Herr Wohlleben, einmal angenommen, ich gehe im Wald spazieren und plötzlich steht ein Wildschwein vor mir. Was tue ich?
Peter Wohlleben: So etwas passiert gar nicht. Ich bin seit 30 Jahren im Wald unterwegs und mir stand noch nie plötzlich ein Wildschwein gegenüber. Diese Tiere haben Angst vor Menschen, weil sie bejagt werden. Deshalb haut ein Wildschwein ab, sobald es Sie bemerkt. Es kann natürlich einmal passieren, dass ein Wildschwein völlig verträumt ist und nicht auf seine Umgebung achtet. Auch das passiert Wildschweinen. In einem solchen Fall machen Sie sich bemerkbar. Dann läuft das Wildschwein weg.
Selbst dann, wenn es gerade Nachwuchs hat?
Wohlleben: Ja. In Bezug auf den Wald und seine Bewohner werden bei uns leider oft Gefahren aufgebauscht. Das ist schade, denn das hindert manche Menschen daran, einfach einmal querfeldein zu gehen. Dazu ermutige ich die Leute. Wir haben in Deutschland ein freies Betretungsrecht. In den USA gibt es das zum Beispiel nicht.
Das heißt, dass man dort strikt auf den Wegen bleiben muss?
Wohlleben: Genau. Dort dürfen Sie einen Privatwald gar nicht betreten. In Deutschland dagegen ist das alles freigegeben. Die Leute lassen sich aber von solchen Schauergeschichten ins Bockshorn jagen, wobei man auch sagen könnte: Mensch, ist doch toll, dass in so einem dichtbesiedelten Land solche Naturereignisse noch möglich sind. Grundsätzlich ist der Wald sehr sicher. Da kann Ihnen in der Kölner Innenstadt sehr viel mehr passieren als im Wald.
Wie geht es dem Wald in Deutschland denn eigentlich?
Wohlleben: Das kommt immer ganz darauf an, wen Sie fragen. Wenn Sie die deutsche Forstverwaltung fragen, die ja auch für die Bewirtschaftung verantwortlich ist, dann sagen die: Es ist alles ganz toll.
Und das ist es nicht?
Wohlleben: Nein. Mein Eindruck ist, dass die Qualität des Waldes sinkt. Wir haben vor allem gepflanzte Wälder in Form von Plantagen. Sie werden beerntet. Ein Baum kann dort gar nicht mehr alt werden, sondern wird durchschnittlich zwischen 70 und 100 Jahre alt. Auf der anderen Seite werden intensiv schwere Maschinen eingesetzt. Nach Aussagen von Geologen pressen sie den Boden wie ein Schwamm zusammen. Auf diese Weise speichert er kaum noch Wasser und es gelangt keine Luft mehr hinein. Das sind wirklich dramatische Schäden. Ganz aktuell ist es so, dass die Forstwirtschaft sich in dieser Hinsicht sogar noch verschärft.
In den 1980er Jahren gab es immer wieder Horrorszenarien zum Waldsterben. Davon ist auf den ersten Blick gar nicht so viel eingetroffen. War die Warnung damals berechtigt?
Wohlleben: Die Warnung war berechtigt. Es hat sich zum Glück durch Katalysatoren und Rauchgasentschwefelung sehr entschärft. Das Problem war vor allem Schwefelsäure, die heruntergeregnet ist. Das ist weitestgehend gestoppt. Wir haben momentan eher ein Problem mit Stickoxiden, die eingetragen werden. Dadurch wachsen die Wälder rund 30 Prozent schneller.
…was ja erst einmal positiv klingt.
Wohlleben: Normale Bäume sollten und wollen gar nicht so schnell wachsen. Sie werden zu Höchstleistungen genötigt. Das ist ein ungesundes Wachstum – und auch die Holzqualität leidet. Das Problem ist aber nicht nur der Verkehr. Auch die Gülle aus der Landwirtschaft trägt zu den Stickstoffverbindungen bei. Da muss dringend etwas passieren.
Ein Baum hat ein Erinnerungsvermögen.
Wie ist das eigentlich mit Holz als Ressource – haben Sie selbst auch Holzmöbel im Haus?
