Herr Schmerberg, wie kam es zu der Idee für „Poem“, einen sowohl formal als auch inhaltlich sehr ungewöhnlichen Spielfilm?
Schmerberg: Die Idee dafür hatte ich schon lange: Ich denke, es war eine Reaktion auf unsere reizüberflutete und schnelllebige Zeit – wir werden satt gemacht, verlieren unsere zwischenmenschlichen Gaben und ignorieren unsere emotionale Seite. Ich hatte das Gefühl, etwas zur Suche nach neuen Werten oder vielmehr auf der Wiederentdeckung verloren gegangener Werte beisteuern zu müssen.
Weshalb wählten Sie die Form des Gedichts als Spielfilmvorlage?
Schmerberg: Gedichte zwingen zum Verweilen. Sie können nicht beiläufig wahrgenommen werden, sondern man muss sich mit ihnen auseinander setzen. Lyrik besitzt eine außergewöhnliche, ja metaphysische Kraft. All die Seele eines Autors spiegelt sich in seinen Gedichten wieder. Lyrik ist die äußerste in Wort gefasste Reduktion eines Lebensausdrucks. Zudem entschleunigt die Beschäftigung mit einem Gedicht den Leser oder Zuschauer in unserer von Tempo dominierten Zeit. Lyrik verlangt einen langsamen Rezeptionsprozess. In gewisser Weise ist es schon fast ironisch, dass ausgerechnet die Video-Clip artig angelegte Form von „Poem“ zu Besinnlichkeit anregt.
Wie weit hat die Arbeit zu „Poem“ Ihr eigenes Leben beeinflusst?
Schmerberg: Nun, mein Leben brachte mich zur Produktion von „Poem“ und „Poem“ gestaltete mein Leben während dieser Zeit: Wir drehten „Poem“ über mehrere Jahre hinweg an unterschiedlichen Drehorten weltweit, teils unter schwierigen klimatischen und technischen Bedingungen. Oft waren wir mit unseren Kräften am Ende – was wiederum zu einem kreativen Schaffensprozess führte: Krise ist ja oft die Stunde der Kreativität, der Evolution – oder führt zu einem Ende, in jedem Fall führt eine Krise aber zu einem Ergebnis. Das hat dieser Film mit seinen Gedichten gemeinsam: Viele der Autoren schrieben ihre Gedichte in Abschnitten schwerster Lebenskrisen, brachten ihre Ängste, ihre Hoffnungen und die Spannungen ihrer Zeit darin zum Ausdruck. Die eigene Erfahrung solcher Spannungen, ja Krisen, hat diesem Film zusätzlich zu einer hohen Dichte und Authentizität verholfen. Doch, man könnte sagen, dass die Arbeit zu „Poem“ zu einer persönlichen Weiterentwicklung geführt hat, oder dass „Poem“ der Ausdruck dieser Weiterentwicklung ist, je nachdem, welchen Standpunkt man ein nimmt.
Vielleicht macht man sich durch diese biografische Nähe, die dieser Film vermittelt, auch ein Stück weit angreifbar, vielleicht entwickelt man auch eine gewisse Stärke und Souveränität durch diese Nähe. Wie auch immer, Ich denke, dass diese Leidenschaft, die in dem Film steckt, auch für den Zuschauer spürbar wird.
Der Film ist in einzelne Passagen unterteilt. Ein durch den Himalaya wandernder Mönch, der seinen Vater auf dem Rücken transportiert, bildet als einzige Sequenz eine Art roten Faden, der durch den Film führt. Ist das nicht irritierend für die Zuschauer?
Schmerberg: Vielleicht wirkt es irritierend, das glaube ich aber nicht. Ich denke, man muss sich ohnehin vollkommen auf diesen Film einlassen, wie auf jeden Spielfilm, der uns in eine andere Welt führt. Die Bilder zeigen zwar eine sichtbare Welt, ob Himalaya oder Meeresküste, doch sie illustrieren ja vielmehr eine andere, viel intimere Welt, nämlich die der Autoren. Ich denke, dass die Form, wie die Gedichte sowohl von Kamera als auch von Darstellern interpretiert wurden, unter visueller Hinsicht die realisierbarste war. Die einzelnen Sequenzen sprechen zwar für sich selbst, ergeben aber einen lyrischen Gesamtkontext. Inhaltlich wäre es auch kaum anders zu lösen gewesen, schließlich benutzten wir keine einheitliche Romanvorlage, sondern verschiedene Gedichte verschiedener Autoren, geschrieben zu verschiedenen Zeiten.
