Herr Bofinger, würden Sie sich zutrauen einen großen Konzern zu leiten?
Peter Bofinger: Nein. Ich bin Volkswirt und volkswirtschaftliche Prozesse zu erkennen und zu bewerten ist das, was ich kann und was mir Spaß macht. Einen großen Konzern zu lenken und so zu strukturieren, dass er in allen Geschäftsfeldern erfolgreich ist, ist hingegen etwas, was ich nie gemacht habe. Vielleicht auch, weil ich es gar nicht so spannend finde. Wenn Sie Bergführer werden wollen müssen Sie ja auch seit der frühesten Jugend in den Bergen unterwegs gewesen sein und wissen wo die Gletscherspalten liegen, an welcher Felswand Sie gut hochkommen und an welcher Felswand nicht so gut. Das erfordert viel Erfahrung und Übung. Wer erst mit 60 Jahren anfängt, sich in völlig neues, abschüssiges Terrain zu begeben, ohne entsprechende Erfahrungen gemacht zu haben, der stürzt sehr wahrscheinlich ab.
Wenn Konzernlenker wie Bergführer sind, wie sind dann Volkswirte?
Bofinger: So in etwa wie Ärzte für Allgemeinmedizin. Ein guter Arzt kennt seine Patienten schon lange, weiß auch auf welche Zahlen – also zum Beispiel Blutdruck, Blutwerte – er achten muss und hat ein Gefühl dafür entwickelt, wann es dem Patienten besser oder schlechter geht. Der Vergleich hinkt allerdings etwas: Volkswirtschaften haben anders als Patienten ein nahezu ewiges Leben und zugleich verändern sie sich viel grundlegender. Als ich 1978 als Volkswirt zu arbeiten begann sah beispielsweise die deutsche Volkswirtschaft und auch die globale Volkswirtschaft völlig anders aus als heute.
Würden Sie sich als Chefvolkswirt in die freie Wirtschaft wagen – beispielsweise zu einer Bank?
Bofinger: Das würde ich mir durchaus zutrauen. Aber als Chefvolkswirt bei einer Bank wäre es natürlich einer meiner Hauptjobs, den reichen Kunden zu erklären, wie sie noch reicher werden können.
Damit hätten Sie ein Problem?
Ja. Hinzu kommt, dass Volkswirte in Banken oft Dinge tun müssen, die sie eigentlich nicht so gut können: beispielsweise Aussagen über die zukünftige Entwicklung von Wechselkursen oder Aktienkursen treffen. Damit sind sie oft überfordert. Was Volkswirte gut können ist: Institutionen diskutieren und analysieren. Volkswirte können also gut dabei helfen, die Energiewende für die Volkswirtschaft verträglich zu machen, aber schlecht vorhersagen, wo der Dollarkurs in einem Jahr steht. Deshalb sehe ich meinen Job auch eher darin, mir zu überlegen: Was kann ich tun, damit die deutsche Volkswirtschaft besser läuft?
Sie wollen wirklich nichts anderes machen, oder?
Bofinger: Nein. Der Job ist mein Leben!
Angenommen, Sie würden dennoch so eine Position antreten: Wie viel Gehalt würden Sie verlangen?
Ich würde natürlich das haben wollen, was alle anderen auch bekommen. Allerdings weiß ich gerade nicht, wie viel das ist. Mit den Gehältern von Chefvolkswirten bei Banken kenne ich mich nicht so aus.
Hintergrund dieser Frage ist der jüngste Volksentscheid in der Schweiz: Es geht um die Idee, dass der höchste Lohn in einem Betrieb nicht mehr als das Zwölffache des niedrigsten Lohnes im gleichen Betrieb betragen soll. Wie hätten Sie abgestimmt?
Bofinger: Ich wäre dagegen. Ich glaube, dass man das, was ein Arbeitgeber seinem Arbeitnehmer bezahlt nicht deckeln sollte. Wenn ein Arbeitgeber der Meinung ist, er hat einen Arbeitnehmer, der besonders toll ist und dem deshalb zehn Millionen pro Jahr bezahlen will, sehe ich da kein Problem. Das ist ja nicht mein Geld.
Wir haben in Deutschland eine sehr ausgeprägte Marktgläubigkeit.
Dabei sagten Sie gerade, Sie hätten Schwierigkeiten damit, als Chefvolkswirt einer Bank die Reichen noch reicher zu machen.
