Ranga Yogeshwar

Das Neue entspringt nicht aus dem Mainstream.

Anfang Oktober hat der Wissenschaftler und TV-Moderator Ranga Yogeshwar sein neues Buch „Nächste Ausfahrt Zukunft“ veröffentlicht. Im Interview spricht er über Jodtabletten, den Nordkorea-Konflikt, Wissensvermittlung im TV, seinen Freund Frank Schirrmacher, die Zukunft der Privatsphäre und Algorithmen für Partnersuche.

Ranga Yogeshwar

© Maria Berentzen

Herr Yogeshwar, in Aachen sind jüngst Jodtabletten zum Schutz der Bevölkerung verteilt worden. Sie wohnen in der Nähe von Köln und kennen sich mit Atom-Technik sehr gut aus. Haben Sie auch Jodtabletten zu Hause?
Yogeshwar: Nein, habe ich nicht. Im Falle
einer atomaren Katastrophe hätten wir ganz andere Sorgen als Jodtabletten. Diese Verteilung erinnert mich an Kurse, die es in Zeiten des Kalten Krieges gab. Damals wurde geraten, sich nach der Zündung einer Atombombe unter einen Tisch zu ducken, was ziemlich sinnlos ist. Dieses „Duck and cover“ wurde sogar in Schulen geübt. Angst hilft uns nur selten weiter. Ich wohne zum Beispiel in der Nähe von Bonn. Dort gibt es eine große Raffinerie. Der Katastrophenplan im Falle eines Unfalls reicht bis nach Frankfurt. Ich hätte also gute Gründe, permanent panisch zu sein. Aber es ist besser, Risiken mit Vernunft zu begegnen als mit Angst. Dennoch gibt es zu viele uralte kerntechnische Anlagen. Sie gehören auf Dauer abgeschaltet.

Aktuell wird viel darüber diskutiert, dass Nordkorea aufrüstet und möglicherweise im Besitz von Wasserstoffbomben ist. Wie schätzen Sie das ein?
Yogeshwar: Im Moment erlebe ich eine fast hysterische Thematisierung Nordkoreas. Ich frage mich, ob es dabei tatsächlich um Nordkorea oder nicht in Wirklichkeit um etwas ganz Anderes geht. Warum werden die Waffentests plötzlich so stark kommuniziert, wobei es sie doch Jahre zuvor auch gab? Nun ist die Rede von einer Wasserstoffbombe und man sieht Kim Jong-un neben einem „Aluminiumkessel“ – so sieht aber nicht unbedingt eine Wasserstoffbombe aus. Ich bin da eher skeptisch.

Was vermuten Sie denn, worum es in dem Konflikt geht?
Yogeshwar: Die USA haben ein Rüstungsbudget von 700 Milliarden US-Dollar im Jahr. Dadurch ist ein enormer industrieller Komplex entstanden. Diese Waffenlobby fordert ihre Daseinsberechtigung. Es ist gefährlich, wenn solche Budgets zu groß sind, denn sie erzeugen die Notwendigkeit von Konflikten als Legitimation der eigenen Existenz. Auch Deutschland produziert Waffensysteme. In ähnlicher Weise debattieren wir nun darüber, den Wehr-Etat in Deutschland auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen. Ich bin stur dagegen. Die Zeiten der perversen Hochrüstung sollten endgültig vorbei sein. Das Geld kann weit vernünftiger eingesetzt werden.

Es gibt eine Theorie, dass Nordkorea eine Bombe in der Luft über den USA zünden könnte, um durch elektromagnetische Strahlung Schäden anzurichten. Wie ist das einzuordnen?
Yogeshwar: Enrico Fermi hat diesen Effekt bereits bei der Zündung der allerersten Atombombe vorhergesagt. Es kommt dabei zu Ladungsverschiebungen, in deren Folge eine starke elektromagnetische Strahlung entsteht. Bei dieser Strahlung spricht man von EMP, von einem elektromagnetischen Puls. Dieses Szenario, mit der Zündung einer Atombombe in der Atmosphäre die Elektronik einer Region zu zerstören, stammt aus den 1980er Jahren, als man über einen „Krieg der Sterne“ nachdachte. Seit dem Kalten Krieg gibt es aber auch gehärtete elektronische Systeme, die einem solchen Angriff widerstehen können.

