Herr Schreiner, war die Entscheidung der SPD für Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidaten eine inhaltliche oder eine nach Umfragewerten?
Schreiner: Umfragewerte haben ohne Zweifel eine starke Rolle gespielt. Die Umstände der Entscheidung waren teilweise eher unangenehm, immerhin ist über diese Entscheidung der Vorsitzende Kurt Beck zurückgetreten.
…der schlechtere Umfragergebnisse hatte als der Außenminister.
Schreiner: Außenminister haben traditionell sehr gute und hohe Umfragewerte, das hatten wir bei allen Vorgängern auch erlebt, unabhängig davon welcher Partei sie angehören.
Die Entscheidung für Frank-Walter Steinmeier war also keine nach Inhalten?
Schreiner: Inwieweit inhaltliche Fragen eine Rolle spielen wird man eher in der Zukunft sehen. Es wird in absehbarer Zeit darum gehen, ein Wahlprogramm für die Bundestagswahl zu formulieren und entlang dieses Programms entscheiden sich die Inhalte.
Sehen Sie dem zuversichtlich entgegen?
Schreiner: Ich bin optimistisch, weil auch die Parteiführung Rückschlüsse ziehen muss, aus den seit langem anhaltenden, schlechten Umfragedaten und Wahlergebnissen. Das jüngste Beispiel ist Bayern, wo die SPD nicht vom Rückgang der CSU profitieren konnte sondern ihre eigenen, eh schon schlechten Werte weiter verschlechtert hat. Da wird man nachfragen müssen, wo die Gründe liegen und Fehlentwicklungen, die zu diesen unbefriedigenden Wahlergebnissen geführt haben, korrigieren müssen.
Ist die Rückkehr von Franz Müntefering für den anstehenden Bundestagswahlkampf ein geschickter Schachzug der SPD?
Schreiner: Das hängt wesentlich davon ab, mit welchen Inhalten man in den Wahlkampf geht. Ich gehe davon aus, dass Müntefering sich als neuer Parteichef vor allem um die Mobilisierung der eigenen Partei kümmern wird und dass hier eine Arbeitsteilung stattfinden wird mit dem Kanzlerkandidaten. Und ohne Zweifel hat nicht nur der Kanzlerkandidat sondern auch der Parteichef wesentlichen Einfluss auf das noch zu formulierende Wahlprogramm.
Die soziale Ungerechtigkeit wird zentrales Thema im Wahlkampf sein – taugt Müntefering als Verfechter der Agenda 2010 da noch als Führungsfigur?
Schreiner: Das wird man sehen. Die zentrale Frage wird sein: Wie schaffen wir es, entlang geänderter Bedingungen – Stichworte Globalisierung, Demografie, Individualisierung – den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten?
Wir beobachten seit Jahren eine anhaltende Spaltung der Gesellschaft. Das ist das Gegenteil dessen, was erwünscht ist und es ist demokratiegefährdend.
Sie haben gerade das Buch „Die Gerechtigkeitslücke“ veröffentlicht. Warum schreibt man heute ein politisches Buch?
Schreiner: Weil einen das Thema umtreibt. Ich weiß nicht, ob ich das Buch noch mal schreiben würde, weil es eine extreme Anspannung ist, parallel zum Job noch ein Buch zu schreiben. Diese Anspannung hielt bei mir runde zwei Jahre an und da bleibt über längere Strecken an freier Zeit null. An Urlaub ist gar nicht zu denken.
Gleichwohl glaube ich, hat es Sinn gemacht, das Buch zu schreiben. Denn wenn man etwas zu Papier bringt, muss man sich wesentlich intensiver mit einem Thema befassen, als wenn man sich auf eine Rede vorbereitet, wo man nur ein paar Stichworte braucht.
Welchen Einfluss versprechen Sie sich?
Schreiner: Ich nehme an, dass es die innerparteiliche Diskussion beeinflussen wird, insoweit hätte es seine Funktion erfüllt.
