Philipp Ruch

Kunst hört da auf, wo Gewalt beginnt.

Mit aufsehenerregenden Aktionen prangert das Zentrum für politische Schönheit immer wieder politische und gesellschaftliche Missstände an, doch die Pandemie bremste auch das Künstler-Kollektiv ein wenig aus. Im ausführlichen Interview spricht Initiator Philipp Ruch über die Corona-Zeit, Sinnlosigkeit von Demonstrationen, Ausgrenzung von "Altrechten", drohende Genozide und die gefährliche Sehnsucht nach einem starken Staat.

Philipp Ruch

© Gene Glover

+++ Das folgende Gespräch entstand an zwei Tagen im Sommer 2020 und Frühjahr 2021. +++

Philipp Ruch, haben Sie nach einem Jahr Pandemie weniger oder mehr Vertrauen in den deutschen Staat?

Philipp Ruch: Genauso wenig Vertrauen wie immer. Bis heute interessiert die Regierung der Zivilisationsbruch unserer Zeit kein bisschen: das Massenertrinken im Mittelmeer.
Es fehlt in der Regierung an erfahrenen Menschen, die einen Notstand wie eine Pandemie managen können. Da läuft so viel falsch, dass ich mir Sorgen mache um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Demokratie. Ich befürchte, dass dadurch die Sehnsucht nach Autorität, nach einem starken Staat, wieder gedeiht. Dabei braucht Demokratie keinen Autoritarismus, sondern fähige Logistiker.

Klingt so, als fühlten Sie sich in der Pandemie in Deutschland nicht gerade gut aufgehoben…

Ruch: Nein, aber wenn es um Regierungsvertrauen geht, ist das ZPS vielleicht die falsche Adresse. Wir kennen ja die skandalöse Flüchtlingsabwehrpolitik, bei der einem Hören und Sehen vergeht.

Wobei es in Corona-Zeiten ja tatsächlich grenzübergreifende Humanität gab: Zu Beginn der Pandemie wurden Corona-Kranke aus Italien und Frankreich zur Behandlung nach Deutschland gebracht.

Ruch: Ja, das sind tatsächlich schöne Akte, während anderswo nur jeder für sich kämpfte und versuchte, irgendwelche Masken zu konfiszieren. Vermutlich waren das jetzt nicht so viele Kranke, die man eingeflogen hat, da geht es um den symbolischen Wert.

Also nur Show für die Massen?

Ruch: Symbolpolitik ist etwas ganz Wichtiges und Essenzielles – und auch oft von politischer Schönheit. Es wird eine Atmosphäre geschaffen, eine Stimmung, mit der sich erst grundlegend etwas verändern lässt, das darf man nicht unterschätzen. Das Symbolische ist das, was den Menschen überhaupt im Gedächtnis bleibt.
Das mit dem Einfliegen ist ein gutes Beispiel dafür, dass es immer Möglichkeiten schöner Politik gäbe, woran Politiker sich orientieren könnten. Aber in der Regel tun sie das nicht.

Das Einfliegen war also eher ein singulärer Akt politischer Schönheit…

Ruch: Nein, die Festlegung der Impfreihenfolge – die Schwächsten zuerst – ist der wunderschönste Gedanke. Selbst die Bundeskanzlerin hat sich an diese Reihenfolge gehalten.

Was ist mit dem Lockdown-Prinzip, also Verzicht zu üben, um die Gesundheit anderer zu schützen: Politisch schön?

Ruch: Der Lockdown an sich ist ein grausames Instrument und auch ein Eingeständnis für all die gravierenden politischen Fehler und Fehleinschätzungen zuvor. Ich hätte es für wichtiger gehalten, die Altenheime massiv zu schützen und Schnelltests flächendeckend gratis anzubieten. Das wäre ja von Anfang an möglich gewesen. Wir hätten das Virus viel aktiver jagen müssen. Im Lichte der Handlungsmöglichkeiten, die uns offen standen, die wir alle versemmelt haben, kommt mir der Lockdown vor wie ein Scheitern.

