Pierre Gras

Es gibt in Deutschland zu wenig gut gemachte kommerzielle Filme.

2011 erschien das erste Buch über den Deutschen Film nach 1990 – von dem Franzosen Pierre Gras, langjähriger Mitarbeiter der Pariser Cinémathèque française. Nun ist auch die überfällige deutsche Ausgabe von "Good Bye, Fassbinder!" erhältlich. Im Interview spricht Pierre Gras über den Deutschen Filmpreis, die vermeintliche Krise des Deutschen Kinos, „Waisen-Filme“ und die Gräben zwischen kommerziellem und Kunstkino.

Pierre Gras

© privat

Pierre Gras, bei der diesjährigen Verleihung des Deutschen Filmpreises hat die Kulturstaatsministerin Monika Grütters den deutschen Filmemachern vorgeworfen, nicht mehr so „mutig und politisch“ zu sein, wie die Regisseure der 1970er Jahre, „Wim Wenders, Werner Herzog und Volker Schlöndorff
Pierre Gras: Das passt doch genau zum Titel meines Buches: „Good Bye Fassbinder!“ In Frankreich ist es nämlich so: Filmliebhaber sind bei uns in der Regel neugierig auf neue Filme, aber wenn es um deutsches Kino geht, sprechen sie eigentlich immer nur über die Generation von Wenders und Fassbinder. Es ist dann immer mein Part, darauf hinzuweisen, dass es auch ein jüngeres, interessantes Kino gibt.

Wäre bei der Verleihung des Césars, des nationalen französischen Filmpreises, denkbar, dass ein Politiker sagt: Damals, bei Jean-Luc Godard und François Truffaut war alles besser?
Gras: Nein, sicher nicht. Es ist seltsam, dass eine Politikerin das so sagt. In Frankreich ist es nicht üblich, dass sich ein Politiker inhaltlich zu Filmen in dieser Form äußert.

Ist die Verleihung des Césars ein großes Thema in Frankreich?
Gras: Für die Branche natürlich schon, in der Öffentlichkeit spielt sie keine große Rolle. In diesem Jahr war die Verleihung besonders seltsam, sie dauerte fünfeinhalb Stunden. Das im Fernsehen zu verfolgen war sehr langweilig. Es gab sehr viele Reden über verstorbene Schauspieler und Regisseure. Aber „Timbuktu“, der große Gewinner in diesem Jahr, war schon ein Ereignis.

Das französisch-mauretanische Drama „Timbuktu“ erzählt vom Terror islamistischer Fundamentalisten im Norden Malis…
Gras: Dass er ausgezeichnet wurde, war sicher auch politisch motiviert, hatte mit den Anschlägen in Paris im Januar zu tun. Aber der Film war bereits im November im Kino gestartet und hatte erstaunlicherweise über eine Million Zuschauer, zum größten Teil vor den Anschlägen. Es war sehr erfreulich, dass er gewonnen hat, denn normalerweise mag man beim César die kleinen innovativen Filme nicht besonders.

Den gleichen Vorwurf gibt es regelmäßig beim Deutschen Filmpreis, er bekommt allerdings zusätzliches Gewicht, weil die deutsche Lola mit einer Geldprämie aus Steuermitteln verbunden ist.
Gras: Das ist beim César nicht der Fall, da gibt es nur die Auszeichnung. Und es sind eher kleinere Filme, die mit der Auszeichnung durch einen César die Hoffnung verbinden, dass sie dadurch ein paar Tickets mehr verkaufen. Aber das passiert eigentlich nur in Ausnahmefällen. Normalerweise werden sowieso nur die mittelmäßigen Arthouse-Mainstream-Hits ausgezeichnet. Mit „Victoria“ ist das allerdings etwas anders, oder? Er kam ins Kino und wurde wenige Tage später mit sechs Lolas ausgezeichnet. Das dürfte ihm doch Auftrieb an den Kinokassen gegeben haben…

Am Wochenende nach der Verleihung verzeichnete „Victoria“ in der Tat mehr als doppelt so viele Zuschauer, wie bei seinem Start. Insgesamt sind die 72.000 Zuschauer in zwei Wochen aber nicht gerade viel.
Gras: Trotzdem ist „Victoria“ ein großer Schritt für seinen Regisseur Sebastian Schipper. In gewisser Weise ist „Victoria“ der neue „Lola rennt“. Nur, dass diesmal nachts durch Berlin gerannt wird. Er wird hoffentlich auch in Frankreich Erfolg haben. Denn das ist endlich mal wieder ein deutscher Film, der in der Gegenwart spielt.