Und Einfluss außerhalb der Partei?
Schreiner: Sicherlich wird das Buch auch Leser finden, in Bereichen außerhalb der SPD, das gilt vor allem für die Gewerkschaften, ich mache eine ganze Reihe von Veranstaltungen auf gewerkschaftlicher Basis. Es wird auch Leser finden etwa im kirchlichen Bereich, im Bereich der Wohlfahrtsverbände.
Wäre ein Blog heute nicht zeitgemäßer als ein Buch?
Schreiner: Nein, ich glaube, dass das Medium Buch nach wie vor sehr stark zur Hand genommen wird. Alle Daten, die ich kenne, belegen das.
Arbeiten Sie viel mit den so genannten „neuen Medien“?
Schreiner: Nein, eher nicht. Ich bin auch kein Fernsehzuschauer, sondern Information erfolgt für mich über die Lektüre von Zeitschriften, Zeitungen und Büchern.
Sie beschreiben in Ihrem Buch den Wandel des Arbeitsmarkts, hin zu immer mehr flexibleren und prekären Arbeitsformen. Kümmern sich die Gewerkschaften heute zu wenig um diese neuen Berufsformen?
Schreiner: Die Gewerkschaften kümmern sich schon um diese neuen Berufstätigen, es ist allerdings schwierig. Man sieht das am Beispiel der Leiharbeitnehmer. Die hatten nur ein Ziel – möglichst schnell in reguläre Beschäftigung zu kommen. Während die Stammbelegschaften ganz überwiegend bei den Gewerkschaften organisiert sind, weiß ein Leiharbeitnehmer nicht, ob er in drei Monaten noch seinen Job hat. Der wird sehr zögern, wenn es darum geht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Das heißt, diese neuen Formen der Arbeitswelt sind eher hinderlich für ein gewerkschaftliches Engagement. Und deshalb tun sich die Gewerkschaften auch schwer damit.
Was für neue Formen der Absicherung muss es geben? Was sind Ihre Vorschläge?
Schreiner: Diese neuen Arbeitsformen müssen zurückgedrängt werden, denn sie werden – zumindest teilweise – missbraucht, zum Zweck von Lohndumping. Das lässt sich beim Beispiel Leiharbeit belegen. Die ist vor etlicher Zeit eingeführt worden als ein Flexibilisierungsinstrument, um Betrieben eine flexible Handhabe ihres Personals zu gewährleisten, bei so genannten Produktionsspitzen. Wir wissen aber inzwischen, dass zahlreiche Betriebe bis zu 40 Prozent ihrer Belegschaften aus Leiharbeitnehmern zusammensetzen. Da kann von einer flexiblen Bedienung der Produktionsspitzen nicht mehr die Rede sein. Das ist eindeutig ein Lohndumpinginstrument, zumal die Leiharbeitnehmer im Durchschnitt etwa 40 Prozent weniger verdienen als Stammbelegschaften bei vergleichbarer Tätigkeit.
Wir wissen, dass in Deutschland inzwischen über 30 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse im so genannten ungeschützten Bereich stattfinden. Ziel der Politik muss es sein, diese Beschäftigungsverhältnisse zurückzudrängen.
Sie schreiben „ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis ist der Kern von guter Arbeit“. Ist das nicht eine Utopie und mit dem wirtschaftlichen Alltag im 21. Jahrhundert nicht vereinbar?
Schreiner: Wenn das nicht mehr vereinbar ist, muss man die wirtschaftlichen Verhältnisse ändern. Die Menschen haben einen Anspruch auf ein stabiles Arbeitsverhältnis: Wenn heute junge Leute eine Familie gründen, Kinder in die Welt setzen wollen, dann geht das nicht auf der Basis eines auf zwei Jahre befristeten Arbeitsverhältnisses; wenn die Eltern nicht mehr wissen, ob sie das Kind in zwei Jahren noch angemessen kleiden und ernähren können.