Zitiert

Ich glaube, dass das Verdikt der Geschichte über uns vernichtend ausfallen wird.

Philipp Ruch

Wenn Sie selbst wenig Vertrauen in die Regierung haben – sind Sie dann bei den Menschen, die seit einem Jahr gegen die Beschränkungen auf die Straße gehen?

Ruch: Nein. So eine Versammlung wie vor dem Bundestag letzten September ist für mich ein Irrenhaus. Wobei es kein neues Phänomen ist, dass Nazis und Hippies gemeinsam auf die Straße gehen, das konnte man schon Anfang der Nullerjahre bei den Friedensbewegten-Demos beobachten.

Hat es Sie denn überrascht, wie viele Menschen bei „Querdenken“ demonstriert haben?

Ruch: Mich hat überrascht, wie wenig das waren. Dafür, dass die gesamte rechte Szene getrommelt und geworben hat, war das doch nur ein erklecklicher Haufen. Allerdings sind Demos auch eine sehr veraltete Protestform, die politisch gar nichts mehr bringt.

Ach so?

Ruch: Ja, ein wahres Schaulaufen der Sinnlosigkeit. Das ist leider ein häufiges Missverständnis, auch bei Teilnehmern von Fridays for Future (FFF), die denken, es würde etwas bringen, wenn sie anderthalb Millionen Menschen auf die Straße werfen. FFF ist eine der größten Bewegungen seit 1968, aber sie haben bislang null politischen Effekt. Es gibt nur lauter schöne Absichtsbekundungen, aber keine Umsetzung. Das ist dramatisch.

In Berlin werden jeden Tag Demonstrationen angemeldet. Deren Teilnehmer sind alle auf der falschen Fährte?

Ruch: Eine Demonstration ist ungefähr so sinnvoll, wie eine Online-Petition zu unterschreiben. Früher haben Menschenrechtsorganisationen auch Briefe an Diktatoren verschickt und geglaubt, damit irgendetwas zu bewirken. So etwas macht mich fassungslos.

Was ist Ihr Alternativvorschlag?

Ruch: Schauen Sie sich unsere Aktionen doch an, wir experimentieren mit dem radikalen Humanismus und tun Dinge, die etwas origineller sind, vielleicht auch weh tun und eine Gesellschaft nachdenklich stimmen – zum Beispiel mit einem Holocaust-Mahnmal direkt vor Björn Höckes Haus. Eine Demo in seinem Vorgarten hätte keinerlei Wirkung gehabt.

Was schlagen Sie Berufsgruppen vor, die von den Corona-Einschränkungen stark getroffen sind?

Ruch: Betriebe, die akut bedroht sind, könnten das direkt dem Wirtschaftsminister anzeigen, vielleicht etwas physischer, mit einer Art Dauerpräsenz vor seinem Ministerium am Invalidenpark.

Ein Camp?

Ruch: Das wäre mir jetzt ikonographisch zu bekannt. Aber vielleicht so: Wenn durch die Corona-Politik Ihr Grill-Restaurant ruiniert ist, könnten Sie den Damen und Herren aus dem Ministerium den Gang zu ihrer Arbeit erschweren, indem Sie auf dem Fußgängerstreifen ein paar Steaks grillen.

Demonstrierende bei „Querdenken“ sorgten sich u.a. vor einem totalitären Staat. Diese Sorge gibt es in Ihren Büchern auch. Eine Schnittmenge?

Ruch: Wie bitte? Dafür müssten Gesetze erlassen werden, die es der nächsten Regierung erleichtern, in Deutschland eine Diktatur einzuführen. Solche Gesetze sehe ich bisher nicht, da achte ich sehr darauf. Es gibt keine Anordnungen oder Gesetze, die im Bundestag beschlossen wurden, die es jetzt einer AfD-geführten CDU-Koalition leichter machen würden, totalitär zu regieren.

Dennoch gibt es Menschen, die auf den Demos ins Mikro sprechen, die Corona-Zeit sei wie 1933.