Wohlleben: Ja klar, ich habe Holzmöbel! Ich heize auch mit Holz, wohlwissend, dass ich damit keinen Beitrag zum Umweltschutz leiste. Holz ist ein Rohstoff aus der Natur. Und wenn wir ihn nutzen, dann tun wir das für uns. Wenn ich mir Holz in den Ofen schiebe, dann mache ich das, weil ich Feuer schön finde und es gerne warm habe, aber nicht um den Wald zu schützen. Das muss man ganz klar sehen. Wir können nicht Umweltschutz betreiben, indem wir konsumieren.
Was sollte man beachten, wenn man Holz kauft und dabei keinen Raubbau an der Natur betreiben möchte?
Wohlleben: Es sollte möglichst ein Zertifikat haben. Es gibt ja zum Beispiel das FSC-Gütesiegel. Das besagt, dass das Holz aus schonenden Quellen stammt, dafür kein Regenwald gerodet wurde und schon gar keine illegale Abholzung stattfindet. Wenn es irgendwie geht, sollte man auf das Tropenholz verzichten. Die Transportwege sind sehr lang und die Kontrollmöglichkeiten dadurch schwierig.
Bücher sind auch nicht gerade waldfreundlich. In Ihrem neuen Buch steht zwar, dass das Papier aus „verantwortungsvollen Quellen“ stammt. Aber Sie hätten ja auch von vornherein sagen können: Okay, das Buch wird nur ein Ebook, weil dafür keine Bäume sterben.
Wohlleben: Ich könnte natürlich ein bisschen schnodderig sagen: Leute, die mein Buch kaufen, kaufen das anstelle von anderen Büchern. Aber das wäre natürlich ein bisschen sehr kurz gegriffen. Ich plädiere grundsätzlich dafür, dass man das Leben genießt, natürlich auch mit Holzprodukten. Für mich gehört es zum Beispiel zu einem echten Leseerlebnis dazu, dass ich ein Buch auch in der Hand halte. Ich mache es grundsätzlich so, dass ich in ein neues Buch auch erst einmal hereinrieche.
Das habe ich bei Ihrem Buch sogar gemacht. Das roch ganz gut.
Wohlleben: Tatsächlich scheinen viele Leute an Büchern zu riechen. Ich habe sogar einmal bei verschiedenen Verlagen nachgefragt, ob sie Geruchsdesigner dafür beschäftigen. Die gibt es ja in vielen Bereichen.
Spannende Frage.
Wohlleben: Ich war erstaunt, dass die Verlage das nicht machen. Jedenfalls bin ich gar nicht dafür, dass wir immer überall nur Natur haben, wenn dafür meine eigenen Ansprüche zu kurz kommen. Ich bin dafür, das in ein ganz ausgewogenes Verhältnis zu setzen. Bei Büchern bedeutet das eben, dass das Holz für das Papier aus ökologisch einwandfreien Quellen stammt.
Ihr neues Buch behandelt die sogenannten „geheimen Netzwerke“ der Natur. Und da schreiben Sie, dass der Wildschweinbestand durch Regenwürmer reguliert wird. Können Sie das ganz kurz erläutern?
Wohlleben: Wildschweine sind genau wie wir Allesfresser. Sie mögen also auch gerne Fleisch. Das Fleisch, das für sie am leichtesten verfügbar ist, sind Regenwürmer. Pro Quadratkilometer gibt es mehrere Tonnen im Boden. Das ist also wirklich eine riesige Fleischquelle.
Das klingt ergiebig, ja.
Wohlleben: Wenn die Wildschweine nun die Regenwürmer fressen, infizieren sie sich mit Lungenwurmeiern. Dieser Infektionsdruck ist umso höher, je mehr Wildschweine es gibt. Die Wildschweine scheiden die Eier mit dem Kot wieder aus. Der Regenwurm ist ein Zwischenwirt, frisst den Kot und infiziert dann wieder die Wildschweine. Das ist ein Kreislauf. Die Infektionskette läuft umso heftiger ab, je mehr Wildschweine es gibt. Vor allem die Frischlinge haben dann eine deutlich höhere Sterblichkeitsrate.
Und dadurch reguliert sich der Bestand?