Aber wie ändert man das?
Schreiner: Mann muss die Gesetze ändern, ganz einfach. In anderen Ländern funktioniert das auch: Wenn Sie in Dänemark einen Beschäftigten fragen, ob er von seinem Einkommen leben kann, dann wird er Sie sehr verdutzt angucken. In Deutschland kann ich Ihnen allein in Berlin Zehntausende zeigen, die weniger als fünf Euro die Stunde verdienen. Damit lässt sich kein vernünftiges Leben führen. Es sind die gesetzlichen, die politischen Verhältnisse, die geschaffen worden sind – und die auch wieder geändert werden können. Das gilt sowohl für den Niedriglohnsektor als auch für prekäre Beschäftigungsverhältnisse.
Hat die Politik die Macht, den Spielraum, das zu ändern?
Schreiner: Alles andere wäre das Abdanken der Politik. Natürlich hat die Politik den Spielraum. Alle Verhältnisse sind politisch geschaffen.
Gut, Sie formulieren in Ihrem Buch Ziele, wie geht es dann weiter?
Schreiner: Ich kann hier im Bundestag ein Gesetz mehrheitsfähig machen, wo im Kern drin steht: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Damit hätten sie den massenhaften Missbrauch der Leiharbeitsverhältnisse auf einen Schlag beendet.
In Frankreich ist es zum Beispiel so, dass die Leiharbeitnehmer zehn Prozent mehr verdienen als Stammbelegschaften, um das Risiko der Leiharbeit materiell auszugleichen.
Aber jetzt gibt es in Berlin auch Wirtschaftslobbyisten.
Schreiner: Gut, das ist die Frage, welchen Raum Sie Wirtschaftslobbyisten lassen. Und welchen Raum Sie ihnen nicht lassen.
Wird Wirtschaftslobbyisten hier zu viel Raum gelassen?
Schreiner: Offenkundig. Sonst hätten wir die Verhältnisse nicht so, wie sie sind.
Wer ist dafür verantwortlich?
Schreiner: Diejenigen, die sich davon beeinflussen lassen.
Und das sind?
Schreiner: Offenkundig diejenigen, die immer noch mehrheitlich die Gesetze machen.
Die soziale Herkunft ist in keinem anderen europäischen Land eine so massive Bildungsbarriere, wie in Deutschland.
Parlamentarier.
Schreiner: Ja. Die Parlamentarier machen die Gesetze.
Parlamentarier sind also zu sehr beeinflusst von Wirtschaftslobbyisten.
Schreiner: Es müssen nicht Wirtschaftslobbyisten sein. Bei Leiharbeit ist anfangs davon ausgegangen worden, das würde einen so genannten ‚Klebeeffekt’ erzeugen. Das heißt, wenn jemand erst mal über Leiharbeit wieder einen Job gefunden hat, wäre das eine Brücke, hin zu einer späteren, regulären Beschäftigung. Diese Brückenfunktion hat aber nie stattgefunden, insoweit müsste man sich auch von dieser Idee verabschieden, weil die Grundlage erkennbar falsch war.
Wo erleben Sie die Misere des Arbeitsmarkts eigentlich persönlich?
Schreiner: Zum Beispiel im Wahlkreis, ich hatte vor wenigen Tagen Sprechstunde, da kam eine Mutter mit zwei Kindern, beide knapp über 20, Junge und Mädchen. Der Junge arbeitet in einer kleinen Firma, die machen Fensterreparaturen und Ähnliches, bei Vollzeit mit einem Monatseinkommen 800 Euro. Die Tochter bemüht sich nach ihrer Lehre als Buchhändlerin, einen Vollzeit-Job zu finden, ist aber seit Jahren auf 400Euro-Basis beschäftigt. Beide können davon nicht leben.