Bofinger: Also, das Einzige was ich mir vorstellen könnte, sind Grenzen für die Abzugsfähigkeit von hohen Geschäftsführergehältern von der Steuer. Denn über die steuerliche Abzugsfähigkeit von Gehältern zahlt die Allgemeinheit einen Teil der hohen Gehälter indirekt mit. Ich könnte also sagen: Die zehn Millionen, die ein Unternehmer als Aufwand für das Jahresgehalt seines tollen Mitarbeiters in seine Bilanz schreibt, kappe ich per Gesetz um die Hälfte. Er darf dort also nur fünf Millionen als Aufwand geltend machen. Wenn er dennoch zehn zahlen möchte, muss er die Differenz aus seinem Privatvermögen zahlen. Ansonsten schaden hohe Gehälter ja niemandem – warum sollte ich also jemandem verbieten, sie zu zahlen?
Weil zu hohe Gehälter ab einer bestimmten Grenze in keinem Verhältnis zur erbrachten Arbeitsleistung mehr stehen, sie damit volkswirtschaftlich unsinnig und obendrein sozial ungerecht sind.
Bofinger: Aber dann müsste ich eine Deckelung ja nicht nur für Topmanager einführen sondern auch für Künstler oder Profisportler. Wenn dann ein Künstler ein Gemälde in drei Tagen malt und es dann für zehn Millionen verkauft – einfach weil er so bekannt ist – warum soll ich ihn dann dazu zwingen, seiner Küchenhilfe, die ihn in den drei Tagen bekocht hat, ein Zwölftel der Summe an Lohn zu zahlen? Oder warum sollte ich einem Profifußballer in Zürich nur das Zwölffache des Platzwartes zahlen dürfen?
Vielleicht, weil die Gesellschaft sich nach einer Verhältnismäßigkeit sehnt, die in Zeiten des Turbokapitalismus nicht mehr gegeben ist.
Bofinger: Wenn sich so ein Anliegen durchsetzt, würde sich die Gesellschaft letztlich selbst schaden. Denn wer so etwas einführt nimmt in Kauf, dass die High-Potentials reihenweise wegziehen. Der Fußballer geht dann nach Frankreich, Italien oder Brasilien, der Künstler vielleicht nach London. Insgesamt würde das einen völligen Kahlschlag bei den klugen Köpfen, den Vorbildern und den Leistungsträgern bedeuten. Auch die Unternehmen würden abwandern: Den Firmensitz, in dem die hochdotierten Manager tätig sind, würden sie in nahe Länder wie Belgien oder Luxemburg verlegen. Die Forschungseinrichtungen, in denen die gutbezahlten Wissenschaftler tätig sind, zögen vielleicht nach Malaysia oder Singapur um. Was übrig bliebe, wäre ein graue und reglementierte Gesellschaft.
Würden wirklich alle abwandern?
Bofinger: Selbst wenn einige der Spitzenleute und Firmen blieben: Den Geringverdienern hilft es ja nichts, wenn die oberen Zehntausend auf einmal keine Mercedes S-Klasse mehr fahren oder nicht mehr so oft schick essen gehen können – außer, dass sie vielleicht ein bisschen weniger neidisch sind.
Warum sind die Gehälter der Topleute eigentlich so enorm hoch?
Bofinger: Das ist eine Frage der Knappheit. Die Leute, die die Qualifikation für eine solche Spitzenposition haben, sind eben relativ rar.
Für den Unternehmer könnte es dann aber doch durchaus positiv sein, wenn der Staat die Gehälter deckeln würde.
Bofinger:Im Prinzip ja. Wenn nur die Konsequenz daraus nicht so große Abwanderungsprozesse wären. Denn nur wenn alle Länder weltweit oder zumindest potentielle Ausweichländer ähnliche Gesetze erlassen würden, könnte man im Ansatz über einen Deckel bei Topgehältern nachdenken. Deshalb finde ich die ganze Diskussion falsch. Wir sollten nicht die Großverdiener beschneiden, sondern im Gegenteil den Geringverdienern mehr zahlen und ihnen außerdem bessere Aufstiegs- und Bildungschancen ermöglichen.
Sie sind seit zehn Jahren einer der fünf deutschen Wirtschaftsweisen. Im jüngsten Jahresbericht haben Sie sich in einem Minderheitsvotum gegen Ihre Kollegen im Rat gestellt…
Bofinger: Das tue ich eigentlich jedes Jahr, das ist auch kein Wunder: Denn die Mehrheit der Mitglieder dieser Einrichtung ist immer noch einem bestimmten Denkansatz verhaftet, den ich nicht teile. Daraus ergibt sich immer wieder ein Minderheitsvotum. Ich habe keine Freude an Minderheitsvoten, doch die Mehrheit unseres Rates hat ein sehr, sehr starkes Vertrauen in den Markt. Das wurde auch durch die Finanzkrise nicht erschüttert, was mich wundert. Gleichzeitig hegen meine Kollegen eine abgrundtiefe Skepsis gegenüber den Möglichkeiten des Staates, Wirtschaftsprozesse zu steuern.