Wohlleben: Ja, denn dadurch sinkt auch die Vermehrungsrate. Nun ist der Regenwurm natürlich nicht der alleinige Regulator. Es gibt eine ganze Reihe von Parasiten, die das mitbewirken. Das können auch Bakterien oder Viren sein, zum Beispiel wie bei der Schweinepest. Die Natur regelt das – und zwar meistens nicht über große Raubtiere, wie man häufig meint, sondern über sehr kleine Erreger.
Ihr Buch richtet sich an die breite Bevölkerung. Gleichzeitig arbeiten Sie mit Fußnoten und verweisen auf wissenschaftliche Publikationen. Wie ordnen Sie sich als Autor ein?
Wohlleben: Ich schreibe definitiv keine wissenschaftlichen Bücher. Dann dürfte ich nicht emotional schreiben, denn das ist etwas, was Wissenschaftler niemals tun würden. Ich würde eher von einem populären Sachbuch sprechen.
Welches Ziel hat die emotionale Sprache?
Wohlleben: Mir geht es darum, dass man wissenschaftliche Erkenntnisse wie einen Roman lesen kann. Zu viele Fakten hintereinander schrecken ab. Und das ist genau das, was ich anders machen wollte.
Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie Tiere und Bäume vermenschlichen.
Wohlleben: Das ist ein ganz interessanter Vorwurf. Er bezieht sich immer auf die emotionale Sprache. Ich sage mal ein einfaches Beispiel: Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass von Mutterbäumen Zuckersaft zu ihren Sämlingen fließt. Auch Untersuchungen der forstwissenschaftlichen Fakultät in Vancouver bestätigen, dass Mutterbäume ihre eigenen Sämlinge bevorzugen.
Und Sie schreiben nun, dass die Bäume ihren Nachwuchs regelrecht stillen.
Wohlleben: Genau. Und dazu würden einige Forstwissenschaftler aus Deutschland wohl sagen: ‚Das geht jetzt wirklich zu weit, Mutterbäume stillen ihren Nachwuchs nicht.‘ Aber der Laie weiß sofort, was da abläuft. Die Fakten erreichen einen nicht, sondern die Emotionen. Und ich glaube nicht, dass die Leserinnen und Leser tatsächlich meinen, dass eine Buche ihren Sämling an eine nicht vorhandene Brust nimmt. Ich appelliere nicht nur an das Gehirn, sondern versuche vor allem, das Herz der Leser zu erreichen.
Es gibt sogar eine Petition zweier Forstwissenschaftler gegen Sie. Diese schreiben, dass Bäume beim Wachsen in Konkurrenz zueinander stehen. Sie dagegen behaupten, dass sich die Bäume gegenseitig helfen – wer ist denn da nun auf dem Holzweg?
Wohlleben: Ich vermute, dass die Leute, die diese Petition auf den Weg gebracht haben, mein Buch gar nicht gelesen haben. Ihnen schlägt mittlerweile heftiger Gegenwind aus den eigenen Reihen entgegen. Prof. Dr. Pierre Ibisch von der Hochschule Eberswalde etwa bescheinigt den beiden eine beschämende und unwissenschaftliche Vorgehensweise.
Abgesehen davon beschreibe ich die Konkurrenz gerade bei jüngeren Bäumen explizit in meinem Buch. Von zwei Millionen Samen und Sämlingen überlebt am Ende nur ein einziger im Laufe von 400 Jahren.
Das heißt, junge Bäume helfen sich nicht?
Wohlleben: Unter jungen Bäumen herrscht Konkurrenz. Aber wenn die Bäume erst einmal alt geworden sind, dann unterstützen sie sich tatsächlich bedingungslos. Es gibt sehr schöne Forschung zu dem Thema. Allerdings werden die Bäume in unseren Wäldern gar nicht mehr so alt. In Baumjahren gerechnet, kommen sie höchstens noch ins Kindergartenalter. Das ist genau die Altersphase, in der es einen Auslesekampf gibt. Selbst in der Fachsprache spricht man dabei von einer Erziehung der Mutterbäume durch Schatten. Das ist tatsächlich Lehrinhalt an Universitäten. Ich schaue aber über die Zeit hinaus – das Leben eines Baumes endet von Natur aus eben nicht mit 100 Jahren.
Im Grunde haben also beide Seiten recht – je nachdem, auf welches Alter von Bäumen man sich bezieht?