Fehlt den Politikern der Umgang mit den Opfern von sozialer Ungerechtigkeit?
Schreiner: Also, wenn man wie ich regelmäßig Sprechstunden macht, dann hat man es sehr rasch mit Leuten zu tun, die in entsprechenden Arbeitsverhältnissen tätig sind. Dann hat man auch einen sehr dichten Draht zur sozialen Realität.
Hat die Führungsspitze der SPD diesen Draht?
Schreiner: Ich hoffe es.
Sie wissen es nicht.
Schreiner: Puh.. Man weiß nie alles.
Die haben zumindest keine Sprechstunden, oder?
Schreiner: Kurt Beck hat immer Sprechstunden gemacht, habe ich gelesen.
Ihr Buch heißt „Die Gerechtigkeitslücke“ – was genau meinen Sie mit dem Wort?
Schreiner: Das wachsende Auseinanderfallen unserer Gesellschaft. Der Reichtum nimmt zu, die Armut auch, die Mittelschichten zerbröseln und haben zu erheblichen Teilen Angst vor dem sozialen Abstieg.
Welche Rolle spielt dabei die Bildungspolitik?
Schreiner: Die spielt eine zentrale Rolle, wenn auch nicht die Einzige. Wir wissen aus vielen Studien, dass in Deutschland die Herkunft eines Kindes viel maßgeblicher über seine späteren Bildungschancen entscheidet als seine Talente. Die soziale Herkunft ist in keinem anderen europäischen Land eine so massive Bildungsbarriere, wie in Deutschland. 83 Prozent der Akademikerkinder machen Abitur, 21% Prozent der Nicht-Akademikerkinder. Ähnlich krasse Daten werden Sie in keinem anderen europäischen Land finden.
Welche Maßnahmen wären wichtig?
Schreiner: Wichtig wäre ein systematischer Ausbau vorschulischer Betreuungseinrichtungen, genauso der Ausbau der Halbtagsschulen zur Ganztagsschule als Regelschule. Wir sind neben Österreich das einzige Land in Europa, wo die Halbtagsschule noch eine Regelschule ist. Das basiert auf der Annahme, dass die Mutter nicht erwerbstätig ist, sondern sich zuhause um die Kinder kümmern kann und negiert eine gesellschaftliche Entwicklung, die seit Jahrzehnten anhält. Frauen versuchen immer stärker, eine eigene Erwerbstätigkeit aufzubauen und da fehlen vernünftige Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. All das ist seit langem bekannt, geschehen ist fast nichts.
Lässt sich das denn finanzieren?
Schreiner: Andere Länder machen das doch auch. Wir haben in Deutschland bei den Bildungsausgaben einen Anteil von etwa vier Prozent am Brutto-Inlandsprodukt. In allen skandinavischen Ländern liegt dieser Anteil über sieben Prozent. Warum sollen wir das nicht auch können?
Fehlt hierzulande ein Bewusstsein dafür, dass Bildung so wichtig ist?
Schreiner: Es wird seit Jahren darüber geredet, dass Bildung besonders wichtig ist – nur geschehen ist wenig. Bildung ist offenbar ein Privileg für Sonntagsredner. Man wird sehen, ob sich jetzt im Spätherbst etwas ändert, durch den Bildungsgipfel, zu dem die Bundeskanzlerin eingeladen hat. Die redet neuerdings von der „Bildungsrepublik Deutschland“, was allerdings im schärfsten Kontrast zur Föderalismusreform steht, durch die der Bund seine Restzuständigkeiten in Sachen Bildung verloren hat. Ich bin sehr gespannt, wie man die Bildungsfrage vor dem Hintergrund des in Deutschland betriebenen Länderföderalismus lösen will.
Sie haben in Ihrem Buch auch das Thema Globalisierung angesprochen. Ist die Globalisierung Ihrer Ansicht nach ein Lohnvernichter?