Halten Sie denn einen EMP-Angriff für möglich?
Solche Fragen erinnern mich an die Szenarien des Kalten Krieges und an die Phase nuklearer Hochrüstung. Damals wurden ähnliche Ängste propagiert. Ein EMP-Schlag bedeutet einen nuklearen Konflikt. Doch nukleare Kriege sind keine Option mehr. Auch konventionelle Kriege sind kein Mittel, das zeigen doch die Beispiele Irak, Syrien etc.. Es ist an der Zeit, unser Verteidigungssystem grundsätzlich zu ändern. Die Rüstungsbudgets müssen weltweit drastisch gekürzt werden.

Zitiert

Mündigkeit ist eben auch anstrengend.

Ranga Yogeshwar

In Ihrem neuen Buch („Nächste Ausfahrt Zukunft“) warnen Sie davor, dass Deutschland die Ausfahrt in die Zukunft verpassen könnte. Was meinen Sie damit?
Yogeshwar:
Wir brauchen in Deutschland viel stärker eine Kultur des Neuen. Wir ruhen uns an vielen Stellen auf den Errungenschaften der Vergangenheit aus. Dieser Erfolg führt zu einer gefährlichen Selbstgefälligkeit. Das ist zum Beispiel in der Autoindustrie der Fall. Wir wissen, dass sich die Mobilität in den Städten ändern wird. Trotzdem passiert hier zu wenig, vor allem vor dem Hintergrund, dass wir innovative Ingenieure mit falschen Aufgaben betrauen. Wo bleibt die große IT-Initiative in diesem Land? Es ist an der Zeit, uns neu zu definieren. Wir haben jede Menge Potenzial, aber ich mache mir Sorgen, dass wir tatsächlich die Ausfahrt in die Zukunft verpassen könnten.

Brauchen wir mehr Mut in Deutschland?
Yogeshwar:
Es muss mehr Mut zur Unbequemlichkeit geben. Wir müssen raus aus unserer Komfort-Zone. Es ist immer schwierig, die Menschen für etwas zu gewinnen, das es noch nicht gibt. Aber die hohe Kunst in einer Welt des Wandels besteht darin, Zukunft zu denken. Dafür brauchen wir eine Kultur der Fantasie und des Zuhörens. Wenn man es herunterdekliniert ins Politische: Ich sehe Frau Merkel im Dialog mit etablierten Industrievertretern, doch das Neue entspringt nicht aus dem Mainstream. Eine Kultur des Neuen muss immer auch eine der Offenheit sein, bei der man Menschen zuhört, die vielleicht noch nicht etabliert sind. Und das fehlt mir in Deutschland. Noch immer glauben zu viele, dass der Fortschritt große Industriezweige wie die Autoindustrie nur marginal verändert und das, obwohl wir an anderen Stellen Zeugen des rasanten Fortschritts sind. Das Smartphone ist gerade mal zehn Jahre jung und hat bereits vieles verändert.

Sie schreiben, dass viele Menschen einfache Wahrheiten glauben, weil die Welt sich rasant wandelt und immer komplexer zu werden scheint. Kommt den öffentlich-rechtlichen Medien damit eine besondere Verantwortung zu, diese Menschen zu informieren?
Yogeshwar: Wandel und Komplexität verunsichern die Menschen.
Wir erleben gerade eine Veränderung der klassischen Medien. Das Fernsehen ist im Umbruch, so auch die Verlagsbranche. Mit Plattformen wie YouTube oder den sozialen Netzwerken hat eine enorme mediale Fragmentierung in der Gesellschaft eingesetzt. Es gibt plötzlich ein Nebeneinander vieler „Sender“. Aus Massenmedien werden die Medien der Massen. Wer aber ist glaubwürdig? Welche Interessen verfolgen die einzelnen Kanäle? Wo gibt es Fake-News? Nicht alles ist schlecht. In manchen Bereichen stößt man auf wunderbare Inhalte: Wenn ich mich für bestimmte Themen interessiere, finde ich unglaublich gute Tutorials bei YouTube, die eine ganz andere Eindringtiefe als eine Fernsehsendung haben. Dennoch braucht jede Gesellschaft auch gemeinsame Foren und hier sehe ich eine besondere Verantwortung bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, die es zu schärfen gilt, denn manchmal werden auch sie zu Gefangenen medialer Gesetze.