Ich selbst sage nicht, dass der Markt durchweg schlecht ist. Aber ich denke, dass der Staat eine wichtige Rolle spielen sollte, wenn es darum geht, das Wirtschaftsleben zu gestalten. Er sollte nicht dem Markt die dominante Rolle überlassen. Michel Foucault hat das einmal so formuliert: Wir brauchen nicht einen Staat unter der Kontrolle des Marktes, sondern einen Markt unter der Kontrolle des Staates.
Im aktuellen Jahresbericht geht es auch um das Für und Wider eines flächendeckenden Mindestlohns. Allerdings wurde kritisiert, dass Sie mit der Veröffentlichung in die schwarz-roten Koalitionsverhandlungen hineinplatzen.
Bofinger: Im Gesetz über die Bildung des Sachverständigenrates steht, dass der Rat „zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit“ beitragen soll. Deshalb finde ich den jüngsten Bericht, trotz meiner grundsätzlich anderen Einschätzung des Mindestlohns, auch in der aktuellen politischen Situation richtig. Er gibt der Öffentlichkeit Hilfestellung bei der Meinungsfindung – und genau das ist der Auftrag der Wirtschaftsweisen.
Warum sind Sie bei den Wirtschaftsweisen eigentlich der einzige Befürworter des flächendeckenden Mindestlohns?
Bofinger: Von deutschen Ökonomen wird gerne so getan als sei der Mindestlohn ein unüberschaubares Abenteuer. Dabei ist er längst internationaler Standard. Sowohl in eher sozialdemokratischen Ländern wie Frankreich als auch in eher marktliberalen Ländern wie Großbritannien oder den USA. Österreich wiederum hat zwar keinen Mindestlohn, aber absolut allgemeinverbindliche Tariflöhne und auch eine sehr niedrige Arbeitslosigkeit.
Die Kritik am Mindestlohn kommt vor allem aus dem Arbeitgeberlager, ein Argument lautet: Die Einführung brächte eine höhere Arbeitslosigkeit mit sich.
Das ist Panikmache. Denn die Studien über die Effekte von Mindestlöhnen zeigen das einfach nicht. Zudem existieren auch in Deutschland bereits Mindestlöhne in bestimmten Branchen und in keiner dieser Branchen ist es nach der Einführung zu Beschäftigungsverlusten bekommen. Auch Großbritannien hat schon lange einen flächendeckenden Mindestlohn wie er nun in Deutschland zur Debatte steht und auch dort gab es keine höhere Arbeitslosigkeit in der Konsequenz. Dasselbe gilt für die Vereinigten Staaten.
Aber könnte es nicht tatsächlich sein, dass der geplante Mindestlohn Entlassungen nach sich zieht und die verbleibenden Arbeitnehmer die Arbeit der Entlassenen einfach mit erledigen, weil sie in der Lage sind, in derselben Zeit mehr Leistung zu bringen?
Bofinger: Es ist eher umgekehrt: Nämlich so, dass selbst eher leistungsschwache Leute, wenn sie besser bezahlt werden, plötzlich motivierter und deshalb produktiver sind. Sie werden dadurch von ihrem Arbeitgeber mehr geschätzt, weil sie einen Mehrwert bringen – und werden nicht so schnell entlassen. Genau das legen jedenfalls die Studien über die Einführung des Mindestlohnes in den USA nahe.
Warum dann eigentlich das ganze Theater um den Mindestlohn?
Bofinger: Das ist ein deutsches Phänomen. Hierzulande tun alle so, als ginge es beim Thema Mindestlohn um die Frage „Freiheit oder Sozialismus“. In den USA und in Großbritannien – die wie erwähnt beide eher marktliberale Länder sind – wurde der Mindestlohn dagegen wenig diskutiert. Etwas Ähnliches war beim Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) der Fall: In anderen Ländern wird daran gearbeitet, wie man das Ganze noch verbessern kann, bei uns wird das EEG als Planwirtschaft verteufelt und mit dem Quotenmodell ein völlig anderer Mechanismus gefordert, der das Ende der Energiewende einläuten könnte.
Mindestlohn und EEG haben eines gemeinsam: Sie greifen in die Märkte – den Arbeitsmarkt respektive den Energiemarkt – ein. Und dagegen wehrt sich die Wirtschaft.