Schreiner: Nein, sie muss überhaupt kein Lohnvernichter sein. Wenn Sie sich die Entwicklung der Löhne im europäischen Vergleich anschauen, werden Sie auf krasse Unterschiede treffen. Laut Eurostat sind in den letzten Jahren die Reallöhne in Schweden um 25% gestiegen, in Großbritannien um 24% – in Deutschland sind sie um 0,9% gesunken. Während wir in den letzten Jahren eine gute Konjunkturentwicklung hatten, sind parallel dazu die Reallöhne gefallen. Das ist ein deutscher Sonderweg, den Sie sonst nirgendwo in Europa antreffen.
Es kommt immer wieder vor, dass in Deutschland ansässige Firmen ihre Produktion auslagern, z.B. nach Asien oder Osteuropa, wo die Lohnkosten geringer sind. Entwickelt sich da eine Art Strudel?
Schreiner: Es gibt einzelne Firmen, die aus Kostengründen Betriebe aus Deutschland ausgelagert haben. Aber das sind nur wenige. Ein Teil dieser Firmen ist sogar wieder zurück gekommen, weil die Qualität der Fachkräfte, die man im Ausland vorgefunden hat, überhaupt nicht mit der Qualität der deutschen Fachkräfte vergleichbar war. Oder es haben andere Standortfaktoren nicht gestimmt.
Eine Tendenz zur Arbeitsverlagerung aus Deutschland weg sehen Sie nicht?
Schreiner: Nein. Dafür werden Sie vielleicht ein Beispiel finden, wie Nokia in Bochum, Sie werden vielleicht auch noch ein zweites aus den letzten drei Jahren finden, aber nicht mehr. Ich könnte Ihnen umgekehrt jede Menge Betriebe nennen, die hier in Deutschland ihre Potenziale erweitert haben.
Deutschland profitiert von der Globalisierung mehr als das es verliert?
Schreiner: Das Neue an der Globalisierung, ist die starke Vernetzung und die deutliche Verbilligung der Transportkosten. Das schafft Vorteile im Bereich des ökonomischen Austausches. Wir sind eindeutig Gewinner der Globalisierung, sonst würden die Hinweise auf den sogenannten „Exportweltmeister“ keinen Sinn machen.
Die Verlierer der Globalisierung sind die Geringqualifizierten, die keinen angemessenen Job mehr finden – womit wir wieder beim Thema Bildung wären. Bildung ist eine Schlüsselfrage, um aus den Verlierern potentielle Gewinner zu machen.
Um gegen die von Ihnen beschriebene Gerechtigkeitslücke anzukämpfen, wird auch ehrenamtliches Engagement unverzichtbar. Sind Sie persönlich sozial engagiert?
Schreiner: Ich bin privat eher nicht sozial engagiert, weil ich ganz wenig private Zeit zur Verfügung habe. Aber ich unterstütze beispielsweise die Arche in Berlin-Hellersdorf, ein Projekt, das gegen Kinderarmut kämpft, ebenso unterstütze ich bestimmte Obdachlosenprojekte.
Sie haben erwähnt, dass Sie nur wenig Zeit haben. Ist das generell ein Problem der Politiker?
Schreiner: Ich würde es schon ganz gut finden, wenn etwas mehr freie Zeit da wäre. Das hängt mit der Doppelbelastung zusammen, die ist unvermeidbar. Die Frage ist, wie man sie besser eingrenzen kann. Ich glaube es wäre gut, wenn etwas mehr Freiräume geschaffen werden würden. Dann hätten die Leute mehr Zeit, über bestimmte Probleme nachzudenken. Wie man das aber technisch macht, kann ich Ihnen auch nicht sagen.
Sie vermuten, dass die Politik dadurch insgesamt besser würde?