Welche Gesetze meinen Sie?
Yogeshwar:
Der Kampf um Aufmerksamkeit, Click Rates, Quote und Auflage führt dazu, dass zum Beispiel politische Debatten geführt werden, bei denen es nicht primär um Inhalte geht. Diese Sendungen orientieren sich an Kriterien der Unterhaltung. Das beginnt schon bei der Besetzung. Warum sehen wir bestimmte Gäste? Aus einer Kultur des gegenseitigen Austauschs wird eine taube Polemik. Ich erlebe viel zu selten in Talkshows, dass der eine dem anderen sagt: „Danke, du hast mir gerade eine interessante Idee vermittelt.“ Stattdessen messen wir die Debatten anhand der Konfrontation, anhand des Fieberthermometers der Konflikte. Viele Menschen wollen sich über wichtige Themen informieren und suchen nach Lösungen auf die großen Fragen: Wie verändern Roboter die Arbeit? Wohin führt die künstliche Intelligenz? Wie brisant ist der Klimawandel? Zerbricht unsere Gesellschaft in Arme und Reiche? Es geht doch um mehr als darum, welche Partei am lautesten poltert. Ich wünsche mir Diskussionsrunden, in denen sich ein konstruktiver und fruchtbarer Diskurs entspannt, Debatten welche sich in aller Wahrhaftigkeit und Offenheit mit den wichtigen Themen unserer Zeit auseinandersetzen. Mag vielleicht utopisch klingen, doch ich glaube noch immer an den mündigen Dialog.

Ein Großteil der Wissensvermittlung, wenn überhaupt, wird in der Primetime über Quizsendungen abgedeckt. Reicht das aus?
Yogeshwar:
Nein.

Die öffentlich-rechtlichen Sender haben einen Bildungsauftrag. Sie kritisieren in Ihrem Buch, dass die Wissensvermittlung dabei zu kurz kommt.
Yogeshwar:
In der Primetime wird zu wenig Wissen vermittelt. Das beklage ich auch in aller Direktheit. Ich wünsche mir mehr Orientierungssendungen und nicht Serien oder allgleiche Quizsendungen. Mein Appell richtet sich an die Verantwortlichen, mutiger zu sein. Eigentlich dürfen sie diesen Mut haben, im Gegensatz vielleicht zu den Privatsendern. Vergessen wir nicht: Die öffentlich-rechtlichen Sender haben einen demokratischen Auftrag. Kompetenz, Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit sind unsere Stärken. Gerade in Zeiten der Verunsicherung sind wir gefragt. Fern-Sehen hat mit Weit-Sicht zu tun!

Können Sie diese Kritik auch senderintern äußern?
Yogeshwar:
Ich äußere diese Kritik offen. Ich bin in der Tiefe meines Herzens ein überzeugter Fan des öffentlich-rechtlichen Systems. Gerade in Zeiten des Wandels brauchen wir zuverlässige Informationsquellen. Medien sind ein wichtiger Klebstoff, der eine Gesellschaft zusammenhalten kann. Ich fordere daher mit aller Leidenschaft, dass wir uns nicht einlullen lassen von einer Haltung, die Medien zu einem rein kommerziellen Produkt degradiert, denn die gesellschaftliche Rolle ist zu wichtig. Meine Kritik kann ich frei artikulieren und tue das auch im eigenen Haus. Die kennen mich lange genug, um zu wissen, worum es mir geht. Mein Anliegen ist es, für einen unabhängigen, ehrlichen und faktenorientierten Journalismus zu kämpfen, und zum Glück gibt es auch viele, die das ähnlich sehen.

