Mr. Potts, wann kriegen Sie eine Gänsehaut?
Potts: Also, am meisten Gänsehaut bekomme ich bei bestimmten Szenen in „La Bohème“. Insbesondere wo Rodolfo davon singt, wie er sich schuldig fühlt, an der Krankheit Mimìs, dass er es nicht schafft, ihr ein warmes Zimmer zu bieten. Und dann die Szene am Ende, wo die kranke Mimì fragt, ob Rodolfo den teueren Muff für sie gekauft hat, wo sie ihn einen Verschwender nennt und er daraufhin in Tränen ausbricht – da gib es etwas im Orchester… Ich kann gar nicht genau sagen, was es ist, aber mir kommen an der Stelle immer die Tränen. Das passiert einfach so, ganz von selbst, ohne dass ich es irgendwie forciere.
Hängt die Gänsehaut auch von den Sängern ab?
Potts: Ich habe schon meine Lieblingssänger, eine Aufnahme, die ich sehr oft höre, ist die mit Carlo Bergonzi und Renata Tebaldi, eine wunderbare Aufnahme.
Manche Sänger verschaffen Ihnen also eine Gänsehaut, manche nicht?
Potts: Für mich ist es bei Puccini, besonders bei „La Bohème“, eigentlich generell so, dass mir ein Schauer den Rücken runterläuft. Auch weil das Orchester bei ihm so einen großen Anteil hat, das betrifft besonders die späteren Werke. Noch mehr ist das bei „Turandot“ der Fall, wo viele der schönsten Harmonien im Orchester stecken. Puccini war ein sehr kluger Komponist, der ganz speziell für die Bühne geschrieben hat, für jede Wendung in der Musik gibt es einen Grund in der Handlung.
Sie sind also vor allem durch die Geschichte emotional berührt, Mimì leidet, stirbt am Ende…
Potts: Ja, aber eigentlich muss man auch nicht viel über die Handlung wissen, Puccini hat schon in der Musik diese Geschichten erzählt, das ist seine besondere Kunst. Wenn man bedenkt, dass man nur zwölf Noten zur Verfügung hat, ist es doch unglaublich was er damit alles angestellt hat.
Das Tonsystem haben wir ja noch heute – gibt es für Sie auch Gegenwartsmusik, die Ihnen eine Gänsehaut bereitet?
Potts: Es gibt ein paar Songs von Maria Mena, einer der mich wirklich berührt hat war “Just hold me”. Aber ich denke, es gibt, es gibt überhaupt viele Pop-Songs, die dem ein oder anderen dieses Gefühl geben können. Verschiedene Leute haben unterschiedliche Geschmäcker, unterschiedliche Empfindungen. Musik ist nie komplett universell.
Klar, aber wir wissen auch, dass sehr viele Leute im gleichen Moment eine Gänsehaut bekamen, als Sie Ihren entscheidenden Auftritt bei der Castingshow „Britain’s Got Talent“ hatten. Was denken Sie, warum waren die Leute in dem Moment so sehr emotional berührt?
Potts: Ich weiß es nicht…. Ich konnte es auch nie herausfinden.
Für mich war dieser Moment ja die letzte Chance, es war für mich das letzte Mal, dass ich singen würde. Also habe ich da alles reingesteckt.
Warum das letzte Mal?
Potts: Ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt das letzte Mal in der Öffentlichkeit singe, dass ich es vermasselt habe. Ich habe meine Erwartungen an mich selbst nicht erfüllt, ich war sehr enttäuscht in dem Moment, als die Arie zu Ende war. Ich konnte mir ja nicht vorstellen, was danach passieren würde.
Dass daraus dann so eine Wendepunkt wurde, zeigt mir, dass das Leben eben keine Reise nach Plan ist. Es gibt kein GPS, du weißt vorher nicht, was du bekommst, was hinter der nächsten Ecke auf dich wartet.
Haben Sie sich in dem Moment des TV-Auftritts nicht aber auch ein bisschen wie ein Held gefühlt?
Potts: Nein, mir war eher zum Weglaufen zumute. Weil vor mir war ja dieses Ehepaar dran: er hat Vogelstimmen gepfiffen, und sie hat getanzt, mit so einem Seidentuch. Und die wurden laut ausgebuht. Ich habe mich gefragt: Worauf lasse ich mich hier gerade ein? Ich hatte keine Zuversicht, dass irgendetwas Positives dabei herauskommen würde. Für mich war das eine großes Risiko, dass ich eingegangen bin. Und ich bin eigentlich kein Draufgänger, wirklich nicht.
Keine vergleichbare Situation in Ihrem bisherigen Leben?