Schreiner: Na sicher. Wenn Leute mehr Zeit zum Nachdenken haben, wird es besser. Davon bin ich überzeugt. Ich glaube, dass der Erwartungsdruck auf die Politik zu stark ist, auch der Termindruck. Es werden viele Termine abverlangt, die möglicherweise in der einen oder anderen Form nicht so zwingend sind. Hier wäre es sinnvoller, den Leuten etwas mehr Freiräume zu geben.
Was für Dinge würden Sie denn in dieser freien Zeit machen?
Schreiner: Ich würde zum Beispiel mehr Sport machen, gerne auch mehr normale Literatur lesen. Romane zum Beispiel.
Sie stehen heute sehr weit links in der SPD, wäre da die Linkspartei keine Option für Sie?
Schreiner: Aus welchen meiner bisherigen Aussagen bisher schließen Sie, dass ich sehr weit links stehe? Weil ich mich für mehr Bildung einsetze? Weil ich mich für gerechtere Einkommen einsetze? Alles was ich Ihnen bisher gesagt habe, könnte Ihnen genauso ein sozial mitdenkender, katholischer Pfarrer sagen.
Ich möchte hiermit nur deutlich machen, wie sehr dieser „Links“-Begriff missbraucht wird. Vor zwanzig Jahren wäre überhaupt keiner auf die Idee gekommen, dass jemand links ist, nur weil er sich für mehr sozialen Ausgleich einsetzt. Heute wird man da schon fast zur linksextremen Speerspitze gemacht. Das zeigt, wie stark sich das gesamte politische Koordinatensystem verschoben hat.
In Richtung Neoliberalismus?
Schreiner: Ja sicher. Es hat sich in Richtung neoliberaler Einstellungen verschoben. Aber die Jungs sind auf dem Rückzug. Spätestens nach dem Desaster in den USA. Die Menschen machen das nicht mehr mit, dass einige sich die Taschen vollstopfen und die anderen es bezahlen dürfen – um es mal auf eine ganz platte Formel zu bringen.
Die Neoliberalen werden doch aber nicht freiwillig das Zepter aus der Hand geben.
Schreiner: Mal sehen was noch übrig bleibt, nach dem Debakel in den USA.
Meinen Sie, es gibt noch Veränderungspotential in der Gesellschaft?
Schreiner: Es ist doch völlig klar, das die Veränderungspotentiale da sind. 80 % der Leute sagen, sie sind für Mindestlöhne. 60 % der FDP-Wähler sagen, sie sind gegen die weitere Privatisierung von öffentlicher Daseinsvorsorge. Sie können sogar von einer tiefen Sozialdemokratisierung des Mehrheitsbewusstseins in der Bevölkerung reden. 15 % sagen, es geht in diesem Land noch gerecht zu. Einen so dramatisch schlechten Wert hatten wir in der Geschichte der Republik bislang noch nie.
Noch mal zu der Frage, warum Sie nicht zur Linkspartei wechseln. Sind Sie noch zu sehr, auf romantische Art und Weise, der SPD verbunden?
Schreiner: Also, so eine hübsche Braut ist das jetzt auch wiederum nicht. Ich bin jetzt seit fast vierzig Jahren in der SPD und habe in dieser – teilweise sehr turbulenten – Zeit immer massive Unterstützung im eigenen Wahlkreis gehabt. Das führt dann auch zu der Überlegung, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Man läuft nicht einfach weg, wenn die Luft bleihaltig ist.
Und die zweite Überlegung ist: Wenn Sie in Deutschland Reformpolitik machen wollen, dann wird das nicht ohne oder gar gegen die SPD gehen. Ich wüsste jedenfalls nicht, wo die Mehrheiten herkommen sollen.
