Pierre-Laurent Aimard

Wir wollen doch nicht, dass alle Leute dieselbe Sprache sprechen, oder?

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard über seine Konzertprogramme, sein Engagement für die zeitgenössische Musik und unterschiedliche Musiksprachen

Pierre-Laurent Aimard

© Warner Classics

Herr Aimard, wenn Sie einen Klavierabend geben, stehen nicht selten sehr unterschiedliche Komponisten auf dem Programm, einer Beethoven-Sonate stellen Sie beispielsweise Werke von György Ligeti oder Charles Ives gegenüber. Haben Sie für jedes Ihrer Konzerte eine Art Konzept?
Aimard: Ja, ich arbeite sehr stark an meinen Programmen, wobei die Arbeit je nach Konzert in verschiedene Richtungen geht. Wenn ich zum Beispiel auf einem Festival für zeitgenössische Musik ein Konzert gebe, wird das Programm anders sein, als bei meinem nächsten Konzert in der Carnegie Hall – im übrigen ein sehr konservativer Ort für ein Konzert. Ich versuche, die Stücke nicht einfach zu addieren, wie das mit Bildern in einem schlechten Museum geschieht. Denn genauso wie in einem Museum der Raum, die Beleuchtung etc. stimmen muss, muss in einem Konzert auch die Umgebung für ein Werk stimmen. Es muss natürlich auch einen Sinn für mich machen, denn wenn mich ein Programm langweilt, wird das der Zuhörer merken. Und nicht zuletzt muss das Programm natürlich für das Publikum einen Sinn ergeben.

Nun sind Sie vor allem bekannt für Ihre großes Engagement für die zeitgenössische Musik – haben Sie schon zu Beginn Ihrer Ausbildung als junger Schüler moderne Musik gespielt?
Aimard: Ja, ich hatte das Glück, dass meine erste Klavierlehrerin sehr an Neuer Musik interessiert war, sie hat auch selber Musik für Theater komponiert. Sie war überhaupt eine interessante Persönlichkeit und ich habe mich von ihr gerne mit diesem Neue Musik-Virus infizieren lassen. Ich glaube, op.19 von Schönberg habe ich schon mit sieben Jahren gespielt und mit zehn Jahren zum Beispiel ein Stück von Henri Dutilleux. Ich habe auch sehr früh Noten und Aufnahmen von Stockhausen oder Boulez gehabt und bin oft in Konzerte mit zeitgenössischer Musik gegangen.

Sie haben mit Oliver Messiaen und György Ligeti zusammengearbeitet, teilweise sehr eng. Wie sehr hat diese Zusammenarbeit die Interpretation ihrer Werke beeinflusst?
Aimard: Der Einfluss ist natürlich sehr groß. Wenn Sie versuchen, einen Komponisten und seine Visionen, seine kulturelle Welt zu verstehen, dann können Sie sehr viel lernen. Und wenn Sie als Interpret die Stimme des Komponisten hören, dann spüren Sie auch seine Energie. Allerdings werden Sie einen Schöpfer nicht glücklich machen, wenn Sie immer nur wie ein Sklave seine Anordnungen befolgen. Komponisten benötigen Interpreten, echte Interpreten, die ihre eigene Kraft einbringen, ihre Vorstellungskraft und Emotionen, und schließlich auch ihre Präsenz auf der Bühne.

Aber kann es nicht auch passieren, dass der Komponist Sie zu sehr einschränkt in der Interpretationsfreiheit?
Aimard: Ja, aber ich versuche natürlich immer meine Freiheit zu behalten. Das ist auch ein Kampf, manchmal glauben die Komponisten, sie würden dich genug respektieren, aber entdecken dann später, dass sie zu weit gegangen sind. Oder es kommt vor, dass der Interpret zu weit gegangen ist – da muss man immer die richtige Balance finden.

