Herr Grebe, Sie arbeiten heute als Autor, Musiker und Kabarettist. Was war für Sie und Ihre Arbeit die wichtigste Schule, abgesehen vielleicht von Ihrem Puppenspiel-Studium an der Schauspielschule „Ernst Busch“?
Rainald Grebe: Das ist immer schwer zu sagen, woher das alles kommt. Es hat sicherlich mit meiner Kindheit und den Eltern zu tun, dieses irgendwo hinwollen‚ was los zu machen, gegen etwas aufzubegehren. Letztlich sind diese ganzen Stationen alle wichtig. Ich war ja auch in der Psychiatrie, sozusagen als Gegenmodell von Zuhause…
Sie haben Ihren Zivildienst in einer psychiatrischen Anstalt abgeleistet.
Grebe: Ja, das hat mich maßlos beeindruckt und auf den Weg gebracht. Auch wie ich heute spiele und schreibe, das kommt maßgeblich aus der Klapse.
Ernsthaft?
Grebe: Ja, das glaube ich schon, das weiß ich. Wenn man sich manisch-depressive Leute anschaut oder Psychotiker, wie die reden, wie die drauf sind, diese Hyperzustände, das bruchlose Sprechen von Weisheit und Nonsens hintereinander – das war für mich schon eine Lebensschule, die gleichzeitig das Schreiben oder die Kunst maßgeblich beeinflusst hat. Auch dieses Absuchen der Ränder, dieses Abseitige.
Wie haben Sie die Patienten damals erlebt?
Grebe: Ich habe das alles mitgeschrieben und aufgesogen, ich habe es auch als Theater gesehen, nach dem Motto „Was kriege ich hier alles geboten?“. Ich bin da in einer geschlossenen Abteilung, jeden Tag wird jemand neues eingeliefert, und ich kann mir den anschauen. Ich durfte mir die Krankenakten durchlesen, was eigentlich nicht üblich ist, ich hatte dann irgendwelche entmündigten Menschen vor mir. Ich war wie besessen und konnte das alles nachlesen, manche Krankenakten waren noch mit „Heil Hitler!“ unterschrieben, so Langzeit-Leute. Da konnte man Biographien tanken, das war alles wie so ein Theaterspiel. Ich war ja auch total blauäugig, habe dann Dinge gesagt wie „Die wahren Verrückten, das sind die Normalen“ oder „Die Pfleger sind die Schlimmen!“ Ich habe mich auf deren Seite gestellt, mich mit ihnen identifiziert.
Beeindruckt war ich von Leuten, die gedichtet haben, allerdings nur wenn sie ‚drauf’ waren, also in der Psychose, meine ich. Diese Wechsel von einem sehr stumpfen Dasein – wenn man sozusagen normal ist – und wenn man dann drauf ist, wie die Welt dann durcheinander geht.
Und so etwas haben Sie dann mitgeschrieben?
Grebe: Ja, ich habe aufgeschrieben, was die so gesagt haben, diese Sätze. Ich habe mich gefragt: „Wo kommt das denn her?“ Und dieses Nicht-Übergeleitete und Bruchlose, das ist eine Methode, die ich heute sehr stark bei meinen Liedern und Programmen benutze.
Wie muss man sich das vorstellen, wenn Sie heute ein neues Programm schreiben. Sprudeln die Texte und Ideen dann nur so aus Ihnen heraus?
Grebe: Also, wenn ich ein Solo-Programm schreiben muss und weiß, in drei Monaten gibt’s ’ne Premiere, dann sprudelt das erstmal nicht unbedingt. Das schiebt sich eher so, ich arbeite ja sehr intensiv an solchen Sachen. Und dann gibt es aber so eine Art Druckbetankung, da schreibe ich meine Programme dann innerhalb von sechs Wochen und probe die gleichzeitig. Insofern bin ich eigentlich doch sehr schnell. Aber ob da was sprudelt weiß ich nicht, das schiebt und drückt sich an allen Ecken und Enden und ich sauge alles auf.
Manchmal sprudelt es aber auch gar nicht, dann hänge ich an einer Zeile mehrere Tage. Gerade bei Songs passiert mir das manchmal.
Wie lange haben Sie denn für Ihren Hit „Brandenburg“ gebraucht?