Potts: Es gab in der Schule ein Mädchen, das ich süß fand. Sie hat mir auch manchmal Zeichen gegeben, dass sie mich mag. Aber ich habe mich nie getraut, sie zu fragen, ob wir uns mal treffen. Weil ich in dem Moment riskieren würde, dass sie „Nein“ sagt. Und das wollte ich nicht hören. Ich fand es dann besser, in dem Glauben zu bleiben, sie könnte mir – im Zweifelsfall – ein „Ja“ geben.
Und so ähnlich war das bei mir mit dem Singen. Ich bin normal auf die Uni gegangen, habe Philosophie, Theologie und Film- und TV-Studien gemacht, ich hätte aber theoretisch auch auf’s Konservatorium kommen können. Ich hätte nur ein Stipendium gebraucht – und da hätte ich dann vorsingen müssen. Aber dafür hatte ich zu wenig Selbstvertrauen.
Außerdem war das Singen für mich noch etwas sehr Privates, eine persönliche Leidenschaft, ich sah keine Verbindung zwischen einer Karriere und dem was man gerne macht. Karriere war in meinen Augen ein Job, den man weniger aus Spaß ausübt, sondern mit dem man vor allem seine Rechnungen bezahlt. Singen aber war aber etwas, was ich geliebt habe.
Ich würde gerne noch mal auf das Eingangsthema zurückkommen. Was haben Sie gefühlt, als Sie das erste Mal eine Aufnahme von Andrea Bocelli gehört haben?
Potts: Ich habe damals seine CD „Viaggio Italiano“ gekauft, 1997/1998 muss das gewesen sein…
Und? Gänsehaut?
Potts: Ich finde, bei ihm ist viel Seele in der Stimme, etwas, womit sich die Leute verbinden können. Darum geht es am Ende ja auch bei Musik, um Kommunikation, eine Verbindung zu den Leuten aufzubauen. Und du kannst die beste Stimme der Welt besitzen – aber trotzdem keine Verbindung zum Publikum haben. Das ist eine sehr schwierige Kombination und ich glaube auch nicht, dass du das als Sänger vollständig kontrollieren kannst.
Du bist vielleicht mit bestimmten Fähigkeiten geboren, ich glaube auch, dass ich mit dieser Stimme auf die Welt gekommen bin. Du kannst auch eine Technik entwickeln, damit du die Stimme möglichst lange einsetzen kannst – aber wir können nicht alles kontrollieren.
Wie wichtig ist die Geschichte hinter der Stimme?
Potts: Ich denke, es gibt viele Dinge, die die Leute in deiner Person sehen und die sie in deiner Musik hören. Deine Lebensgeschichte ist da sicher auch ein Faktor, es ist auch ein Grund, warum Leute deine Musik kaufen. Aber: Die Stimme hörst du zuerst. Erst danach willst du mehr über die Person wissen, die dahinter steckt.
In Ihrem Fall wurde die Geschichte zur Person gleich mitgeliefert, durch die Casting-Show. Wie wichtig war das für Ihren Erfolg?
Potts: Das war ein Faktor, natürlich. Ich bin auch dankbar für die Show, weil sie das alles hier möglich gemacht hat. Ohne die Show wäre das alles nicht passiert. Ich hatte das Singen ja eigentlich schon aufgegeben. Als ich dort aufgetreten bin, war das für mich viel mehr ein Schlusspunkt als ein Anfang.
Und heute – haben Sie ein spezielles Rezept, um den Leuten eine Gänsehaut zu verpassen?
Potts: Ich denke nicht, dass das etwas ist, was man bewusst kreieren kann. Ich versuche natürlich, alles in jede Aufführung zu stecken. Auch auf dem neuen Album versuche ich jeden Song so zu interpretieren als wäre es eine Live-Show. Du musst dir das Publikum vorstellen, das vor dir sitzt, als wärst du im Konzertsaal und du musst versuchen, die Geschichte des Liedes rüberzubringen. Es ist nur schwieriger, weil du nicht das Adrenalin wie bei einem Konzert hast.
Welche Rolle spielt die Songauswahl?
Potts: Du musst natürlich das richtige Material haben, etwas, was dich persönlich interessiert. Ich habe an dem Material für „Passione“ seit März 2008 gearbeitet. Ich habe 60 bis 70 Titel für die Plattenfirma zusammengestellt, die sie sich angehört hat – und dann haben wir uns auf bestimmte Titel geeinigt. Das ist immer ein Kompromiss, es ist auf der einen Seite immer die Frage: Was verkauft sicht? Und andererseits: Was liegt dir persönlich am Herzen?