Ruch: Ich glaube, die Isolation tat vielen nicht gut. Was verständlich ist, wir sind Menschen, soziale Wesen. Ich glaube auch, dass die Verrückten-Rate in unserer Gesellschaft exorbitant gestiegen ist und weiter steigen wird.

Ist das nicht eine leichtfertige Erklärung?

Ruch: Ich empfinde es eher als tröstlich, dass Menschen doch mehr Nähe, Kontakt und Berührung brauchen, als viele sich selbst eingestehen.
Dass es jetzt zum Teil auch Menschen mit Intellekt trifft, wie wir es bei Prominenten gesehen haben… Vielleicht war das jetzt einfach die Stunde der Wahrheit.

Die Politik hört im Moment ja in erster Linie auf die Wissenschaft, weniger auf Intellektuelle…
Ruch: Tatsächlich hätte ich mir gewünscht, dass Intellektuelle stärker einbezogen werden. Ich sehe das kulturelle Phänomen einer Pandemie nicht als nachrangig. Die Interpretation dessen, was geschieht und wie wir damit umgehen, ist die Aufgabe von Denkerinnen, Künstlern und Philosophen. Die hätte ich gerne gehört, die kamen aber kaum vor. Stattdessen hat man sich stundenlang darüber gestritten, ob man eine Maske tragen soll. Intellektuelle können Trost spenden.

Was bedeutet Corona für das ZPS?

Ruch: Die Pandemie war für uns eine Katastrophe. Zwei unserer Projekte sind durch Corona im Planungsstadium gestorben. Wir sind ein Produktionsbetrieb, der angewiesen ist auf Menschen, Gewerke, Arbeitsteilung – all das konnte nicht stattfinden.

Erhalten Sie jetzt weniger Spenden?

Ruch: Ja, da gab es einen großen Einbruch. Aber wir wollen nicht jammern, sondern hoffen das Beste für die kommende Zeit. Wir überlegen auch, wieder etwas Digitales zu machen. Unsere Aktion „Soko Chemnitz“ 2018 zum Beispiel fand in erster Linie im Netz statt – und die Rechtsextremen sind seitdem nicht weniger geworden. Im Gegenteil, sie haben jetzt Aufwind durch die Verschwörungstheoretiker bekommen.

Sind Verschwörungstheoretiker Ihre neuen ‚Gegner‘?

Ruch: Sie sorgen jedenfalls dafür, dass sich rechtsextremes Gedankengut stark ausbreitet, was insbesondere bei der jungen Generation gefährlich ist. Dass ein 60-Jähriger aus Stuttgart zum Verschwörungstheoretiker abdriftet, halte ich politisch für relativ unproblematisch. Aber wenn 15-Jährige beim Zocken im Netz nebenher mit rechtsextremen Inhalten kontaminiert werden, macht mir das Sorgen. Der Hacker Johannes S., der Ende 2018 u.a. Daten von grünen Politikern ins Netz gestellt hat, war 20, der Attentäter von Halle 27 Jahre alt, das ist eine ganz junge, rechtsextremistische Schicht.
In meiner Schulzeit war die junge Generation doch eher links orientiert. Heute steht zu befürchten, dass sie durch Propagandabemühungen nach rechts abdriftet.

Dabei wählen heute viele jungen Menschen die Grünen und gehen bei FFF auf die Straße.

Ruch: Das stimmt schon, es gibt auch Intellektuelle, die behaupten, dass nach dem Rechtsruck von 2015 Fridays for Future für den Linksruck stehe. Ich denke, es ist noch zu früh, das abschließend zu beurteilen. Denn was untergründig digital in dieser Gesellschaft eigentlich passiert ist – darüber haben wir überhaupt keine Daten. Deswegen war es auch ein sehr wichtiger Schritt von Twitter, Instagram und Co., als sie den ganzen neurechten Nazi-Hipstern die Kanäle zugesperrt haben. Das wurde Zeit, schließlich rekrutieren die dort schon seit Jahren.

Wie stellen Sie sicher, dass Sie mit dem ZPS junge Leute, zum Beispiel jene Online-Gamer, erreichen?

Ruch: Wir sind ja kein Propaganda-Kanal.