Bofigner: Ja. Aber eben in Deutschland im Besonderen. Weil wir in Deutschland tatsächlich eine sehr ausgeprägte Marktgläubigkeit haben. Die im Übrigen nicht vom Himmel gefallen ist, sondern gezielt verbreitet wird: Etwa von der Initiative Soziale Marktwirtschaft, welche von der Industrie stark gefördert wird. Oder vom Kronberger Kreis, einen marktliberalen Thinktank, der ebenfalls von der Industrie massiv unterstützt wird. Und nicht zuletzt von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech), die ebenfalls von der Industrie gefördert wird und starke marktliberale Tendenzen hat. Die Kapitaleigentümer sind sehr effizient darin, ihr Marktdenken über diese Institutionen in die Debatte zu bringen.
Doch es existieren auch Gegenpole wie das das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut beispielsweise, das zur Hans-Böckler-Stiftung gehört.
Bofinger:… ein Leuchtturm im Meer der anderslautenden Stimmen.
Zahlen dieses Instituts zeigen: In den meisten Branchen in Deutschland werden längst Stundenlöhne über 8,50 Euro gezahlt. Mehr Geld in der Tasche als zuvor hätten demnach vor allem Floristen in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern sowie ungelernte Arbeiter überall in Ostdeutschland. Ist die Forderung nach einem Mindestlohn da nicht eher Makulatur?
Bofinger: Nein. Auch in anderen Bereichen wie der Hotelbranche gibt es noch viele Arbeitnehmer, deren Löhne unter 8,50 Euro pro Stunde liegen. Insgesamt wären durch die Einführung des Mindestlohnes mehrere Millionen Arbeitnehmer betroffen.
Stark betroffen wären aber vor allem gering- oder gar nicht qualifizierte Arbeitnehmer…
Bofinger: Ja natürlich, das ist logisch!
Und die sind nicht so zahlreich. Wäre es da nicht besser, das Geld in deren Weiterbildung zu stecken?
Bofinger: Viele von denen sind jetzt schon 50 oder sogar 60 Jahre alt und haben nur noch vergleichsweise wenige Jahre zu arbeiten. Eine Lohnerhöhung hilft denen mehr – was zudem nicht ausschließt, dass man zusätzlich auch mehr Geld in die Bildung steckt. .
Ihre Fürsprache für den Mindestlohn leitet sich auch aus Ihrem volkswirtschaftlichen Verständnis ab. Sie betonen gerne die Nachfrageseite, vereinfacht gesagt heißt das: Durch höhere Löhne erhöhen sich Kaufkraft, damit die Nachfrage und schließlich die Umsätze der Unternehmen, was für Wirtschaftswachstum sorgt.
Bofinger: Das ist ein Grund. Ein weiterer ist, dass die Arbeitgeber die stärkere Marktmacht im Vergleich zu den Arbeitnehmern haben und deshalb zu niedrige Löhne durchsetzen können. Dieser Einfluss der Arbeitgeber ist nicht zuletzt durch die Hartz-IV-Gesetze massiv gestärkt worden. Denn wenn ein Empfänger von Arbeitslosengeld II zu mir kommt, muss der bei mir einen Job annehmen, selbst wenn der gezahlte Lohn nicht einmal reicht um ihm seinen Lebensunterhalt zu bezahlen. Wenn er die Arbeit nicht annimmt kann ich als Unternehmer eine E-Mail an die Agentur für Arbeit schreiben in der steht: Ich habe dem einen Job angeboten und der wollte nicht. Und dann bekommt der Hartz-IV-Empfänger Ärger. Das nutzen viele Arbeitgeber aus.
Der neue Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer argumentiert da anders und behauptet, „wer 8,50 Euro für alle verspricht, sollte ehrlich sagen, dass Beschäftigungssicherung auf dem heutigen Niveau oder gar Vollbeschäftigung damit nicht zu erreichen ist.“ Kramer ist der Ansicht, dass Langzeitarbeitslose in vielen Branchen und Regionen für staatlich verordnete 8,50 Euro nicht den einen Einstieg in den Arbeitsmarkt finden.
Bofinger: Richtig ist: Selbst bei völlig flexiblen Löhnen wird es immer eine ganze Reihe von Leuten geben, die keine Jobs bekommen: das sind die Langzeitarbeitslosen, die den Kern des Problems des Arbeitsmarktes ausmachen. Die kommen zwar auch durch den Mindestlohn nicht unbedingt leichter an einen Job. Aber für die verschlechtert sich auch nichts.
Die Debatte um den Mindestlohn hängt auch mit der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich zusammen. Wie stehen Sie zu einer gerechteren Verteilung des Vermögens in Deutschland?