Grebe: Drei Tage. Songs dauern bei mir, wenn es normal läuft, drei Tage. Kann man ja mal so sagen. Andererseits stimmt es nicht ganz, weil ‚normal’ ist selten. Manchmal denkst du nach einer Zeile „Geile erste Strophe!“ und dann kommt gar nichts mehr, oder es wird einfach nicht besser, je länger man da sitzt. Manchmal geht es in einem Rutsch, habe ich auch schon gehabt, „Blaues Blut“, so ein altes Schlaflied, das war nach einer Stunde da. Einfach eine Zeile nach der nächsten – so wünscht man sich das ja immer. Aber dann gab es auch so Bruchstücke, da habe ich bestimmt drei Wochen an irgendwas gesessen, und da kam nichts raus, da war dann nur ein Satz gut. Das passiert halt auch. Das kann man nicht planen, leider. Oder zum Glück.
Aber was tun Sie aktiv dafür, damit Ihnen Ideen kommen? Gehen Sie raus, um bewusst zu beobachten…
Grebe: „Bewusst beobachten“, das ist auch ein schönes Wort (lacht) Ich bin eher so quartalsweise unterwegs, wenn der Premierentermin kommt und ich weiß: „Jetzt muss ich!“. Dann gehen die Schleusen auf. Da steckt dann auch viel Arbeit drin. Auf der Bühne darf es halt nicht nach Arbeit aussehen, aber ich arbeite in diesen Phasen rund um die Uhr, ich mache dann nichts anderes, wie blöde. Auch diese Kleinigkeiten, die ja oft wichtig sind, so Details, das ist dann nur in diesen Phasen. Also, ich schreibe jetzt nicht dauernd irgendwas mit, eher gar nicht. Ich habe da ein sehr verschlossenes Leben, ich mache auch keine Fotos von irgendwas.
Aber wenn Sie beispielsweise über den Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg schreiben, dann basiert das doch auf bestimmten Beobachtungen vor Ort, wo Sie genau beobachten, recherchieren…
Grebe: Klar, in den Phasen mache ich das dann auch sehr bewusst. Ich habe auch schon recherchiert. Bei „Der Präsident“ war ich im Schloss Bellevue und bin da rumgelaufen. Recherche ist immer dabei, klar.
Und ins Schloss Bellevue hat man Sie einfach so reingelassen?
Grebe: Ja, das war beim „Tag der offenen Tür des Bundespräsidenten“.
Ein Markenzeichen von Ihnen ist auch das Klavierspiel in Ihren Songs, gehämmerte Akkorde, kuriose Harmoniewechsel – wie entstand diese Klavierbegleitung?
Grebe: Das ist rein stümperhaft, das muss man wirklich sagen. Ich bin kein guter Pianist, ich haue nur Akkorde rein. Das ist so, ich strenge mich auch gar nicht an, da besser zu werden, weil ich ja weiß, wie gut man sein kann, und das werde ich eh nie schaffen. Deshalb ist das wirklich ganz reduziert auf Akkorde. Ich spiele auch immer schlechter als ich es eigentlich könnte.
Sie spielen absichtlich schlechter?
Grebe: Ja, weil ich festgestellt habe, je besser oder je mehr ich spiele,… – das brauchen die Songs gar nicht, das passt irgendwie nicht. Das muss ganz einfach sein. Ich weiß schon, was so ein Kreuz-8/9-Akkord ist, aber dann spiele ich den beim komponieren, und merke, das ist zu kompliziert.
Auf der anderen Seite sind die Lieder jetzt auch nicht total einfach, irgendwo gibt es immer einen komischen Akkord oder eine komische Wendung, die Sachen haben schon alle so Haken. Gerade bei „Brandenburg“, das sind ja 30 Akkorde, das ist dann eben doch komplexer, aber es muss sehr einfach klingen. Sobald da irgendwie Jazz oder Blues drin ist, passt das nicht zu meiner Stimme, oder ich will es nicht haben.
Auf Ihren Konzerten sind viele verschiedene Musiker auf der Bühne, es gibt Kostüme, Requisiten und immer ein bisschen Chaos. Ist es schwierig dieses Chaos zu arrangieren, schwieriger als ein geordnetes Setting?