Aber Sie wollen vermutlich nicht nur in einer Intellektuellen-Blase agieren.

Ruch: Unser Medium ist die Aktion. Das, was Christoph Schlingensief in seinen Aktionen „Chance 2000“ und „Ausländer raus“ vorgefertigt hat, ist der Staffelstab, den wir übernommen haben. In die Rezeption dieser Aktionen fließt praktisch das ganze Land mit ein. Da gibt es kein ‚preaching to the choir‘, sondern von rechts wie links beteiligt sich alles am Diskurs, von Hassern bis Bewunderern – einfach alles. Allerdings ohne, dass wir das irgendwie „sicher stellen“.

Ihre letzte Aktion war im Herbst 2020 eine Abgabestation für Waffen vor dem Bundeskanzleramt. Wurden welche abgegeben?

Ruch: Wir schweigen darüber. Die Aktion ist noch nicht abgeschlossen, sie hat aber schon zu Hausdurchsuchungen geführt.

Wenig später wurde bekannt, dass es es genau solche anonymen Amnestie-Boxen beim Kommando Spezialkräfte gegeben hat.

Ruch: Ja, wir hoffen, dass uns das KSK jetzt nicht mit einer Urheberrechtsklage überzieht, weil wir ihnen ja offenkundig die Idee geklaut haben. Interessant ist, dass das Verteidigungsministerium unsere Aktion damals als „Satire“ bezeichnete und jetzt feststellt: In den eigenen Reihen gibt es noch viel größere „Satiriker“!

Vom Zentrum für politische Schönheit errichtete Abgabestation für Waffen © Patryk Witt

Auf der Website zur Aktion haben Sie sich an Soldaten mit der Aufforderung gewandt, keinen „Treuebruch gegen Dein Vaterland“ zu begehen.

Ruch: Ja, Soldatinnen und Soldaten kriegt man am Ehesten mit hochtrabenden Appellen an Gewissen, Ehre und Vaterland.

Und Sie? Können Sie mit „Vaterlandstreue“ etwas anfangen?

Ruch: Nein, überhaupt nicht. Mich kriegt man mit der Verteidigung der Demokratie, mit einem Schwur auf die Verfassung und mit „Nie wieder Auschwitz“.

Sie erwähnten „neurechte Nazi-Hipster“. Was sind Ihrer Meinung nach deren Interessen?

Ruch: Eigentlich verwende ich das Wort „neurechte“ nicht, denn älter geht es nicht. Für mich sind das altrechte. Sie kämpfen für ein faschistisches Deutschland. Sie kämpfen einen Kampf, den sie – und wir alle übrigens – 1945 verloren haben.

Die AfD will Ihrer Ansicht nach also den Faschismus wieder einführen.

Ruch: Dass der AfD das Grundgesetz nicht am Herzen liegt, ist kein Geheimnis. Wenn sie vom „Systemwechsel“ sprechen, dass sie andere „jagen“ wollen… Deren Interessen liegen in der Vergangenheit Deutschlands. Das Unangenehme ist, dass die deutsche Form des Rechtsextremismus immer so extrem mörderisch daherkommt.

Ihr letztes Buch „Schluss mit der Geduld“ erschien 2019 und enthält einen Appell, mit Rechten in der Öffentlichkeit nicht mehr zu sprechen. Ein Jahr zuvor unterschrieben u.a. Henryk M. Broder, Bassam Tibi und Uwe Tellkamp die sogenannte „Gemeinsame Erklärung“. Haben Sie noch Geduld mit Uwe Tellkamp?
(„Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird.“)

Ruch: Ich finde diese Erklärung zutiefst inhuman – und jeder Ökonom würde ergänzen, dass sie auch noch unökonomisch ist. Die Bundesregierung gibt Millionen im dreistelligen Bereich dafür aus, um Pflegekräfte aus Asien zu rekrutieren, aber syrische Ärzte möchte man nicht aus den Flüchtlingslagern holen.
Diese Unterzeichner sind aber nicht das Problem, würde ich sagen. Dass wir bei jeder politischen Bewegung, wie jetzt diesem aufkeimenden Faschismus, immer auch Intellektuelle haben, die sich der Bewegung andienen, ist nichts Neues.