Sie waren in der Primetime mit „Wissen vor acht“ zu sehen und hatten in diesem Format weniger als fünf Minuten zur Verfügung, um ein wissenschaftliches Thema zu vermitteln. Reicht diese kurze Zeit dafür eigentlich aus?
Yogeshwar:
Als junger Redakteur hörte ich irgendwann die Worte: „Der Vertrag wird ratifiziert.“ Und dann fragte ich einen Redakteur: „Was genau heißt ratifiziert?“ Der erzählte mir etwas, aber irgendwie sagte mir mein Bauch, dass die Erklärung zu schwammig war. Ich habe mich dann informiert: Ratifiziert heißt, dass ein Abkommen in einem bestimmten Land zu verbindlichen Gesetzen gemacht wird. Damals wurde mir bewusst, dass jeder von uns viele kleine blinde Flecken hat, denn ich stellte fest, dass auch viele meiner Kollegen nicht genau wussten, was das Wort ratifiziert bedeutete. Ich sagte mir, wenn man kurz vor der Tagesschau eine Sache am Tag erklärt und somit versteht, dann ist das doch ein kleiner Schritt hin zu mehr Mündigkeit. Das war mein Motiv, und so entwickelte ich das Format „Wissen vor acht“.

Viele Menschen schämen sich und geben es nur ungern zu, wenn sie etwas nicht verstehen. Warum eigentlich?
Yogeshwar:
Wir schämen uns, weil wir so konditioniert wurden im Laufe unserer Erziehung und in der Schule. Wer eine Frage stellt, hat nicht aufgepasst. Oft hören oder nutzen wir jedoch Begriffe, die wir nicht verstehen. Nichtwissen einzugestehen ist ein Stück ehrliches Lernen, Wissen vorzutäuschen hingegen Ausdruck von Ignoranz. In Zeiten des Wandels werden wir ständig mit neuen Dingen konfrontiert. Es ist daher wichtig, eine Kultur des Fragens zuzulassen. Das ist es auch, was eine gute Demokratie ausmacht.

Der Kabarettist Georg Schramm hat hier im Interview einmal in den Raum gestellt, dass Leute in Deutschland absichtlich dumm gehalten würden. Er sagte: „Wenn man die Menschen ungebildet hält, werden sie nicht am politischen Leben teilnehmen. Wir müssen lediglich dafür sorgen, dass sie immer ein Sixpack, was zu Essen und einen Fernseher haben, damit sind die schon bedient.“ Ist da etwas dran?
Yogeshwar: Es war seit dem Circus Maximus im alten Rom immer so, dass es eine Form von Beruhigung und ist Nicht-Beteiligung durch Ablenkung gab. Bedauerlicherweise passiert das bis heute. Anstatt dass Menschen sich in Debatten engagieren, was natürlich auch das Establishment stören könnte, gibt es Berieselung. Ob dieses bewusst im Sinne einer politischen Intrige, aus Bequemlichkeit oder vielleicht aus Mangel an Fantasie geschieht, vermag ich nicht zu sagen. Mündigkeit ist eben auch anstrengend. Kant sagte bereits, es ist so bequem unmündig zu sein, und so erleben wir in allen Kulturen die Neuauflagen des Circus Maximus.

In welchen Bereichen erleben Sie solche Tendenzen?
Yogeshwar: Wenn ich mir die Überinszenierung von Sportereignissen angucke, dann geht mir das einen Tick zu weit. Das hat ja schon wirklich grotesk-pathetische, fast religiöse Züge. Fußball ist der moderne Arenenkampf. Ich rede nicht prinzipiell gegen Fußball, doch seine Überinszenierung geht zu weit. Wir sollten die Prioritäten richtig setzen – im Kleinen wie im Großen: Wir halten Debatten über die Stilettos von Frau Trump oder über die Halskette der Kanzlerin. Es gibt wirklich Wichtigeres.

Sie haben Ihr neues Buch Frank Schirrmacher gewidmet.
Yogeshwar:
Oh ja.

Inwiefern fehlt er Ihnen persönlich?
Yogeshwar:
Sein Tod ist für mich ein ganz persönlicher Verlust. Wir waren sehr gut miteinander befreundet. Wir haben am Abend vor seinem Tod bis kurz vor Mitternacht fast eine Stunde lang miteinander telefoniert. Wir wünschten uns alles Gute, sagten „bis morgen“ – und am nächsten Tag lebte er nicht mehr. Auf meinem Schreibtisch stehen Bilder meiner Frau und meiner Kinder und auch ein Bild von ihm. Er fehlt mir täglich, denn er war ein großartiger Mensch. Wir telefonierten häufig und zu jeder Tageszeit. Es gab diese seltene gegenseitige Inspiration. Ja, er fehlt mir.