Zitiert

Die Grenzen zwischen Kommerz- und Intellektuellenkino scheinen in Deutschland fest zementiert zu sein.

Pierre Gras

Das Verhältnis deutscher Filmfans zu ihrem Kino ist oft kritisch, 2004 dichtete der Pop-Sänger Jens Friebe die Songzeile: „Es ist ja nicht so, dass mir alles aus Amerika gefällt
 / Doch das deutsche Kino ist nun mal das schlechteste der Welt.“
Gras: Es ist kein Zufall, dass bisher niemand in Deutschland ein Buch über das deutsche Kino seit 1990 geschrieben hat. Es scheint so zu sein, dass man es als ganzes nicht mag. Man lässt höchstens den ein oder anderen Regisseur gelten. In Frankreich setzt man sich differenzierter mit den eigenen Filmen auseinander. Manches lehnt man ab, anderes mag man ein bisschen und von einigen ist man begeistert. Natürlich gibt es auch bei uns einige, die pauschal sagen: Ich mag das französische kommerzielle Kino nicht oder das französische Kunstkino. Aber im Großen und Ganzen wird der eigene Film geschätzt. Das ist in Deutschland anders.

Warum?
Gras: Ein Problem ist, dass es in Deutschland zu wenig gut gemachte kommerzielle Filme gibt. Und dass diejenigen, die in die kommerziellen Filme gehen, kein Interesse am weniger kommerziellem Kino haben. Anscheinend gibt es da eine regelrechte Aversion zwischen beiden Lagern. Ich habe mich vor einiger Zeit mit einem Deutschen, der im kommerziellen Filmbusiness arbeitet, über Christian Petzold unterhalten. Er meinte, Petzolds Filme seien langweilig, niemand in Deutschland wolle sie sehen. – Das ist seltsam, es sind doch starke, gute Filme.
Aber auch in Frankreich werden manche französische Filmemacher von einigen abgelehnt. Nur würde man das niemandem gegenüber zugeben, den man nicht näher kennt.

Sie meinen, in Frankreich profiliert man sich nicht damit, dass man einen Filmemacher schlecht findet?
Gras: Man würden eher sagen: Okay, das ist eben etwas Anderes. Ein Vertreter des kommerziellen Kinos würde sagen: Die anderen verkaufen weniger Tickets als wir, aber ich habe trotzdem Respekt vor ihnen. In Deutschland scheinen die Grenzen zwischen dem Kommerz- und dem Intellektuellenkino fest zementiert zu sein. Bei uns beginnen die intellektuellen Filmemacher zwar auch mit geringen Budgets und kleinen Verkaufszahlen, aber sie wechseln nach ein paar Jahren oft zu eher kommerziellen Filmen. So findet eine Zirkulation von Talent statt. Jemandem wie Olivier Assayas ist es mittlerweile möglich, mit stärkeren Produzenten größere Filme zu machen, die dann auch von einem breiteren Publikum diskutiert werden.

Das ist eine Entwicklung, die auch Tom Tykwer gemacht hat. In Ihrem Buch gestehen Sie ihm zu, dass er mit „Lola rennt“ einen „Nerv getroffen“habe. Sie werfen ihm aber vor, er hätte „als Filmemacher kein künstlerisches Werk geschaffen“. Was meinen Sie damit?
Gras: Tom Tykwer ist ein sehr vielseitiger Regisseur, der höchst verschiedene Filme gemacht hat. Aber er steht für ein Phänomen, dass ich „Waisen-Filmen“ nenne. Er hatte nach „Lola Rennt“ keinen zweiten vergleichbaren internationalen Erfolg. Auch den Regisseuren von „Der Untergang“, „Good Bye Lenin!“ und„Das Leben der Anderen“ ist das nicht gelungen. Ich finde, Tykwers letzter Film „Cloud Atlas“, den er mit den Wachowski-Geschwistern gedreht hat, war sehr interessant und gelungen. Aber – zum Beispiel im Gegensatz zu Fatih Akin – gilt er bei uns nicht als deutscher Regisseur, der etwas über sein Land zu sagen hätte.