Jemand wie Bassam Tibi dient sich einem „aufkeimenden Faschismus“ an?

Ruch: Ich weiß nicht, ob es aus der Motivation geschieht, später irgendwelche Posten und Gelder abzugreifen, oder ob sie einfach die Gesellschaft brennen sehen wollen.
Sie können es aber auch so betrachten: Für einen Intellektuellen ist diese Aufmerksamkeit extrem attraktiv. Wenn ich Ihnen jetzt Sätze diktiere, die volksverhetzend, rechtsextrem oder rassistisch sind, dann wäre das doch eine große Schlagzeile. Diese Intellektuellen merken, dass sie dann erst wahrgenommen werden und in den Medien vorkommen, wie man so schön sagt. Das ist für einige offenbar eine große Versuchung.

Die Unterzeichner sind von Geltungssucht getrieben?

Ruch: Also bei Uwe Tellkamp finde ich keine andere Erklärung mehr.

Wo ziehen Sie denn die Linie? Ab wo fordern Sie, Menschen vom Diskurs auszugrenzen?

Ruch: Ich sehe nicht, wie ein Verlag wie Suhrkamp sich hinter Tellkamp stellen kann, bei so klaren Aussagen, die dem Gründungserbe, von beiden Verlegern, völlig widersprechen. Sie laufen dem Kerngedanken eines humanistisch aufgeklärten, gebildeten Schriftstellers zuwider. Plumpe Sätze, in seiner Plumpheit ist dieser Zweizeiler ja gar nicht mehr zu unterbieten.

Aber vom Grundgesetz sind sie gedeckt.

Ruch: Natürlich. Aber der Suhrkamp-Verlag publiziert ja nicht sämtliche Dinge, die vom Grundgesetz gedeckt sind.

Was ist denn beim ZPS die Richtschnur: Ihr persönlicher moralischer Kompass oder das Grundgesetz?

Ruch: Gesellschaftlich gibt es einen ganz anderen Konsens als strafrechtlich. Bei so etwas wie der „Gemeinsamen Erklärung“ greift das Strafrecht nicht, das greift erst bei Attila Hildmann.
Der gesellschaftlichen Konsens ist wesentlich intoleranter, der kann viel schneller dafür sorgen, dass Autoren bei ihrem Verlag rausfliegen. Sie dürfen das erklären, es ist von der Meinungsfreiheit gedeckt. Aber ihr Verleger darf eben auch sagen: Ich publiziere deine Bücher nicht mehr.

Und Sie würden an den Suhrkamp-Verlag appellieren, Tellkamp nicht mehr zu verlegen?

Ruch: Wenn er ein Gewissen hätte, würde ich das tun. Aber der Verlag findet sich noch in seinem elenden Postmodernismus schick.

Wenn jetzt Tellkamp bei Suhrkamp rausfliegt, wäre er vielleicht der nächste, der sich radikalisiert.

Ruch: Er wird dann noch radikaler.

Aber ist diese Form der Ausgrenzung denn klug, im taktischen Sinne?

Ruch: Sehr klug sogar. Warum sollte ein Tellkamp mit angezogener Handbremse durch den politischen Diskurs fahren und etwas Anderes sagen, als er denkt? Das fände ich für einen Intellektuellen in einer Demokratie eher verwerflich.
Ein Intellektueller soll seine rechtsextremen Positionen mitteilen, es gibt nur kein Anrecht darauf, die auch bei den großen Verlagshäusern oder im demokratischen Diskurs zu publizieren, wenn sie jenseits des gesellschaftlichen Konsens liegen. Auf dem Schicksal von Flüchtlingen herumzuhacken, ist verwerflich, falsch und undemokratisch.
Ich bin nicht zuständig dafür, einen Herrn Tellkamp wieder einzufangen und in die Demokratie zu integrieren. Wer ausscheren will, soll bitte ausscheren und so rechtsextrem rumbrüllen, wie sie nur wollen. Sie werden dann halt geächtet, ausgeschlossen und finden im demokratischen Diskurs nicht statt.

