie das?
Roehler: Ja, denn die Gefahr ist hoch, auf der bürokratischen Seite zu stehen Ich habe jede Menge Angebote gekriegt – ernsthafte Beziehungsdramen, auch mit Hannelore Elsner und das ganze Zeug. Ich hatte einfach keine Lust darauf. Als Guerilla-Kämpfer unterwegs zu sein und die Leute anzutesten, nicht auf Nummer sicher zu gehen, macht wesentlich mehr Spass. Ob aber der Film sich etabliert oder nicht, ist noch nicht entschieden. Es ist der Film von mir, der mit Abstand mit den meisten Kopien rauskommt. Ich hoffe im Grunde darauf, dass es auch ein kommerzieller Erfolg wird.
Was halten Sie davon, dass Künstler nach dem 11. September eine Art Selbstzensur üben?
Roehler: Das ist echt ein Problem der Amis mit ihrer komischen Politik. Mir tun alle Künstler leid, die darunter jetzt leiden müssen. Ich meine, wir leben in Europa. Es klingt bescheuert, aber wir müssen nach vierzig Jahren amerikanischer Kulturoberherrschaft zu einem Selbstverständnis unserer Kultur zurückfinden. Nach dieser schrecklichen Nachkriegsscheiße, wofür keiner etwas kann, ist unsere Kultur zerbröckelt. Ich glaube, dass wir jetzt die Chance haben, jetzt ganz neu und frei wieder anzufangen. Man muss Abstand davon nehmen, immer nur die Realität porträtieren zu wollen. Man sollte mehr darauf achten, was im Kopf so alles abläuft, was für lustige Dinge man sich ausdenkt, wenn man früh aufsteht. Das sind Dinge, die zählen. Die sind oft viel crazier, als das im Moment durch Filme oder Bücher widergespiegelt wird. Der Mut ist noch nicht, das zu transferieren und einen Film darüber zu machen, was völlig crazy klingt. Der Erfolg von "Lola rennt" konnte nicht wiederholt werden, weil offenbar keiner so eine gute Idee hatte, so geil die Wirklichkeit zu interpretieren. Solche Filme müsste es öfter geben. Mein Film ist auf jeden Fall einer, der diese Richtung eingeschlagen hat.
Der deutsche Film ist Ihnen zu langweilig?
Roehler: Super langweilig. Diese blöden Teenie-Problemfilme, die ständig rauskommen, über Punks und das Leben im Osten, sind dröges Zeug.
Was wollen Sie denn im Kino sehen?
Roehler: Ich schaue mir alles Mögliche an. Ich guck mir auch gerne Teenie-Filme an, wenn sie gut gemacht sind. Das soll nicht heißen, dass ich das unbedingt im Kino sehen möchte: ich schaue mir nur lieber gute Teenie-Filme an als deutsche Problemfilme. Da ist ganz klar, wie weit Amerika voraus ist. Die machen so ein Film wie "The Faculty" – der ist einfach so abgefahren. Deutsche Filme verlassen nicht die Ebene der Realität. Wir haben zu geringe Fantasie. Ich finde Paul Thomas Anderson und seine Filme wie "Boogie Nights", "Magnolia" und "Happiness" toll. Dieser Tanzfilm "Moulin Rouge" hat mir wahnsinnig gut gefallen. Es gibt schon mal, selten zwar, gute Filme. Was ich nicht gerne sehe, sind die Schmonzetten mit Julia Roberts. In den neunziger Jahren war "Lola rennt" der einzige deutsche Film, den ich gut fand.
Und davor?
Roehler: Davor gab es überhaupt keinen deutschen Film (lacht). So etwas wie "Sonnenallee" finde ich einfach nicht gut, es tut mir leid. Es war Glück, dass da Leute reingegangen sind. Es ist alles mit diesem schrecklichen deutschen Humor verhaftet.
Das Leben ist ein Comic – welche Figur sind Sie?
Roehler: Das ist eine gute Frage. Ich bin der türkise Johnny.