Was fehlt der Gesellschaft durch seinen Tod?
Yogeshwar:
Frank Schirrmacher hatte die großartige Qualität, eine Art Katalysator bestimmter Themen zu sein und die richtigen Menschen zusammenzubringen. Er war einer der ganz wenigen Medienverantwortlichen, die diese Verantwortung ausgefüllt haben. Er warf mit großartiger Energie wichtige Debatten an, die er ganz klar erkannte.

In seinem Buch „Payback“ hat Schirrmacher davor gewarnt, dass die intensive Nutzung von SMS, E-Mails und sozialen Netzwerken dazu führt, dass den Menschen die Aufmerksamkeit abhandenkommt. Sehen Sie das auch so?
Yogeshwar:
Ich unterstelle der jungen Generation nicht, dass sie keinen Fokus hat. Sie setzt ihn nur komplett anders. Die junge Generation sucht sich ihre Informationen selbst. Und das bedeutet, wenn man genau darüber nachdenkt, dass sie viel aktiver handelt als die alte Generation. Dabei bekommen die jungen Menschen auch ein gutes Gefühl dafür, welche Informationen verlässlich sind. Ich glaube, dass diese Generation im Kern viel mündiger ist als die alte. In den Gesprächen mit Frank ging es jedoch viel weiter als die Verschiebung der Aufmerksamkeit. Wir sprachen viel über die Konsequenzen der digitalen Vernetzung, über die Macht der Algorithmen und das Potenzial der künstlichen Intelligenz. Was passiert, wenn eine Technologie einer Minderheit zu enormer Macht verhilft? Wann gefährdet der Fortschritt selbst die Demokratie? Wir hatten diese spannende Schnittstelle, weil er aus dem Bereich Kultur kam und ich aus der Wissenschaft.

In Ihrem Buch schreiben Sie Entwicklungen fort, die bereits heute im Keim angelegt sind. Dabei geht es auch um die Zukunft des Lesens. Sie beschreiben, dass die Handlung eines Romans nicht nur individuell an die Leser angepasst sein wird, sondern anhand des Leseflusses auch medizinische Diagnosen gestellt werden. Wie kommen Sie darauf?
Yogeshwar:
Ich bediene mich dabei der Bausteine, die bereits heute existieren, und entwickle sie konsequent weiter. Dadurch gelangt man automatisch in neue Bereiche. Wir sehen heute bereits, dass der klassische Buchmarkt wachsende Probleme bekommt, während zugleich die Nachfrage nach elektronischen Büchern steigt. In Zukunft werden Reader, ähnlich wie Smartphones, mit einer Kamera ausgestattet sein. Das ist praktisch, weil man nicht mehr blättern muss, wenn die Kamera die Augenbewegungen erfasst. Anhand der Pupillenweite kann man sogar die Emotionen beim Lesen messen. Dadurch entsteht zum ersten Mal die Möglichkeit, aus der Art und Weise, wie ein Buch gelesen und rezipiert wird, neue Daten zu generieren. Das Buch verrät seinen Leser. Es gibt ein Interesse der Verlage, diese Daten auszuwerten, weil sie wollen, dass die Leser am Buch dranbleiben. Der nächste Schritt für mich ist, dass ein Buch nicht mehr im Schutz der Privatheit liegt, sondern der Leser durch den Download identifizierbar ist. Das ermöglicht eine Personalisierung von Inhalten, die wir auch in ganz vielen anderen Bereichen erleben. Es gibt gute Gründe zu sagen, dass alles, was besonders personalisiert daherkommt, den Menschen gut gefällt. Schließlich lassen sich anhand des Leseflusses und vor allem anhand von Veränderungen auch Rückschlüsse auf die Gehirntätigkeit und mögliche gesundheitliche Probleme ziehen.

Was passiert eigentlich mit unseren Daten? Insgesamt ist schon heute ein großer Trend zur Selbstoptimierung zu beobachten. Wird sich das fortschreiben, beispielsweise durch den vermehrten Einsatz von Fitnesstrackern?
Yogeshwar:
Die Gefahr dieser neuen Transparenz liegt darin, dass wir anfangen, unseren eigenen Lebenswandel zu optimieren. Das resultiert am Ende möglicherweise darin, dass wir joggen gehen, weil die App es will. Und das finde ich kritisch. Der nächste Schritt wäre dann, dass wir unser Verhalten einem stillen Druck unterwerfen, ob das unser Essen betrifft, unseren Tagesrhythmus, die physische Beweglichkeit oder das was wir denken. Die scheinbare Freiheit der neuen Möglichkeiten könnte durch diese totale Transparenz in einer Unfreiheit enden.