Wenn du eine Zukunft in der Industrie haben willst, müssen deine Platten auch gekauft werden. Und der Künstler selbst ist da nicht immer derjenige, der das am besten beurteilen kann, welche Sachen sich gut verkaufen. Er wird immer bestimmte Dinge haben, die er persönlich sehr gerne machen würde – aber ein Album muss sich auch verkaufen. Und die Leute, die das am besten beurteilen und entscheiden können, sind oft die von der Plattenfirma.
Es gibt kein GPS fürs Leben, du weißt vorher nicht, was du bekommst, was hinter der nächsten Ecke auf dich wartet.
Der Plattenmarkt ist das eine – die Opernwelt das andere. Wo sehen Sie Ihre Zukunft?
Potts: Ich bin immer noch relativ neu in der Musikwelt. Ich bin sehr froh damit, was ich momentan mache – da möchte ich jetzt nicht spekulieren, was in der Zukunft sein wird.
Aber was würden Sie gerne machen?
Potts: Einfach weiter singen. Als ich das Ziel hatte, eine Puccini-Oper zu singen, habe ich das ja auch schon gemacht, sozusagen auf Laien-Basis. Und irgendwann in der Zukunft würde ich auch gerne wieder eine Rolle übernehmen.
Trainieren Sie denn Ihre Stimme daraufhin? Sie sind jetzt 39, Sie könnten vielleicht in fünf Jahren soweit sein?
Potts: Ich nehme Unterricht, immer dann, wenn mein Tourplan es erlaubt. Meine Lehrerin hat als Mezzosopran u.a. in Glyndebourne und an der English National Opera gesungen.
Ich glaube, ich habe schon Fortschritte gemacht. 2008 waren es über 100 Konzerte und ich denke, durch die vielen Aufführungen, und die Arbeit an meiner Stimme bin ich vorangekommen. Sicher habe ich noch viel Arbeit vor mir. Aber ich will auch nicht irgendwann da hinkommen, wo es nicht mehr weitergeht, weil dann geht es nur noch bergab.
Ich fordere mich aber immer wieder heraus, um mich zu verbessern. Das ist jetzt auch anders als früher: Als ich Handys verkauft habe, war es mir nicht so wichtig, wenn ein Vertragsabschluß mal nicht geklappt hat. Aber wenn ich heute eine Note nicht treffe dann bin ich wütend mit mir selbst. Ich beiße mir auf die Zähne und fluche wenn ich von der Bühne gehe. Ich muss mich selbst herausfordern, um besser zu werden, ich muss versuchen, meine Grenzen auszureizen, so weit es geht.
Auch die Grenzen zwischen Klassik und Pop?
Potts: Also, Popmusik heißt ja „Pop“, weil sie populär ist. Und ich habe nichts dagegen, wenn Klassik populär wird. Es ist doch positiv, wenn die Leute mehr klassische Musik hören. Nicht jeder will eine ganze Oper durchsitzen, was ich auch gar nicht so schlimm finde. Aber klassische Musik muss am Leben gehalten und von mehr Menschen gehört werden.
Ich komme aus der Arbeiterschicht, ich habe klassische Musik zuerst dadurch kennen gelernt, dass ich „E.T.“ geguckt habe. Das war der Auslöser, der hat mich dazu gebracht, irgendwann Brahms, Tschaikowsky und Dvořák zu hören. Insofern glaube ich auch nicht, dass du an einer Musikhochschule ausgebildet sein musst, um gute Musik zu verstehen. Wenn du daran Spaß hast und es dich berührt, dann ist es relevant für dich.
Haben Sie inzwischen konkrete Opernpläne?
Potts: Nein, im Moment nicht.
Wurden Sie denn schon mal gefragt?
Potts: Nein, ich wurde noch nicht gefragt.
Was ist der anstrengendste Teil Ihrer heutigen Arbeit?
Potts: Das Reisen kann dich manchmal schon sehr fertig machen, besonders wenn es durch viele Zeitzonen geht. Einmal bin ich nach einem Konzert in L.A. nach Japan geflogen, um dort eine Werbung zu drehen. Und ich hatte meinen Jetlag dort noch nicht überwunden, bevor ich nach London zurückgekehrt bin. Das hat mich dann eine Woche gekostet, ich war jeden Abend schon um sieben Uhr im Tiefschlaf.
Aber abgesehen vom Reisen – die Publicity, die Öffentlichkeit, ist das anstrengend?
Potts: Ich liebe die Aufführung, das finde ich nie anstrengend. Es gab natürlich manchmal Tage, die um 5 Uhr morgens anfingen und nachts um 2 Uhr endeten. Das würde ich auch sicher wieder machen. Wenn du erfolgreich sein willst, musst du auch daran arbeiten.
Was ist denn anstrengender, Mobiltelefone oder Musik zu verkaufen?