Grebe: Das Chaos ist nicht von vorneherein da, sondern die ersten Ideen sind eigentlich oft sehr geordnet. Aber dann merkst du, das ist langweilig – und dann muss man halt Mittel und Wege finden, es so hinzukriegen. Insofern ist das schon die Arbeit, letztlich. Wenn man am Anfang die ganzen Ideen hintereinander baut, langweilt man sich erst mal zu Tode und dann guckt man, dass man Sachen abbricht, Sachen verschmiert, bis man in so einen Zustand kommt, wo man sagt: Der ist chaotisch und unsauber. Das Unsaubere ist oft viel interessanter.
Sobald irgendetwas klar oder logisch ist, langweilt es mich sofort.
Warum ist das so?
Grebe: Tja, warum? Ich merke das bei meinen Songs: Sobald irgendetwas klar oder logisch ist, langweilt es mich sofort. Dann weiß jeder, was gemeint ist und sagt: „Vielen Dank auch!“ Dagegen diese Schwebezustände oder Unklarheiten, wenn es Bezüge hat, wo man im Unklaren gelassen wird – da muss man erstmal hinkommen. Das ist natürlich auch eine Geschmacksfrage, aber mein Geschmack ist halt so. Ich frage mich: Wie sehe ich die Welt, wie erlebe ich sie?
Und zu welcher Antwort kommen Sie ?
Grebe: Für mich ist sie unsauber und sehr unklar, viel chaotischer noch, wo ich denke, dass unsere Show noch viel zu wenig chaotisch und viel zu wenig heftig ist.
Das Komische ist aber: Man will ja irgendwas aussagen, und wenn man das versucht, ertappt man sich oft dabei, dass man sagt: „Lieber erstmal strukturiert.“ Doch dann merkt man: Das stimmt so nicht, ist viel zu langweilig und zu billig, um der Komplexität der Welt in irgendeiner Form hinterherzukommen. Darum geht es in diesen ganzen Versuchen.
Sie wollen also nicht nur das Publikum unterhalten, sondern sich auch selber abarbeiten an der Komplexität der Welt?
Grebe: Ja, na klar. Das ist immer ein Sich-ins-Verhältnis setzen. Das ist bei jedem Ding so, egal welches Thema ich mir vornehme. Die Prozesse sind dann doch recht ähnlich, bei jedem Stück, bei jedem Stoff, bis man sich ins Verhältnis setzt, so dass man Reibung erzeugt, sich selbst auch in Gefahr bringt, wo man selber nicht weiter weiß. Das sind immer die interessanten Momente.
Bundesweit bekannt wurden Sie vor allem mit Ihren Hymnen auf die Bundesländer Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Was glauben Sie, macht den Reiz dieser Stücke aus?
Grebe: Es gibt ja diesen Begriff der Glokalität, also dieses konservative Zurückgehen auf etwas Regionales, auf die Steckrübensuppe, das hat so einen gewissen Witz. Eigentlich ist das Bewusstsein WWW, aber dann geht man dann plötzlich auf diese lokalen Dinger und dabei trifft man ja komischerweise auch was. Daraus entsteht dieser Reiz. Einerseits leben wir in einer absolut zerstäubten, globalisierten Welt, und dann sagst du plötzlich „Kassel“. Du behauptest noch einen Ort, der so eigentlich gar nicht mehr existiert, der zu irgendeinem Pixel auf der Landkarte geworden ist. Und genau in diesen Widersprüchen leben wir, dass man sich – wenn überhaupt – nur noch mit einem Ort anfreunden kann, aber nicht mehr mit einer Nation, mit Europa, das ist alles viel zu groß. Daher kommt diese Sache mit der Provinzialität, das man lieber mal zurückgeht und nachschaut, wo es Widerstände gegen dieses WWW-Bewusstsein gibt, oder wo es die Leute einfach nicht schaffen, WWW zu sein, wo es diese Abstürze gibt.
Was genau meinen Sie, wenn Sie von diesem WWW-Bewusstein sprechen?