Kann man absehen, in welche Richtung sich die Zukunft der Privatsphäre entwickeln wird?
Yogeshwar:
Ich bin immer sehr vorsichtig bei solchen Prognosen, weil wir auch unsere jeweilige kulturelle Perspektive berücksichtigen müssen. Die Bedeutung der Privatsphäre hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt. Vor 300 Jahren hatte das Wort Privatsphäre eine völlig andere Bedeutung als heute. Damals hätte ich vermutlich mit einigen anderen Menschen zusammen in einem engen Zimmer gewohnt. Aus heutiger Sicht erscheint das furchtbar, weil man nie alleine ist und sich nie zurückziehen kann. Aber das war damals so. Das heißt, dass der Begriff der Privatsphäre mit vielen anderen Dingen einhergeht, die zum Teil einer Kultur entspringen und zum Teil sogar künstlich geschaffen werden. Wir erleben eine Verschiebung vom Wir zum Ich. Man kann sich fragen, ob der extreme Trend zur Individualisierung möglicherweise die Folge einer ökonomischen Logik ist, weil die wachsende Individualisierung einer Vergrößerung der Kundenzahlen gleichkommt. Wenn ich einen Mixer verkaufe und Familie das Nonplusultra ist, dann verkaufe ich bei einer vierköpfigen Familie nur einen Mixer. Wenn ich aber sage, dass Individualität ganz toll ist, dann kann ich plötzlich vier Mixer verkaufen. Unsere Lebensziele sind also nicht völlig unabhängig, denn sie werden zum Beispiel von ökonomischen Faktoren geprägt. Die Lust auf Konsum oder die Liebe zum Auto sind kein natürliches Bedürfnis, sondern das Ergebnis einer gigantischen Werbeindustrie. Vielleicht brauchen wir ein neues Wort: Ich werde gemöchtet…

Welche Entwicklungen werden uns in der nahen Zukunft am stärksten beschäftigen?
Yogeshwar:
Wir werden in den nächsten zehn Jahren sehr stark mit dem Aufkommen von künstlicher Intelligenz konfrontiert sein. Sie wird viele Bereiche unseres Lebens fundamental verändern. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit wir diesen neuen intelligenten Systemen vertrauen können. Wieviel Verantwortung geben wir ab? Manche Bereiche des Deep-Learning sind ungeheuer leistungsfähig. Bei der Auswertung von Röntgenbildern oder dem Erkennen von Verkehrsschildern übertreffen die neuronalen Netze bereits heute den Menschen. Moderne Systeme können bei der Vergabe von Bankkrediten besser urteilen, als Menschen es tun. Die Folge: Der Algorithmus entscheidet. Und plötzlich hören sie: Sie bekommen den Kredit nicht – aber man kann Ihnen nicht mehr sagen warum, weil der Algorithmus so komplex ist. Damit würden wir den Übergang erleben von der Kausalität hin zur Korrelation. Es funktioniert, doch auf die Frage des Warums gibt es keine klare Antwort mehr. Das wäre in Bruch mit den Prinzipien der Aufklärung. Genau deshalb habe ich mein neues Buch „Nächste Ausfahrt Zukunft“ geschrieben. Wir brauchen dringend eine breite gesellschaftliche Debatte, denn es geht um unsere Rolle. Mensch und Computer – wer programmiert wen?

Was sagen die digitalen Daten denn nicht?
Yogeshwar:
Man kann beispielsweise die Partnersuche durch Algorithmen optimieren, aber das alleine genügt in den seltensten Fällen. Eine scheinbar rationale Betrachtung reicht auf vielen Feldern nicht aus. Wir müssen weiter unseren Instinkten vertrauen. Es gibt immer auch eine menschliche Restwahrheit, die sich nicht über Daten abbilden lässt. Darauf müssen wir vertrauen.

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