Potts: Ich fand es anstrengender, Handys zu verkaufen. Weil… das war nicht ich. Mir hat der Job zwar auch Spaß gemacht und ich konnte das gut. Aber das war nichts Natürliches. Es ging nicht um mich, sondern nur darum, Ziele einzuhalten, Verkaufsziele zu erreichen. Als Manager musste ich dann schauen, dass mein Team es genauso machte, das war sehr anstrengend.
Mit dem Singen ist es so: Ich gehe hin und mache, was mir Spaß macht – und hoffe, dass es dem Publikum genauso Spaß macht.
Aber heute sind Sie viel mehr in der Öffentlichkeit – als Verkäufer von Mobiltelefonen wurden Sie sicher nicht so sehr kritisiert wie jetzt als Sänger.
Potts: Ich muss schon zugeben, dass ich mich sehr geärgert habe, über die erste Konzertkritik, die ich bekommen habe. Aber letzten Endes ist das die Meinung einer einzelnen Person. Und die für mich wichtigsten Kritiker sind diejenigen, die mein Album kaufen und meine Konzerte besuchen. Das sind die, die am Ende wirklich darüber entscheiden, wie lange ich das machen kann, was ich will. Wenn die damit aufhören, hast du keine Zukunft mehr.
Aber Sie lesen trotzdem noch, was Kritiker über Sie schreiben?
Potts: Ich habe jetzt lange nichts mehr gelesen. Aber die erste damals im Daily Telegraph, die war wirklich nicht besonders nett.
Ich habe nichts gegen konstruktive Kritik, weil ich so bestimmte Sachen lerne, die ich noch nicht richtig gemacht habe. Ohne die Kritik würdest du manche Fehler vielleicht auch gar nicht so wahrnehmen. Aber ich finde nicht, dass es irgendeinen Grund für diese Art von Abschätzigkeit gibt. Am Ende ist es Musik und jeder, dem es gefällt, sollte es sich anhören dürfen.
Was für Dinge müssen Sie denn noch lernen?
Potts: Ich muss konstant an meiner Technik weiterarbeiten. Versuchen, so viel Spannung wie möglich aus meinem Körper herauszuholen, während ich singe. Und du musst Spannung an den richtigen Stellen haben, manchmal bekomme ich zum Beispiel eine Anspannung im Genick, wegen einer falschen Haltung. Und ich arbeite immer weiter mit meiner Gesangslehrerin. Ich lerne die Musik besser und fordere mich weiter heraus, um besser zu werden.
Sie haben früher Handys verkauft, sind Sie heute so eine Art Nerd, der immer eins der neuesten Geräte haben muss?
Potts: Ja, was Telefone anbelangt bin ich schnell gelangweilt. Ein paar Monate und dann wird mir langweilig. Ich habe momentan fünf oder sechs verschiedene Handys zuhause rumliegen, zwei verschiedene in meinem Koffer, und mein Manager bringt mir nachher ein neues.
Warum?
Potts: Tja, ich rufe das Menü auf… und dann… Also, ich bin es als Handyverkäufer einfach zu sehr gewohnt, immer die neuesten Spielereien auszuprobieren, wenn sie auf den Markt kommen. Wir haben immer die neuesten Vorführgeräte bekommen, damit wir den Kunden zeigen können, was das Telefon alles kann…
Haben Sie auch schon mal eine eigene Melodie auf deinem Mobiltelefon komponiert?
Potts: Nein. Ich bin kein Komponist, beim besten Willen nicht.
Wie klingelt denn Ihr Telefon?
Potts: Im Moment sind es Vogelstimmen, wenn ich eine SMS bekomme und wenn ein Anruf kommt ist das so ein Old-School-Telefonsound.
Kein Beethoven?
Potts: Nein, einfach nur „dring, dring“… Auf einem anderen Handy hatte ich auch mal ein Nebelhorn. Ich bin damit irgendwann durch die Lobby im Bayerischen Hof in München gelaufen, mein Telefon klingelte und die Leute drehten sich alle um, die dachten, das wäre jetzt der Feueralarm.
Eine Schlussfrage: Gibt es eine Filmfigur, mit der Sie sich identifizieren?
Potts: Als Kind war ich ein bisschen wie Elliott in „E.T.“ oder der Junge in „The Sixth Sence“. Ich war in meiner eigenen Welt, ich habe viel gelesen – ich war ein Träumer als Kind.
Sind Sie das heute nicht mehr?
Potts: Doch, bis zu einem gewissen Grad schon. Aber sehr viele meiner Träume sind schon wahr geworden. Es wäre, glaube ich, nicht angemessen, noch mehr zu erwarten.