Osvaldo Golijov

Manchmal brauchst du den Klang einer Pistolenkugel, manchmal ein Orchester

Komponist Osvaldo Golijov über das Komponieren, die Wahrheit eines Werks, seine Filmmusik zu „Youth without Youth“ und die Frage, ob Klassik uns zu besseren Menschen macht

Osvaldo Golijov

© John Sann

Mr. Golijov, wenn Sie mit einem neuen Werk beginnen, wie gehen Sie vor?
Osvaldo Golijov: Am Anfang ist es meistens ein Versuch, den emotionalen Kern eines Werk zu finden. Ich höre dann Musik, die ich mit der Welt verbinde, die ich mir vorstelle. Als ich zum Beispiel mein Cello-Konzert geschrieben habe, da habe ich viel Sibelius gehört und gespielt. Weil ich herausfinden wollte, wie ich ein Stück von so großer Weite, mit so einem langen Atem kreieren kann.

Und was haben Sie sich angehört, als Sie die Musik für den Film „Youth without Youth“ von Francis Ford Coppola komponiert haben?
Golijov: Ich habe späte Werke von Liszt am Klavier gespielt, auch Skrjabin. Allerdings nicht wegen der Romantik in ihrer Musik, sondern mehr wegen der harmonischen Zweideutigkeit, die für mich eine Verbindung zum Film darstellte.

Musik anderer Komponisten scheint also eine wichtige Inspirationsquelle für Sie zu sein.
Golijov: Ja, wir reden in unserer Musik ja auch immer über die gleichen Dinge. Ok, manche Dinge sind heute anders, aber zum Beispiel Melancholie hat immer existiert und wird weiter existieren. Und da interessiert mich natürlich, wie Komponisten in der Vergangenheit damit umgegangen sind. Ich finde es wichtig, nicht zu ignorieren, dass andere Komponisten vor mir das gleiche menschliche Thema erforscht haben.

Und Sie haben keine Angst, zu sehr in deren musikalische Welt einzutauchen? Wie finden Sie die eigene Stimme?
Golijov: Entweder du bist originell oder du bist es nicht. Wenn du originell bist, dann wird auch deine eigene Stimme durchkommen. Und wenn nicht, dann wirst du vor den anderen Einflüssen nicht fliehen können.

Wann haben Sie Ihre eigene musikalische Stimme gefunden?
Golijov: Ich würde sagen, als ich das 1992 das Streichquartett „Yiddishbbuk“ komponiert habe. Ich finde, das bin mehr oder weniger ich.

Könnten Sie Ihre Stimme mit ein paar Worten beschreiben?
Golijov: Ich weiß nicht, ob es in meiner Musik durchkommt, aber ich wünsche mir, dass meine Musik eine emotionale Direktheit hat wie Popmusik. Gleichzeitig soll sie aber auch den Rahmen und die Architektur von klassischer Musik haben. Und ich bin neugierig, wie jeder Komponist versuche ich mich nicht zu wiederholen.

Oft überraschen Sie in Ihrer Musik mit selten gehörten Instrumenten und sie kombinieren normales Orchester mit Elektronik. Wie wählen Sie das Instrumentarium aus, verfolgen Sie ein bestimmtes Prinzip?
Golijov: Für mich gibt es Konstellationen von Emotionen die nach einem bestimmten Stil, einem bestimmten Instrumentarium verlangen. Nehmen wir mal als Beispiel Gustav Mahler, der in seiner zweiten Sinfonie innerhalb weniger Seiten von C-Moll nach E-Dur übergeht, von einer sehr tragischen Stimmung ins Paradies. Im Grunde genommen mache ich das Gleiche, ich moduliere zum Beispiel von Flamenco-Stil hin zu einem satten, hyperromantischen Klang a la Richard Strauss.