Wohlleben: Genau. Und dass es in dem Buch anders beschrieben wird, stimmt nicht, weil ich genau diesen Abschnitt beschreibe. Das bezeichne ich in dem Buch als Baumschule.
Sie schreiben in Ihrem Buch auch, dass wir die Natur als Ganzes gar nicht verstehen können.
Wohlleben: Ja.
Welche Dinge im Wald verstehen Sie denn nicht?
Wohlleben: Alle drei bis fünf Jahre blühen Buchen und Eichen jeweils gleichzeitig. Sie verabreden sich in ihrer eigenen Art zum Blühen. Es ist aber bis heute nicht klar, wie die Bäume über Hunderte von Kilometern miteinander kommunizieren. Man weiß nur, dass sie es machen.
Welchen Vorteil hat das für die Bäume?
Wohlleben: Wenn sie gleichzeitig blühen und eine große Menge an Eicheln oder Bucheckern erzeugen, dann können die Wildschweine nicht alle Samen fressen. Ein Großteil des Nachwuchses kommt also durch. Aber wie das funktioniert, ist weiterhin ein großes Geheimnis.
Das heißt, es gibt Dinge, die man grundsätzlich wissenschaftlich erklären könnte, aber heute eben noch nicht weiß.
Wohlleben: Wir wissen sehr viele Dinge nicht. Anderes Beispiel: Man weiß, dass an den Wurzelspitzen von Pflanzen, also auch bei Bäumen, gehirnähnliche Strukturen sind. Dort finden elektrische Prozesse statt, die denen im menschlichen Gehirn ähnlich sind. Das heißt natürlich nicht, dass an den Wurzelspitzen ein Gehirn ist.
Sondern?
Wohlleben: Wir wissen, dass ein Baum ein Erinnerungsvermögen hat an heftige Dürren oder auch an einen vorangegangenen Insektenbefall. Ich habe mich vor Kurzem mit einem Forstwissenschaftler aus Polen darüber unterhalten. Seine Theorie ist, dass die Wurzelspitzen sich wie in einer Cloud zusammenschalten, also tatsächlich ein bisschen ähnlich wie unsere Nervenzellen im Gehirn. Aber wie das im Detail funktioniert, wissen wir nicht.
Der Wald gilt als Sehnsuchtsort der Deutschen. Warum denken wir, dass der Wald ein Ort ist, an dem frei oder einsam sein dürfen und unsere Gefühle ausleben können?
Wohlleben: Ich glaube gar nicht, dass das ein typisch deutsches Phänomen ist. Man denkt manchmal, ach ja, die Deutschen, die sind so ein bisschen schrullig. Aber es ist etwas grundlegend Menschliches. Der Wald ist einer unserer natürlichen Lebensräume und wir haben tatsächlich auch noch ein Gespür dafür.
Inwiefern?
Wohlleben: Unser Blutdruck sinkt beispielsweise in intakten Wäldern und unser Immunsystem wird gestärkt. Es findet tatsächlich etwas auf der körperlichen Ebene statt und das wohl deswegen, weil wir eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte haben. Die Geschichte von Menschen ist eng mit den Wäldern verknüpft. Und daher kann man sagen: Dass wir in den Wald gehen, um uns zu entspannen und um uns wohlzufühlen, das ist ein völlig normaler Vorgang. Es ist nichts Verschrobenes.
Es gab Rezensenten, die gesagt haben, dass Ihre Bücher so erfolgreich sind, weil Sie mit dem Wald einen utopischen Ort geschaffen haben, an dem soziale Gefüge noch intakt sind. Was sagen Sie dazu?
Wohlleben: Sozialsysteme funktionieren in der Natur fast alle nach ähnlichen Regeln, zum Beispiel bei Menschen, Affen oder auch bei Bäumen. Für viele ist es aber überraschend, dass auch ein Baum in ein großes Sozialgefüge eingebunden ist, das nach bestimmten Regeln funktioniert, die ähnlich sind wie bei uns. Ich glaube deshalb aber nicht, dass der Wald ein Sehnsuchtsort ist oder dass Bäume besser funktionieren als Menschen.
Verhalten sich auch Bäume unsozial?