Bofinger: Ich finde, ein Spitzensteuersatz von fünfzig Prozent ist durchaus vertretbar. Wenn jemand zwei Millionen verdient, warum soll er dann nicht die Hälfte an den Staat zahlen? Dagegen gibt es eigentlich kein Argument. Eine weitere Möglichkeit ist die Reform der Erbschaftssteuer. Denn für mich ist Folgendes eine viel größere Ungerechtigkeit als die enorm hohen Einkommen bei wenigen: Nämlich dass Erben so einen massiven Finanzvorteil gegenüber denen haben, die nicht erben. Deren Vorsprung ist durch Arbeit eigentlich uneinholbar.
Die geltenden gesetzlichen Ausnahmen von der Erbschaftssteuer wurden aber im Hinblick auf die Arbeitnehmer durchgesetzt. Von der Erbschaftssteuer zu großen Teilen befreit ist beispielsweise regelmäßig nur derjenige, der ein Unternehmen erbt und sich verpflichtet, es innerhalb der kommenden fünf Jahre nicht zu verkaufen und zudem seine Angestellten nicht schlechter bezahlt als zuvor.
Bofinger: Und ich könnte mir vorstellen, dass angesichts dessen der Erblasser sagt: „Mein Erbe wird die etwa 15 Prozent Erbschaftssteuer, die nach der genannten Regelung noch übrig bleiben gar nicht bezahlen können, weil das Unternehmen dafür nicht über genügend Liquidität verfügt. Warum sollte ich nicht stattdessen einer Bildungsstiftung – einer Personengesellschaft, der über zwanzig Jahre die Erbschaftssteuer gestundet ist – eine stille Beteiligung an dem Unternehmen vererben.“ Das hieße, ab sofort partizipiert diese Stiftung an dem, was das Unternehmen an Gewinn macht – und wenn das Unternehmen keinen Gewinn macht, bekommt die Stiftung nichts. Der Erbe kann dann später sagen: „Wenn ich nach Ablauf der zwanzig Jahre genügend Geld zusammen habe, kann ich die Beteiligung von der Stiftung zurückkaufen.“ Mit etwas Phantasie ist also auch das Hindernis, dass die umfassende Befreiung von der Erbschaftssteuer wenig flüssige Firmen in den Ruin treibt, leicht zu umgehen.
Zum Abschluss noch eine Prognose: Wo geht es hin mit Deutschland in Zeiten von Debatten über Mindestlohn, Energiewende und Finanzkrise?
Bofinger: Ich bin da eigentlich nicht so pessimistisch. Wir haben in Deutschland relativ gute Grundvoraussetzungen: gut qualifizierte Arbeitnehmer, gut strukturierte Unternehmen – viele davon auch in Familienbesitz – die nicht so stark vom Kapitalmarkt abhängig sind und dazu noch langjährige Erfahrung haben, vor allem im Bereich Maschinenbau und Technik. Wir werden außerdem zunehmend unabhängig von Energieimporten und verfügen über einen recht breiten sozialen Konsens.
Wir werden also, anders als es der Karikaturist Klaus Stuttmann uns jüngst in einem Interview sagte, nicht bald „in Deutschland griechische Zustände haben“?
Bofinger: Nein, das halte ich für sehr unwahrscheinlich.
Wie sicher sind Sie sich mit solcherlei Vorhersagen?
Bofinger: Typisch für Volkswirte ist ja die Prognose durch einen Blick in den Rückspiegel. Wir versuchen also, mit Hilfe von Daten aus der Vergangenheit Aussagen über die Zukunft zu treffen. Damit lässt sich aber hauptsächlich das Business-As-Usual verlässlich vorhersagen. Und auch solche Prognosen unterliegen natürlich immer einer Unsicherheit. Erschwerend kommt meine vielleicht wichtigste Erfahrung aus der Finanzkrise hinzu: Nämlich dass immer wieder Ereignisse auftreten, die ich noch ein Jahr vorher – zumindest in ihrer Intensität – überhaupt nicht auf dem Schirm hatte. Die Finanzkrise ist nicht nur als Ganzes unerwartet gewesen, sondern sie ist in sich auch völlig unberechenbar, das heißt in ihrem Verlauf treten immer wieder unerwartete Phänomene auf.
Wie gehen Sie damit um?
Bofinger: Ich versuche unabhängig von den Zahlen noch einige große globale Entwicklungslinien im Blick zu haben. Man könnte auch sagen: Ich schaue durch die Frontscheibe statt in den Rückspiegel. Und wenn die voller Schneematsch ist, schalte ich manchmal den Scheibenwischer an.