Was gegenüber einem Tonartenwechsel ja schon eine sehr große Veränderung ist.
Golijov: Ja, nur denke ich auch, dass viele Menschen heute die Fähigkeit verloren haben, einer Modulation zu folgen, die von C-Moll nach E-Dur verläuft. Sie assoziieren aber immer noch bestimmte musikalische Symbole mit bestimmten Emotionen. Und wenn du von einem zum anderen wechselst, dann schaffst zu damit eine Narrative.
Die Vokabeln für diese musikalische Narrative sind heute natürlich vielfältiger als zu Mahlers Zeiten. Wenn ich zum Beispiel in meiner Oper „Ainadamar“ die Ermordung von Federico García Lorca darstelle, frage ich mich: Was repräsentiere ich hier? Was will ich hervorrufen? Und ich habe mir gedacht: Warum ein Schlagzeug nehmen, ich kann doch den Sound einer richtigen Pistole aus den 30er Jahren verwenden und daraus eine Flamenco-Fuge kreieren. Ich versuche immer, offen für solche Möglichkeiten zu sein und auf die wahrste Art und Weise auszudrücken, was ich will. Manchmal brauchst du dafür den Klang einer Pistolenkugel, manchmal ein Orchester. Und du kannst auch beides miteinander kombinieren.

Wann wissen Sie, dass Sie die richtige Kombination gefunden haben?
Golijov: Ich habe gelernt, dass es für jedes Stück Musik eine eigene Wahrheit gibt. Und die will ich finden. Dafür musst du wissen, wer du bist und dich verwirklichen. Das habe ich von Astor Piazzolla gelernt. Ich denke zwar nicht, dass ich so talentiert bin wie er, aber ich fühle, dass ich auf der gleichen Wellenlänge bin, um meine Wahrheit zu erzählen. In meinem Liederzyklus „Ayres“, da wollte ich in einem Lied den Ärger zum Ausdruck bringen, den ich in der arabischen Welt spüre. Ich habe mich dann an einen arabischen Markt in Jerusalem erinnert, wo ich diese Spannung erlebt habe – und dann habe ich Messer gesampelt und daraus rhythmische Loops kreiert, um diese Stimmung wiederzugeben.

Gelingt es Ihnen denn immer, die Wahrheit eines Stücks zu finden?
Golijov: Manchmal wird ein Werk direkt geboren, wie mein Quintett „Isaac the Blind“, „Yiddishbbuk“ oder meine Markus-Passion. Und manchmal wird es falsch geboren, wie die Oper „Ainadamar“, die ich nach der Uraufführung revidiert habe – was mich übrigens mehr Zeit gekostet hat, als die Oper zu komponieren.

Gibt es Werke, von denen Sie heute denken: Das hätte ich damals anders schreiben sollen?
Golijov: Ja, die gibt es. Sogar heute denke ich manchmal im Nachhinein, dass ich ein schlechtes Stück komponiert habe. Das gehört zum Leben dazu. Mit dem Komponieren ist es wirklich ein Mysterium, manchmal schreibst du ein Stück spontan und es ist wunderbar – und manchmal arbeitest du ein Jahr dran und nichts passiert.

Zitiert

Ich wünsche mir, dass meine Musik eine emotionale Direktheit hat wie Popmusik.

Osvaldo Golijov

Was Sie von vielen anderen modernen Komponisten unterscheidet ist der sehr rhythmische Gebrauch des Schlagwerks.
Golijov: Ja, ich benutze Groove, Rhythmus bringt deinen Körper in Bewegung. Ich habe nie verstanden, warum man, um modern zu sein, so aperiodisch sein muss. Ich liebe Periodizität und ich liebe die lateinamerikanischen Rhythmen, die unglaublich komplex, aber gleichzeitig periodisch sind. Bach ist genauso periodisch. Beim Rhythmus hat für mich die lateinamerikanische Musik auch mehr mit Bach zu tun, als viele europäische Werke, die in der Zeit, sagen wir, nach Anton Webern entstanden sind. Mich schreckt aperiodische Musik auch immer ein wenig ab.