Für „Poem“ wurde viel mit Handkamera gedreht, charakteristisch ist die perspektivische Abfolge von Close-Ups, Halbtotale, Totale und wieder Close-Ups. Von Klaus Maria Brandauer wurde praktisch nur eine Naheinstellung gedreht, in der harte Kontraste und lichte Schatten dominieren. Das muntere Treiben in einer Berliner Sozialwohnung, wo Jürgen Vogel den Familienvater spielt, erinnert an die Arbeiten der Dogma-Regisseure. Stand Dogma für die Kameraarbeit Pate?
Schmerberg: Nun, zunächst einmal Respekt für die Leistungen der Dogma-Regisseure wie Thomas Vinterberg, die ich sehr schätze, aber nein, Dogma stand keinesfalls Pate. Vielleicht haben sich unsere Sehgewohnheiten dank Dogma so verändert, dass wir bestimmte Bilder nun mit Dogma assoziieren. An Dogma stört mich vor allem der Begriff „Dogma“: Wieso sollen nur bestimmte Regeln für die Fertigstellung eines Films gelten? Ich denke, ein Film orientiert sich zunächst an der konzeptionellen Umsetzung einer Vorlage, eines Drehbuchs und dann natürlich am Budget. Das vorhandene oder nicht vorhandene Budget zwingt uns, bestimmte Situationen kreativ zu meistern – da haben wir wieder die schöpferische Krise. Allerdings sollten nicht qua Re bestimmte Regeln aufgestellt werden, die uns künstliche Barrieren setzen. Ich bin kein Freund von dogmatisch gebildeten Regeln, überhaupt nicht. Unser Team hat mit verschiedenen Kameramännern wie Robby Müller oder Franz Lustig gearbeitet, denen ich am Set eine freie Hand zu ihrer Interpretation ließ. Das Resultat ist ein äußerst vielschichtiges Kamerabild auf der Leinwand. Ich sagte ja, es gab kein Dogma, es gab keine inhaltliche Kohärenz zwischen den einzelnen Gedichten, außer ihrem intimen und emotionalen Charakter.
So ist dieser Film, was er ist: Poem!
Die Interpretation des Gedichts „Tenebrae“ von Paul Celan fand zur Karwoche in Andalusien statt. Wie entstanden diese kraftvollen Bilder?
Schmerberg: Die gezeigte Osterprozession ist eine Montage verschiedener Bilder der Semana Santa, unter anderem aufgenommen in Sevilla, Málaga und Cádiz. Vielleicht entstand die Intensität dieser Aufnahmen auch auf Grund meiner eigenen Verbindung zu Spanien, dem Heimatland meiner Frau. Hier sind Aspekte unserer eigenen Biographie zum Ausdruck gekommen, insbesondere im Verhältnis zur katholischen Kirche, die jeden Spanier, ob er will oder nicht, stark geprägt hat. Ich persönlich halte viel vom Buddhismus, dem ich mich sehr zugewandt habe.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Verleih Ottfilm?
Schmerberg: Bevor ich an Ottfilm herantrat, wollte ich erst den größten Teil der Arbeit selbst realisieren, also mit Happy Trigger Productions und Radical Media. Ich habe dann Christoph Ott, den Geschäftsführer, als einen sehr menschlichen, besonnenen aber auch experimentierfreudigen Menschen kennen gelernt, was im Filmgeschäft leider nicht allzu häufig vorkommt und ihn als idealen Partner für „Poem“ vorgeschlagen. Christoph Ott hat maßgeblich zur Realisierung und Distribution von „Poem“ beigetragen und ich denke, wir werden auch in Zukunft wieder zusammen arbeiten.
