Herr Chéreau, in Ihrem Film "Son Frere" geht es um zwei Brüder, von denen der eine an einer Blutkrankheit leidet, die ihn immer schwächer werden lässt. Haben Sie selbst so etwas einmal erlebt?
Chéreau: Ja, sehr oft. Ich habe in den letzten 15 Jahren viele Menschen gesehen, die zum Beispiel an Aids gestorben sind. Aber ich wollte keinen Film über Aids drehen, auch weil ich diese Krankheit bereits in meinem Film "Die mich lieben nehmen den Zug" behandelt habe. Thomas leidet an einer Krankheit, die seine Blutplättchen verschwinden lässt. Diese Krankheit ist nicht unbedingt tödlich, man kann mit ihr leben, es kommt nur auf die erkrankte Person an.
War es in Ihrem Sinn, zu zeigen, wie zerbrechlich unser Leben ist?
Chéreau: Ja, das Leben ist sehr zerbrechlich. Und auch der Wille zum Leben kann sehr zerbrechlich sein, denn nicht jeder hat die Kraft, gegen eine Krankheit zu kämpfen. Man muss natürlich jede Krankheit bekämpfen, denn man kann Krankheiten besiegen. Was nun in diesem Film passiert — und natürlich in der Novelle, auf der er basiert — ist, dass dieser kräftige junge Mann etwas an seinem Organismus entdeckt, wovon er nie etwas wusste und wofür er nicht kräftig genug ist. Er entdeckt seine eigene Zerbrechlichkeit und damit auch seine Passivität. Und so etwas zu erfahren ist schlimm für einen Menschen. Die Frage, die ich mir immer gestellt habe, während wir diesen Film gemacht haben: Wie würde ich selbst auf so eine Krankheit reagieren? Wäre ich stark genug, um dagegen anzukämpfen? Ich habe jedenfalls bis heute keine Antwort gefunden. Ich werde die Antwort wahrscheinlich auch erst in dem Moment wissen, wo mich so eine Krankheit befällt.
Sie sprechen in Ihren Filmen viele Probleme des Menschen mit Hilfe des menschlichen Körper an, als Symbol für die menschliche Seele. Ihr Film "Intimacy" zeigt das ja ganz besonders.
Chéreau: Und ich würde hinzufügen, dass das Gesicht eines Menschen als Symbol für seine Seele dienen kann. Ich mag Gesichter, Körper, Blicke. Und als Regisseur habe ich die Aufgabe, menschliche Körper in den leeren Raum zu stellen, zusammen oder getrennt, und das Leben zwischen diesen Köpern zu organisieren. Man versucht als Regisseur, das reale Leben zu reproduzieren. Man filmt nicht das reale Leben, aber man versucht mit Filmen das reale Leben verständlicher, akzeptabler zu machen.
Sie sind in Europa vor allem auch als Theaterregisseur bekannt. Beeinflusst Ihre Filmarbeit Ihre Arbeit am Theater?
Chéreau: Ich muss zuerst sagen, dass ich immer weniger am Theater arbeite. Ich fühle mich inzwischen mehr zum Film hingezogen. Ich habe ja bisher noch nicht so viele Filme gemacht, da gibt es noch große Aufgaben für mich. Aber diesen Winter habe ich noch eine Theaterproduktion laufen, und da entdecke ich, wie mich das Filmemachen beeinflusst. Ich mache jetzt eine andere Art von Theater, die näher dran ist an den Schauspielern, die die Schauspieler nicht auf ein hohes Podest stellt. Aber meine Beziehung zum Theater ist wesentlich schwieriger geworden. Obwohl es auch einen Punkt gibt, in dem sich Film und Theater sehr ähneln: wir erzählen Geschichten so gut wir nur können und das tun wir mit Hilfe von Schauspielern. Nur von diesem gemeinsamen Ausgangspunkt gehen Film und Theater völlig unterschiedliche Wege. Die Kamera fängt einzelne Momente ein, wenn die im Kasten sind, muss der Schauspieler sie nie wieder vorführen. Im Theater muss der Schauspieler das immer wieder tun, Abend für Abend.
Vor zwei Jahren gewannen Sie mit "Intimacy" in Berlin den Goldenen Bären. Wie geht es Ihnen heute in Berlin?
Chéreau: Ich mag Berlin natürlich sehr. Natürlich auch, weil man mich mit drei Preisen beehrt hat. Aber ich habe sowieso eine besondere Beziehung zu Berlin. Zum Beispiel habe ich Brechts Berliner Ensemble immer sehr bewundert. Auch nachdem die Mauer gebaut wurde bin ich jedes Jahr nach Ost-Berlin gereist um ins Berliner Ensemble zu gehen, weil die Schauspieler ja nicht nach Paris reisen durften. Später habe ich auch viel Zeit an der Schaubühne in West-Berlin verbracht. Als dann die Mauer endlich weg war, kam ich zum Brandenburger Tor und ich war begeistert, auf einmal konnte man diese langen Straßen entlang gehen, ohne gestoppt zu werden.
Ich habe Berlin also schon oft in meinem Leben gekreuzt und vor zwei Jahren war es das erste mal, dass ich hier einen Film präsentierte. Und auch heute fühle ich mich hier sehr wohl. Denn wenn ich das mit Cannes vergleiche: in Cannes einen französischen Film zu präsentieren ist einfach schrecklich, denn man wird sofort verurteilt, abgestempelt eben als typisch französischer Film.
Zum Schluss, wie steht es denn im Moment um Ihr Napoleon-Projekt?
Chéreau: Also, ich gewöhne mir eigentlich gerade an, nicht mehr über Projekte zu reden, die nicht zustande kommen. Ja, es gibt da dieses Filmprojekt "Napoleon" mit Al Pacino in der Hauptrolle. Ich habe vor zwei Jahren dazu ein Drehbuch angeboten bekommen, dass mich aber nicht überzeugt hat. Das habe ich erst mal anderthalb Jahre überarbeitet und dem Produzenten vor kurzem geschickt. In den nächsten Wochen werde ich von ihm erfahren, wie im Moment die Chancen für die Realisierung dieses Projekts stehen.