Sie haben mehrere Jahre Komposition studiert, u.a. in den USA bei George Crumb. Wie wichtig war das für Sie?
Golijov: Das war sehr wichtig. Bei George Crumb habe ich gelernt, welche große, bewegende Kraft in kleinen kompositorischen Details liegen kann.
Ich habe aber auch viel durch die Zusammenarbeit mit dem Kronos Quartet gelernt, für die ich Musik aus vielen verschiedenen Kulturen arrangiert habe. Ich habe mit Künstlern wie Taraf de Haidouks aus Rumänien, der Rockband Cafe Tacuba aus Mexiko oder mit Zakir Hussein aus Indien gearbeitet – dabei lernst du immer etwas. Ich habe in kurzer Zeit eine Vielzahl von Stücken gespielt und verschiedene Traditionen kennen gelernt.
Und dann spielt noch die Malerei eine große Rolle, ich denke, dass ich viel von Picasso und Rembrandt gelernt habe.

Was lernen Sie von den Malern?
Golijov: Ich schaue mir ihre Bilder an, lese, was sie zu sagen haben – und ich versuche ähnliche Dinge in meiner Musik zu machen. Bei Picasso kann man manchmal sehen, wie er die Wirklichkeit in Muster und Formen transformiert. Was ein bisschen so ist, wie wenn Bach eine Choralmelodie nimmt und daraus ebenfalls eine Art Muster kreiert. Die Kunst gibt dir die großartige Möglichkeit, den Dingen, denen du begegnest, eine Dimension zu verleihen.

Musik als eine Vertonung des Lebens?
Golijov: Ja. Für mich war es als Kind eine große Offenbarung, als ich Piazzolla entdeckte. Auf der einen Seite war da der bachsche Kontrapunkt in seiner Musik und die Bartok-Harmonien und -Rhythmen. Auf der anderen Seite konnte ich in der Phrasierung, in seinen Melodien sehen, wie die Menschen in Buenos Aires geredet, gelacht, geflirtet und gekämpft haben. Seine Tangos, das ist nicht nur Musik, es ist eine wahre Verwandlung des Lebens in Buenos Aires zu Piazzollas Zeiten. Diese Transformation der Wirklichkeit in Musik, das ist auch ein Ideal für mich.

Piazzolla war noch ein Komponist, dem zu Lebzeiten viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Heute sind nur sehr wenige zeitgenössische Komponisten einer breiten Öffentlichkeit bekannt, haben in der Gesellschaft kaum mehr Relevanz. Warum?
Golijov: Ich weiß es nicht, ich habe da keine Theorie. Ich finde es natürlich traurig, weil es so unglaublich viel schöne neue Musik gibt. Zu einem gewissen Teil denke ich, liegt es an der Gesellschaft, die sich einfach zu anderen Ausdrucksformen hingewendet hat. Aber auch die Komponisten sind wohl mit schuld daran. Viele von ihnen verfolgen heute ganz andere, sehr spezielle Interessen. Ganz anders als zum Beispiel Beethoven, der wirklich alles aus seinem Leben in seine Musik einbringen wollte: seine Ideale, das ganze Universum, wie er es kannte – und das hat damals den Bezug zu den Menschen, zum Publikum hergestellt.
Das gibt es aber auch heute noch. Ich denke zum Beispiel, dass jemand wie John Adams im großen Umfang versucht, die Erfahrung, heute am Leben zu sein, in Musik umzusetzen. Wahrscheinlich ist er deswegen einer der Komponisten, die in den USA am häufigsten aufgeführt werden.

Wahrscheinlich ist Adams deswegen einer der Komponisten, die in den USA am häufigsten aufgeführt werden.
Golijov: Er hat einfach eine sehr breite Palette an Ausdrucksformen hat, auch seine Kunstfertigkeit ist fantastisch. Adams ist heute in der wunderbaren, privilegierten Position, wie Verdi es seinerzeit war: Er kann auf eine neue Art und Weise Dinge ausdrücken, aber mit einem ganz normalen Sinfonie-Orchester. – Ich dagegen brauche dafür eine Flamenco-Sängerin… (lacht) Ja, ich mache immer so meine komischen Dinge, ich sehe mich da eher als eine Art Mussorgsky. Adams dagegen verhält sich mehr wie Verdi.