Aber viele „Neurechte“ finden doch statt, etwa auf ‚alternativen‘ Plattformen…

Ruch: … in digitalen Brabbelstuben. Was in den 90er Jahren das Wirtshaus war, sind heute die ‚alternativen Plattformen‘.

Deren Reichweite ist nicht gerade klein.

Ruch: Das bezweifle ich. Früher gab es irgendwelche Magazine mit 200.000er-Auflage, die zutiefst rechtsextrem waren und von irgendwelchen Pilzesammlern gelesen wurden, die sich im Hobby verirrt hatten.
Sicher, es gibt auch ganzseitige Portraits in Tageszeitungen über Altrechte. Ich halte das für gefährlich. Warum geben wir denen ein Podium: Weil die so einflussreich und wichtig sind?

Wohl eher, weil es verschiedene Interessen in dieser Gesellschaft gibt und sich die Frage stellt: Wie kommt der Interessenausgleich zustande?

Ruch: Da ist genau der Punkt um den es geht: Es kann in der Flüchtlingspolitik keinen Kompromiss geben zwischen: „Wir lassen sie sterben“ und „wir retten sie“.

Und jemand wie Tellkamp sagt „wir lassen sie sterben“?

Ruch: Lesen wir doch nochmal in der Erklärung nach: „…dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird.“ Da sehe ich schon die Bundeswehr auffahren, dazu kann ich mir kein anderes politisches Konzept vorstellen als „lasst sie ertrinken, die gehören ins Meer“. – Das ist übrigens geltende Regierungspolitik, seit 16 Jahren, noch unter Gerhard Schröder beschlossen.
Es gibt keinen Kompromiss zwischen einer rechtsextremen und einer demokratischen Meinung. Stattdessen müssen wir eine rechtsextreme Haltung ächten. Wir müssen sie labeln, nicht nur als demokratiefern, sondern als demokratiefeindlich. Die Demokratie ist der Aufklärung und Humanität verpflichtet – und dazu gehört dann auch die Nächstenliebe.

Angenommen Sie sitzen mit Uwe Tellkamp in Dresden und erklären ihm gutmütig…

Ruch: …nicht gutmütig, feindlich, als Fressfeind der Diktatur.

und erklären ihm: So müssen wir es machen, nicht anders.

Ruch: Die Mühe mache ich mir nicht. Das hat keinen Sinn.

Dann eben Bassam Tibi: Wie erklären Sie dem, dass er in der Flüchtlingsfrage völlig falsch liegt?

Ruch: Ich würde ihm erklären, dass wir eine der reichsten Nationen der Erde und mächtigste Mitgliedsstaat der EU sind. Wir können es uns leisten, Menschen in Not zu helfen und sie vor dem Ertrinken zu retten.
Was viele vergessen haben: Es gab einst eine staatlich organisierte Seenotrettung, 2013/2014, von Italien betrieben. Die italienische Küstenwache und die Armee haben Hunderttausende Menschenleben gerettet. An der Zahl lässt sich erkennen, wie viele sich da wirklich übers Mittelmeer retten. Dass wir die ertrinken lassen, ist unsere tiefste Schande.
Wir bilden uns immer so viel auf unsere Demokratie ein und darauf, dass Leute wie Tellkamp ihre Meinung äußern dürfen. Aber in der DDR gab es in Summe 1200 Mauertote, an der europäischen Grenze sterben täglich mehr Menschen als in 28 Jahren an der DDR-Außengrenze gestorben sind.
Ich glaube, dass das Verdikt der Geschichte über uns vernichtend ausfallen wird. Und keiner, auch ich nicht, wird sich von dieser Schuld befreien können; dass wir hätten retten können und nicht gerettet haben. Wir haben uns abgelenkt, mit Pseudodebatten auf Twitter. Wir haben uns ablenken lassen von dem, worum Geschichtsbücher sich einst drehen werden. Das ist verheerend.