Nachdem französische Filme in den 1990er Jahren aus dem deutschen Kino fast verschwunden waren, sind zumindest Komödien aus Frankreich in den letzten Jahren konstant erfolgreich. „Ziemlich beste Freunde“ war vor zwei Jahren mit neun Millionen Zuschauern sogar der erfolgreichste Film des Jahres.
Gras: „Ziemlich beste Freunde“ war auch in Frankreich eine große Überraschung, ebenso wie „Monsieur Claude und seine Töchter“. Der hat in Frankreich 12 Millionen Tickets verkauft, in Deutschland immerhin noch knapp vier Millionen. Es ist seltsam, dass ausgerechnet diese Filme auch in Deutschland so erfolgreich sind. Sie erzählen auf eine sympathische, wenn auch nicht besonders intelligente Weise von den rassistischen Vorurteilen, die in Frankreich herrschen und wie mit ihnen umgegangen wird. Seit den 90er Jahren gibt es bei uns eine ganze Reihe solcher Komödien und alle paar Jahre ist einer von ihnen außerordentlich erfolgreich, angefangen von „Die Besucher“ bis hin zu „Willkommen bei den Sch’tis“. In Deutschland gibt es kaum Filme, die unterhaltsam mit Rassismus oder Vorurteilen innerhalb der Gesellschaft umgehen. Sie beschäftigen sich lieber mit den Unterschieden von Mann und Frau.

Was ist für Sie eigentlich ein guter Film? Beziehen Sie sich auf die Tradition der französischen Filmkritik oder gehen Sie nach Ihrem persönlichem Geschmack?
Gras: Es ist eine Mischung aus beidem. Ich sehe einen Film und ich weiß, ob ich ihn interessant finde oder nicht – und interessant bedeutet nicht automatisch, dass er auch gut ist. Ich stimme auch nicht immer mit den Kritiken der Zeitschriften Cahiers du cinéma oder Positif überein. Manche Filme sind technisch wirklich gut gemacht, aber haben nichts zu sagen, nichts über die Welt, nichts über das Kino oder über das, was der Regisseur im Kopf hatte. Dann denke ich: Was ist das? Es sind Bilder und Geräusche, aber das ist kein Film.

Good Bye FassbinderIn Deutschland wird im Feuilleton regelmäßig die Krise des deutschen Films ausgerufen. Zuletzt geschah das, als in Cannes 2015 wieder kein deutscher Beitrag lief…
Gras: Es ist in der Tat kein gutes Zeichen, dass es zwei Jahre hintereinander kein deutscher Film in eine Sektion in Cannes geschafft hat. Letztes Jahr wurde Christian Petzolds „Phoenix“ abgelehnt, warum auch immer. Ich finde, es ist ein faszinierender Film.

Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Cannes und Filmen aus Deutschland?
Gras: Ich bin mir nicht sicher, was die Leute in Cannes für Erwartungen an das deutsche Kino haben. Außerdem muss man ja sehen, dass in Cannes auch viele schlechte Filme gezeigt werden. Da geht es oft nicht nur um die Qualität, sondern um Ausgewogenheit des Programms. Die verschiedenen Interessengruppen sollen bedient werden. Das führt dann dazu, dass man im Zweifel anstelle von „Phoenix“ irgendeinen kleinen amerikanischen Film zeigt. Für die internationale Sichtbarkeit des deutschen Films ist das natürlich ein Problem. „Victoria“ wäre möglicherweise gut in Cannes gelaufen, aber der wurde vorher auf der Berlinale gezeigt, was für die deutsche Branche und das deutsche Publikum sicher eine gute Wahl war.

Über welche Tendenzen im eigenen Kino beschwert man sich heutzutage in den französischen Medien?
Gras: Über so etwas wie eine Filmkrise sicherlich nicht. Jedes Jahr gibt es hier 200 neue Filme. Es gibt allerdings eine Tendenz, dass das französische Fernsehen, das Filme in der Regel vorab kauft und dadurch ihre Finanzierung erst möglich macht, den Produzenten vorschreiben will, ihre Hauptrollen nur noch mit bekannten, teuren Stars zu besetzen, weil die kommerziell als „sichere Bank“ angesehen werden. Das geht letztlich zu Lasten des anspruchsvolleren Films. Bisher galt im französischen Film die Überzeugung: Wenn man das innovative Kino killt, gerät auch das kommerzielle Kino in Gefahr. Ich hoffe, dass das nicht langsam in Vergessenheit gerät.

Der Publizist Pierre Gras wurde 1960 geboren, in jenem Jahr als die Nouvelle Vague mit den ersten Filmen von Jean-Luc Godard und François Truffaut das Kino revolutionierte. Über 40 Jahre später, bei der Vorbereitung einer Reihe mit Filmen des mehr

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