Grebe: Es geht darum, was der Computer mit einem macht. Mit einem Klick bist du ganz woanders, jedes Ding hat gleichzeitig deine Hyperlinks innen drin. Ich als Zigeuner oder als Reisender könnte jetzt sagen: Was ist denn Kassel für mich? Das ist irgendein Ort, wo ich mal bin und dann wieder weg bin. Wenn du dann aber plötzlich auf Leute triffst, die noch so etwas behaupten, einen Ort oder einen Dialekt, die es sich irgendwo schön machen, sich da einrichten, dann ist das ein Widerstand gegen jenes Lebensgefühl, was ich jetzt als allgemeingültig oder zukünftig behaupte.
Bis vor kurzem sind Sie nur in Berlin und den umliegenden Bundesländern aufgetreten. Inzwischen stehen auch Mannheim, Köln und Nürnberg auf dem Tourplan. Ein bewusster Schritt?
Grebe: Ja, die Zukunft heißt Goethe-Institut, ich will in die Welt. Das habe ich ja letztes Jahr auch gemacht, vollkommen ohne Sprache oder auf Suaheli Theater spielen in Afrika. Das Regionale wird mitgenommen, es gibt den Reiz, damit zu spielen, aber eigentlich muss es noch mehr in die Welt gehen.
Gibt es die Befürchtung, dass der Massenerfolg Ihre Kunst verändert?
Grebe: Befürchtungen? Ja, da muss ich immer aufpassen. Aber ich glaube es eigentlich nicht. Ich bin mir recht sicher, dass ich mir da treu bleibe. Ich wüsste auch gar nicht, wie das geht, dass man so zielgruppenmäßig arbeitet, sondern die Wahrheit ist auf dem Papier. Die Zeile zählt, egal ob da jetzt viele sitzen oder nicht. Ich schreibe jetzt nicht ein Lied für eine Arena, das geht gar nicht. Das ist unmöglich.
Aber Ihr Konzert in der Waldbühne im vergangenen Sommer steht schon dafür, dass das alles größer werden soll, oder?
Grebe: Was heißt soll? Das war auf jeden Fall mal so ein Wunsch, das hat sich auch so ergeben. Es hat sich bis jetzt so ergeben, dass immer mehr Leute gekommen sind, während ich immer meine Liedchen geschrieben habe. Und als die Möglichkeit bestand, in der Waldbühne zu spielen, habe ich gesagt: „Ich würde das gerne machen!“
Es stimmt schon, diese große Pose habe ich auch irgendwie drin. Und das war halt geil, vor diesen vielen tausend Leuten rumzuspielen. Aber ich möchte das andere auch nicht missen, die hundert Leute im kleinen Saal.
Gab es denn Momente, wo sie bewusst gesagt haben: „Ich gehe den nächsten Schritt nicht!“ Ein Zitat von Ihnen ist ja „Ich bin so gerne bei der Unterschicht!“…
Grebe: Nein, so einen Moment gab es nicht. Es kamen eben Angebote wie: „Willst du in der Waldbühne spielen?“ – „Ja.“ „Willst du im Admiralspalast mit einem Orchester auftreten?“ „Ja, mache ich.“. Das war bis jetzt immer „Ja“, „finde ich gut“ oder „kann ich mir vorstellen“.
Im Mai diesen Jahres habe ich aber auch gesagt, ich spiele in kleinen Klitschen, ich will mal wieder in Studentenclubs spielen. Das war total reizvoll.
Hat „Wetten dass…?“ schon mal bei Ihnen angefragt?
Grebe: Ja.
Und Ihre Antwort war?
Grebe: Nein.
Warum nicht?
Grebe: Passt glaube ich nicht.
Im Fernsehen haben Sie wahrscheinlich schon viele Angebote abgelehnt…
Grebe: Ja, auch das. Ich habe auch viele angenommen.
Frühstücksfernsehen zum Beispiel.
Grebe: Ja, volle Kanne. (lacht)
Ist der Erfolg ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann?
Grebe: Doch, dem kann man sich entziehen, aber es ist auch ein Sog, das stimmt schon. Da kommen ganz andere Kräfte, wie zum Beispiel so ein Interviewtag heute. Deshalb sind die Momente, sich zurückzuziehen heute wichtiger.
Und Sie schaffen es, sich zurückzuziehen.
Grebe: Bis jetzt ja. Um einen Text zu schreiben brauche ich Ruhe. Wo kriege ich die sonst her?