Wohlleben: Bäume sind Individuen mit unterschiedlichen Charakteren. Es gibt im Wald Individuen, die sich egoistisch benehmen, und andere, die eben viel mehr teilen. Da gibt es wirklich von Baum zu Baum Unterschiede und man kann nicht pauschal sagen, dass dort alles besser funktioniert.
In der NDR-Talkshow sagten Sie, dass man der Natur am besten hilft, indem man sich zurücklehnt und die Hände in die Hosentaschen steckt. Gleichzeitig schreiben Sie in Ihrem Buch, dass Sie selbst Vögel füttern. Warum machen Sie an dieser Stelle eine Ausnahme?
Wohlleben: Die Ausnahme mache ich für mich, nicht für die Natur. Es geht nicht darum, dass wir unsere eigenen Bedürfnisse hintenanstellen. Die Frage ist: Wie stark ist der Eingriff und für wen tue ich das? Und in dem Fall habe ich es für meine Kinder getan. Sie haben lange gesagt: Mensch, Papa, stell doch mal ein Vogelhäuschen auf. Und ich habe jahrelang gesagt: Nein, das mache ich nicht. Das war viel zu dogmatisch. Und ich bin eigentlich überhaupt kein Fan von Dogmen in dem Bereich, weil uns die Natur viel Spaß machen kann.
Ich bin in Ihrem Buch noch über einen anderen Abschnitt gestolpert. Sie haben geschrieben, dass Sie es schade finden, dass Privatpersonen in Deutschland keine wilden Arten halten dürfen. An der Stelle heißt es: „Gewiss wird das ein oder andere Tier auch mal zu Tode geliebt, weil es nicht ganz artgerecht versorgt wird, doch unterm Strich ist erlebbare Natur gleichzeitig ihr bester Schutz.“ Schaffen wir nicht ein seltsames Bild von Natur, wenn wir wilde Tiere im Haus halten? Und birgt diese Haltung nicht die Gefahr, dass Menschen dann auch draußen beispielsweise Wölfe anfüttern oder andere Tiere einfangen, um sie zu streicheln?
Wohlleben: Das wäre etwas ganz Anderes. Wenn Sie Wildtiere wie Wölfe draußen anfüttern, dann erzeugen Sie eine Gefahr. Wölfe dürfte und sollte man beispielsweise auch nicht privat halten, was ich richtig finde. Aber ich sage mal ein anderes Beispiel: Krähen. Diese Tiere werden in Deutschland zu Zehntausenden geschossen. Viele Menschen empfinden sie als störend. Dabei sind sie so intelligent wie Menschenaffen. Wenn Sie eine Krähe zu Hause halten dürften, die sonst vielleicht draußen geschossen werden würde, dann würden Sie sehen, was für wunderbare Tiere das sind. Sie können langjährige Freundschaften mit Krähen aufbauen und auf eine Weise kommunizieren die ähnlich ist wie bei Hunden.
Und die Gefahr, dass damit Grenzen verschwimmen zwischen Haustier und Wildtier würde man umgehen, indem man nur bestimmte Tierarten für die Haushaltung freigibt?
Wohlleben: Genau. Es geht mir um Tiere, von denen keine Gefahr ausgeht. Wenn Sie Wölfe anfüttern, dann machen Sie Wildtiere zahm, die weiter in der Wildbahn leben. Das ist gefährlich. Wenn Sie aber die Möglichkeiten hätten, bestimmte Vogelarten wie Krähen zu halten, deren Bestand nicht im Geringsten gefährdet ist, dann sähe das ganz anders aus. Wenn Sie jetzt wissen: Ah, ich habe die Krähe Sam – und ihre Artgenossen sind bedroht, dann haben Sie eine emotionale Bindung an die Natur. Dann schützen Sie die Natur ganz anders.
In Polen gibt es einen der letzten Urwälder in Europa. Nun gibt es Streit zwischen der rechtskonservativen Regierung und der EU-Kommission über die Abholzung. Lässt sich generell sagen, dass konservative Regierungen sich mit Naturschutz schwerer tun?