Deshalb muss man die Auseinandersetzungen in dieser Partei führen, um wieder zu anderen Mehrheitsauffassungen zu kommen. Dass das nicht ganz erfolglos ist, sehen Sie am Beispiel der Mindestlöhne. Vor zweieinhalb Jahren stand ich mit meiner Forderung nach Mindestlöhnen allein auf weiter Flur, inzwischen ist daraus absolutes Allgemeingut geworden. Keiner würde sich heute mehr in der SPD trauen, gegen Mindestlöhne zu operieren. Es gibt also Beispiele dafür, dass sich der Einsatz lohnt.
Franz Müntefering ist 68 Jahre alt. Sollte das von ihm durchgesetzte Renteneintrittsalter von zukünftig 67 Jahren auch für Politiker gelten?
Schreiner: Es gilt ja für eine Reihe von Berufen nicht. Es gibt in Deutschland 95-jährige Ärzte, die frei praktizieren. Ob ich mich bei denen behandeln lasse, ist eine andere Frage. Das Renteneintrittsalter mit dem Rasenmäher festlegen zu wollen, halte ich für eine der größten Dummheiten überhaupt. 97 % der deutschen Professoren erreichen das 65. Lebensjahr im Beruf. Jedoch nur 48 % der Maurer und weniger als 48 % der Dachdecker. Wir haben es mit einer extrem differenzierten Arbeitslandschaft zu tun. Es gibt Berufe mit einer starken körperlichen Belastung: bei jahrzehntelanger Schichtarbeit ist die Annahme hoffnungslos, diese Menschen würden das momentane Renteneintrittsalter erreichen. Und wenn bei denen das Renteneintrittsalter erhöht wird, wird das als eine weitere Rentenkürzung empfunden.
Wir brauchen eine differenzierte, flexible Renteneintrittspolitik ohne diese rigiden Grenzen. Wenn jemand das will und gesundheitlich dazu in der Lage ist, soll er über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten. Ob er jetzt Politiker ist oder einen anderen Beruf hat.
Mit einem festgelegten Austrittsalter aus der Politik könnte vielleicht der jüngeren Generation mehr Spielraum gegeben werden.
Schreiner: Ich glaube, dass im deutschen Parlament noch nie so viele junge Abgeordnete waren wie heute, manche sind schon mit 19 ins Parlament gekommen. Ob das besonders sinnvoll ist, ist eine andere Frage. Wir haben jedenfalls relativ wenige, die über 65 sind. In Deutschland gibt es über 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner, da sehe ich eher das umgekehrte Problem, dass ein relevanter Teil der Bevölkerung nicht mehr im Parlament vertreten ist. Mit dem Ergebnis, dass sie dann die nächste Parteientwicklung provozieren, nämlich die deutsche Rentnerpartei. Das ist nicht unbedingt zielführend.
Das Entstehen einer solchen Partei in Deutschland würden Sie nicht begrüßen?
Schreiner: Nein, überhaupt nicht. Da kann dann auch die Biertrinkerpartei gegründet werden oder sonst irgendwas. Wenn die Volksparteien eine angemessene Rentenpolitik machen, ist das nicht nötig. Man kann solche Entwicklungen aber auch provozieren, wie man am Beispiel der Linkspartei sieht. Die Linkspartei ist das legitime Kind von Hartz IV.
Wo wir gerade beim Alter sind, zum Schluss die Frage: Wie wichtig ist Altersweisheit in Ihrem Beruf?
Schreiner: Wenn Altersweisheit bedeutet, dass man in seine Entscheidungen den über Jahrzehnte gesammelten Erfahrungsschatz einfließen lässt, dann halte ich das für hilfreich. Wenn Altersweisheit aber darin bestünde, dass man viel vorsichtiger als früher an bestimmte Themen herangeht, dann halte ich sie für das Gegenteil von hilfreich.
Es gibt aber auch Leute wie zum Beispiel Heiner Geißler, die mit 78 jugendlicher wirken, als manche Jugendliche, die mit 20 schon dabei sind, sich ihre Rente auszurechnen.
Helga meint:
Schön, dass beim Video wenigstens zum Schluss das Licht angemacht wurde.