Nun zu Ihnen Herr Vogel, Sie spielen in einer „Poem“-Episode zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Nach grauen Tagen“. Wie gerieten Sie in die Rolle des Familienvaters?
Vogel: Nun, erst mal fand ich die Idee geil, als mir Ralf erzählte, er plane einen Film, der verschiedene Gedichte zeigt – so was hat’s noch nicht gegeben. Dann dachte ich: „Mensch stimmt, ich habe ja selber mit Gedichten nicht so viel am Hut, wenn man das mal filmisch interpretiert und dazu noch eine Geschichte erzählt, zu jedem Gedicht eine Geschichte mit anderen Leuten, dann passiert da mehr als nur beim Lesen. Was die Vaterrolle betrifft: Tja, ich bin ja selber mehrfacher Familienvater. Außerdem hat mich die Situation sehr an meine eigene Kindheit erinnert: Ich hatte prima Eltern, aber Geldnot war auch immer ein Faktor, so wie in „Nach grauen Tagen“ gezeigt – ich kann vor allem aus heutiger Sicht heraus meine Eltern nur dafür bewundern, wie sie uns alle hochgezogen haben.
Also finden auch Sie einen sehr emotionalen Zugang zu „Poem“?
Vogel: Ja, unbedingt, der Film ist sehr intim, das spürt man auch!
Wie sehr spürt der Zuschauer diese Intimität?
Vogel: Zunächst einmal stellt sich bei „Poem“, wie bei jedem anderen Spielfilm die Frage: Berührt es mich oder berührt es mich nicht? Jedes einzelne Gedicht ist ganz individuell entstanden. Es gibt Menschen, die berührt das und andere eben nicht. Da dieser Film mit so vielen Gedichten zu tun hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er Menschen berührt, ziemlich groß. Viele verschiedene Menschen haben aus ihrer eigenen kleinen Welt etwas eingebracht. So erlebt jeder Zuschauer, dass er mit seinen Problemen, Sorgen oder auch seinem Glücksgefühl nicht alleine ist, wenigstens gibt es Menschen, denen es ähnlich geht.
Wie würden Sie als Zuschauer „Poem“ empfinden?
Vogel: Ich mag das, wenn Leute nicht Filme gucken müssen, in denen alles präsentiert wird, wie bei James Bond: Man läuft durch, da ist der Anfang, da das Ende und zum Schluss kommt der Showdown, dann gehen die Leute nach Hause. Es ist gut, wenn es Filme gibt, bei denen man ein bisschen mitarbeiten muss: hier ist es ein bisschen anstrengend, dann schön, dann wird man traurig, dann passiert wieder was. Das finde ich besser. Es begeistert, wenn Kino sich so präsentiert.
Haben Sie nun Lust bekommen, selbst einmal Gedichte zu verfassen?
Vogel: Ach i wo, ich bin Schauspieler, nicht mehr und nicht weniger. Das Schreiben überlasse ich anderen, die Intello-mäßig mehr drauf haben. Ich begegne Gedichten jetzt sicherlich sensibler als früher – trotzdem komme ich kaum dazu, welche zu lesen, schade, aber vielleicht später, mit mehr Zeit …
Hat die Arbeit an diesem Film Ihre weitere berufliche Entwicklung beeinflusst?
Vogel: Also, ich hatte ja, was die Entbehrungen und Mühen an so vielen verschiedenen Drehorten betrifft, fast den einfachsten Part bekommen: Nämlich mitten in meiner Heimat Berlin! Da kann ich ja von Glück sagen, dass das nicht so anstrengend war. Oder war’s Pech? Schließlich wäre ich auch gerne nach Rio gefahren (lacht), aber, na gut. Nee, ich denke, dass die Arbeit für „Poem“ auf jeden Fall ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung war. Zusammen mit Regisseur Matthias Glasner habe ich ja die „Schwarzweiß“-Filmproduktion gegründet, welche ein Augenmerk auf besondere Produktionen setzt und werde somit auch in Zukunft hoffentlich anspruchsvolle Filmprojekte realisieren, klar. Also, der Vogel fliegt dorthin, wo das Nest gebaut wird, auf jeden Fall (lacht).