Wohlleben: Man bekommt zumindest das Gefühl, ganz klar. Es ist ja eigentlich auch bei einer konservativen Regierung zumindest dem Namen nach so, dass sie konservieren will. Das würde auch bedeuten, zu schützen und zu bewahren. Vielfach passiert aber genau das Gegenteil: Oft ist es so, dass konservative Regierungen meinen, Sie wären besonders industriefreundlich und deswegen in solchen Standards wie aktuell in Polen denken. Im Prinzip ist das aber weder umwelt- noch industriefreundlich. Wenn der Wald weg ist, dann hat keiner mehr etwas davon.
Das heißt, es braucht insgesamt mehr grüne Politik?
Wohlleben: Auch für uns aktuell wäre es gar nicht so schlecht, wenn die Grünen mit in der Regierung sitzen würden und dort im Bereich Umwelt ihren Einfluss geltend machen würden. Ich würde gar nicht so sehr nach Polen schauen. Wir haben in Deutschland keinen einzigen Quadratmeter Urwald mehr. Die Polen haben noch Urwald, auch wenn sie im Moment nicht besonders schön damit umgehen. Bei uns gibt es im Moment erheblichen Aufholbedarf. Richtige alte Buchenwälder gibt es bei uns zum Beispiel nur noch auf wenigen Promille der Waldfläche, also fast gar nicht mehr. Die sollte man auf jeden Fall mal schützen.
Ist es eigentlich wichtig, dass Menschen über die Natur noch staunen können?
Wohlleben: Auf jeden Fall, weil das eine riesige Freude macht. Wir schauen heutzutage immer in Moll auf Natur und sagen: Oh, da ist jetzt alles kaputt. Dieses permanent schlechte Gewissen würde ich gerne zumindest phasenweise einmal abschalten, weil es in vielen Fällen gar nicht angebracht ist. Wenn Sie draußen im Wald sind, dann geht es eben nicht darum zu sehen: Mensch, wie wenig natürliche Wälder haben wir noch. Es ist viel wichtiger, dass wir uns über den Wald freuen und sehen, wie viel Spaß es macht, mit Natur zu interagieren und richtig einzutauchen.
Ein tolles Interview, vielen Dank für die lebendige und sehr differenzierte Darstellung der Arbeit dieses „Bestseller-Autors“! Erfolg hat Herr Wohlleben wohl auch, weil er seinem Namen alle Ehre macht, und die Aspekte des Lebens in unserer konsumistischen Gesellschaft stets so unerschütterlich positiv betrachtet. ;-) Bewundernswert und natürlich sehr Talkshow- und Mainstreamkompatibel, möglicherweise wird so gutgelaunte Kritik an der Verblendung vieler moderner „Forstsachverständiger“ aber auch gar nicht ernst genommen, bzw. gar nicht erkannt bzw. richtig wahrgenommen; richtet nicht viel aus. (?) Sehr wichtig finde ich Wohllebens Hinweis darauf, dass ältere Bäume eben nicht vor allem „um Licht und Nährstoffe konkurrieren“ und daher „geerntet“ werden müssen, sondern dass hier andere Prinzipien, wie gegenseitige Unterstützung bzw. „Hilfe“ zum Tragen kommen, und das alte, weit über 100 Jahre alte Bäume sehr wichtig für eine intakten, vielfältigen Wald sind. Auch dass durch den Einsatz schwerer Maschinen und „Harvester“ Waldböden viel stärker geschädigt werden, als sich das viele Menschen bislang vorstellen können, hat Herr Wohlleben dankenswerterweise bekannt gemacht und gut erklärt. Zu hoffen wäre, dass seine Bücher ernst genommen und auch in der Ausbildung, z.B. zum „Forstwirt“ berücksichtigt werden! Zum Schutz des Waldes gehört aber auch das Engagement gegen Flächenversiegelungen und wahnwitzige Autobahn-Ausbau-Projekte etc.- ich wünschte, Herr Wohlleben könnte hier seine Popularität nutzen und in Zukunft noch etwas deutlicher Stellung beziehen, auch politisch! Ganz konkret soll z.B. in Niedersachen die A39 erweitert werden, zwischen Lüneburg und Wolfsburg, da werden viele, viele Bäume gefällt , und ein letztes Stück intakter Natur unwiderbringlich zerstört. Un d Ministerpräsident Weil feiert mit der Autobahn-Lobby den „Lückenschluss“…