In Ihrem Theaterstück „2099“ ist die Rede von vier Holocausts im 21. Jahrhundert. Glauben Sie da wirklich dran?

Ruch: Das Jahrhundert ist lang. China dürfte in den 20er und 30er Jahren so ultranationalistisch werden wie es Deutschland im 20. Jahrhundert war. Als ich noch studiert habe, waren viele Kommilitonen davon überzeugt, dass nach der Kommunistischen Partei in China die Demokratie obsiegen würde. Ich habe immer die These vertreten, dass auf die KP der Nationalismus folgen wird.

Aber das ist noch kein Genozid.

Ruch: Dann schauen wir auf Taiwan, oder auf den bewaffneten Kampf um ein paar unscheinbare Inseln im Südchinesischen Meer. Auch Hongkong passt nicht zu den meisten Entwicklungen, die Anfang des Jahrtausends für China vorhergesagt wurden. Wir haben eine kommunistische Partei, die zutiefst kapitalistisch orientiert ist. Die Hongkong-Freiheiten, die bis 2047 gelten sollten, sind weitestgehend weggefegt. Als nächstes kommt Taiwan an die Reihe – und das wird nicht friedlich lösbar sein. Dass es in Asien und Afrika zu Genoziden kommen könnte, die die Opfer-Bilanz des Holocaust in den Schatten stellen, wird durch nichts behindert. Im Gegenteil, die UN haben wir im syrischen Bevölkerungsmord nicht einmal eingesetzt. Das ist ein entscheidender Unterschied zu den Genoziden in Bosnien und Ruanda. Da waren Blauhelme wenigstens vor Ort, wenn auch in verräterischer Mission.

Verweigern wir Steuerzahlungen, besetzen wir Nachrichtensender, machen wir Stress“, lautet ein Appell in Ihrem Buch. Haben Sie schon mal Steuerzahlungen verweigert?

Ruch: Nein. Um damit eine Breitenwirkung zu erzielen, müssen sich mindestens alle Unterstützerinnen und Unterstützer von Seawatch für die gemeinsame Sache zusammenschließen. Ein paar hunderttausend Steuerzahler, die sauer sind.

Wie stellen Sie sich das dann vor?

Ruch: Dass Menschen es nicht länger ertragen, dass ihre Regierung Menschen bewusst ertrinken lässt und sie zu dem Schluss kommen: Das darf ich nicht mit Geld unterstützen, ich möchte keine Regierung finanzieren, die es als rechtsstaatliches Ordnungsprinzip ansieht, im Mittelmeer eine anarchisch-gesetzlose Zone zu betreiben. Das wäre zwar Symbolpolitik, aber sie könnte vor den Gerichten für einigen Ärger sorgen.

Nun kommt man aber schon ins Gefängnis, wenn man den Rundfunkbeitrag nicht bezahlt. Wie soll das bei Steuern gehen?

Ruch: Das ist rechtsgeschichtlich sehr interessant, wie der Staat für sich die Schuld-Haft übrig gelassen hat, die nicht zufällig die wesentliche Achse des Sklaventums war. Über diesen Anachronismus hat die Rechtsgeschichte den Strafrechtlern ziemlich viel zu erzählen.

Auf Corona-Demos hielten Demonstranten immer wieder das Grundgesetz hoch und eine Zeitung mit dem Titel „Demokratischer Widerstand“ druckt regelmäßig den Gesetzestext, wobei Artikel 20 Absatz 4 stets hervorgehoben ist…

Ruch: …der Widerstandsparagraph. Auf den hat sich auch schon die AfD berufen. Das ist ein Artikel auf Leben und Tod. Ich finde allerdings nicht, dass er bei Leuten greift, die sagen: Wir ignorieren das Virus.
Dagegen bei der Abschottungspolitik der EU, da würde ich schon sagen, dass man sich 20/4 zumindest mal angucken kann. Wir beim ZPS tun das allerdings nicht. Denn Kunst hört da auf, wo Gewalt beginnt.

Kommentar schreiben

* Erforderliche Angaben. Emailadresse wird nicht veröffentlicht.