Ein interessanter Vergleich, auch weil beide in ihren Opern politische Themen aufgegriffen haben. Wäre das für Sie auch denkbar?
Golijov: Ich habe das bereits versucht – aber ich bin gescheitert. Ich habe eine Oper angefangen über den Nahost-Konflikt, aber ich habe sie nie vollendet.

Warum nicht?
Golijov: Es sollte um Selbstmordattentate gehen, den damit verbundenen Mythos …. Ich hatte auch schon viele Familien getroffen, mich mit Palästinensern und Israelis unterhalten, die Verwandte im Konflikt verloren haben und sich heute im sogenannten „Parents Circle“ treffen. Aber dann ist es mir nicht gelungen, dafür einen Ausdruck zu finden, der genauso kraftvoll gewesen wäre, wie die Aktionen und Friedensbemühungen dieser Menschen.

Sie sind in einer jüdischen Familie aufgewachsen, haben in Jerusalem gelebt – welche Rolle spielt Ihre Biographie für Ihre Musik?
Golijov: Meine Musik wäre sicherlich ganz anders, wenn ich in Argentinien studiert hätte und nicht nach Israel gegangen wäre, nicht in die USA gekommen wäre. Meine Musik ist das Spiegelbild meines Lebens. Wie jedermanns Musik. Wenn Sie zum Beispiel Werke von Esa-Pekka Salonen hören, der würde ganz anders komponieren, wenn er nicht die letzten 20 Jahre in Los Angeles gelebt hätte. Dein Leben beeinflusst immer deine Musik.

Weil wir schon viel über John Adams sprachen: Er meinte im Interview, dass US-Politiker kaum in klassische Konzerte gehen würden.
Golijov: Ja, das stimmt. Aber in Deutschland gehen sie, Angela Merkel ist doch ein Opernfan, oder?

Zumindest einmal im Jahr, wenn die Bayreuther Festspiele eröffnet werden. Denken Sie, dass ein bisschen mehr Klassik den Politikern gut tun würde?
Golijov: Tja, das ist eine große philosophische Frage: Macht uns die Klassik zu besseren Menschen? Ich weiß es nicht. Ich habe diese Woche einige der späten Beethoven-Sonaten gespielt. Und ich fühle richtig, wie mich diese Sonaten erheben. Aber dann lese ich wiederum ein Buch der Psychologin Kay Jamison, die über Theodore Roosevelt schreibt, dass er überhaupt keine Musik gehört hat. Er hatte dafür diese unglaubliche Liebe zur Natur, er hat die großen Parks wie den Yellowstone National Park begründet usw. Das Gefühl, dass ich von Beethoven bekomme, hat er von der Natur bekommen. Klassische Musik ist nicht die einzige Möglichkeit, deine Seele aufzubauen und dich zu einem empfindsamen Menschen zu machen. Ich habe zum Beispiel einen Bruder, der sehr gerne segeln geht.

Eine Schlussfrage: Wenn die Welt ein Orchester ist – welches Instrument sind Sie?
Golijov: Das ist jetzt vielleicht etwas konventionell, aber ich wäre wahrscheinlich ein Cello. Ich liebe dieses Instrument, es hat alles, was ich sagen will. Es ähnelt der menschlichen Stimme, und durch die Führung des Bogens gibt es die Möglichkeit der Umgangssprache. Das hat für mich ein physisches und ein geistiges Element

Osvaldo Golijov gehört zu den interessantesten zeitgenössischen Komponisten. 1960 in La Plata (Argentinien) geboren, studierte er u.a. in Jerusalem und den USA, wo er heute lebt. Sein Werkspektrum reicht von Kammermusikwerken, Liederzyklen über mehr

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