Was unterscheidet Ihrer Meinung nach heutige Komponisten-Persönlichkeiten von großen Komponisten wie Mozart oder Beethoven?
Aimard: Ich glaube, da gibt es Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten. Unterschiede, weil sich natürlich die gesellschaftlich-kulturelle Umgebung verändert hat. Ein Anonymus im Spätmittelalter hatte sicher nicht dieselbe Art, sein persönliches Genie in der Gesellschaft auszudrücken, wie später ein Romantiker. Und am Ende der Romantik gab es sicherlich ganz andere Persönlichkeiten als zum Beispiel im Grand Siècle: ich glaube nicht, dass Charpentier oder Lully in der Gesellschaft den gleichen Status von akzeptierter Verrücktheit hatten, wie später ein Scriabin.
Was die Gemeinsamkeiten anbelangt, denke ich, dass ein Komponist oft nicht nur als Schöpfer sondern auch als Mensch eine starke Persönlichkeit hat, mit diesem Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit, auch im täglichen Leben. Beethoven beispielsweise wollte immer ein Mensch dieser individuellen Freiheit sein, weshalb er privat sehr direkt und unangenehm sein konnte. Und das ist ganz ähnlich bei Ligeti, der auch sehr oft sehr direkt ist, der auch den Mut hat, zu sagen: politische Korrektheit oder die Institution sind mir egal, ich sage, was ich denke, was ich fühle und was ich will.

Doch werden zeitgenössische Komponisten von der heutigen Gesellschaft viel weniger wahrgenommen, als beispielsweise Beethoven. Kein Werk eines zeitgenössischen Komponisten hat zum Beispiel die Akzeptanz gefunden, wie Beethovens Neunte Sinfonie, ein Werk das ständig aufgeführt und aufgenommen wird.
Aimard: Ich denke, da müssen wir ein bisschen aufpassen, denn diese ‚Akzeptanz‘ ist doch oft sehr oberflächlich; wenn sich die Leute Beethovens Neunte zum Feiern anhören, bei einem Glas Sekt und sich am meisten freuen bei der "Ode an die Freude", auch wenn sie gar nicht genau wissen, worum es da geht – da habe ich dann gewisse Zweifel. Beethoven hat in einer Zeit komponiert, in der es eine kollektive Sprache gab, die mit sehr einfachen Mitteln arbeitete und die allgemein verständlich war.

Ist denn die zeitgenössische Musiksprache zu komplex für die Gesellschaft?
Aimard: Ich würde nicht sagen, zu komplex, denn es gibt ja auch zeitgenössische Musik, die weniger komplex ist als meinetwegen Ockeghem. Es ist mehr das Problem wie beim Turmbau zu Babel, jeder spricht heute seine eigene Sprache. Um Haydn, Mozart und Beethoven zu verstehen, müssen Sie nur eine Sprache sprechen können. Aber für Ligeti, Boulez und Messiaen brauchen Sie schon drei Sprachen. Das finde ich aber auch wunderschön, denn das ist der Zustand der Welt mit ihren vielen verschiedenen Kulturen und Sprachen. Wir wollen doch nicht, dass alle Leute dieselbe Sprache sprechen, oder?

Wenn man Sie als Botschafter dieser vielen verschiedenen Sprachen betrachtet – wo sehen Sie Resultate Ihrer Arbeit?
Aimard: Ich habe zum Beispiel dieses Jahr in New York zwei Klavierabende gegeben, den einen nur mit Werken von Messiaen, den anderen mit Charles Ives und Elliot Carter, also nicht gerade leichte Kost. Aber beide waren ausverkauft und das zeigt mir, dass diese Arbeit Früchte trägt. Es ist heute möglich, dass ich Werke zeitgenössischer Komponisten aufführe und 1500 Leute hören vom Anfang bis zum Ende des Konzerts konzentriert zu. Da gibt es im Publikum eine gewisse Neugier – und mit der müssen Sie als Interpret arbeiten.

Ein Kommentar zu “Wir wollen doch nicht, dass alle Leute dieselbe Sprache sprechen, oder?”

  1. keinname |

    Aimard. Einfach genial!

    Ich halte Pierre-Laurent Aimard für einen der genialsten zeitgenössischen Musiker. Gerade was er von den verschiedenen Musiksprachen erzählt, ist sehr wahr…

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