Rasha Khayat, 1978 in Dortmund geboren, bezeichnet sich selbst als ‚Vagabundin zwischen den Welten‘. Die Übersetzerin und Autorin wuchs in Dschidda in Saudi-Arabien und dem Ruhrpott auf. Von einem Leben dazwischen handelt auch ihr Debütroman „Weil wir längst woanders sind” (Dumont Verlag). Darin erzählt sie die Geschichte des deutsch-saudischen Geschwisterpaars Basil und Layla und ihrer Suche nach Zugehörigkeit. Layla scheint sie in ihrer alten Heimat zu finden: Sie beschließt in Saudi-Arabien einen Mann zu heiraten, den sie kaum kennt. Eine Entscheidung, die irritiert – vor allem ihren Bruder. Warum das dennoch der richtige Weg sein kann, was Heimat bedeutet, welche Parallelwelten es in Saudi-Arabien gibt und warum die Deutschen eigentlich den ganzen Tag nur Danke sagen sollten, darüber sprach Rasha Khayat mit Sarah Ruhland. Die lebt seit über zwei Jahren in Riad und traf Rasha Khayat im Internet, also einem Ort nicht hier, nicht dort, sondern irgendwo dazwischen.
Frau Khayat, in Ihrem Debütroman sind die Geschwister Basil und Layla, die eine deutsche Mutter und einen saudischen Vater haben, auf der Suche nach ihrer Identität. Wie kam es zu dieser Geschichte?
Rasha Khayat: Viele Wege haben mich zu ihr geführt. Seit sechs Jahren schreibe ich in meinem Blog „Westöstliche Diva“ auch über Themen aus dem arabischen Raum. Ich brauchte einen Ausgleich zu meinem Beruf als Lektorin und Übersetzerin.
Was übersetzen Sie?
Khayat: Eigentlich wollte ich arabische Literatur übersetzen, aber damals gab es in Deutschland dafür kaum einen Markt. Ich übersetzte englische Belletristik und fand es schade, dass der Nahe Osten in meinem Job überhaupt keine Rolle spielte.
Darüber schreiben Sie auf Ihrem Blog…
Khayat: Ja. Auf meinen Reisen durch Ägypten, Syrien und Saudi-Arabien ist mir aufgefallen: Viele persönliche Geschichten, die ich von Leuten hörte, ähnelten sich, die Geschichten von Menschen, die in unterschiedlichen Ländern aufwachsen, arbeiten und leben wiederholen sich. Immer wieder geht es um das Gefühl, nirgendwo richtig dazuzugehören. Um die innere Zerrissenheit. Mein Roman ist ein Destillat aus Hunderten von Gesprächen, die ich geführt habe.
Spüren Sie selbst auch diese Zerrissenheit?
Khayat: Ich kann nicht sagen, dass ich mich zerrissen fühle. Ich habe das große Glück eine Familie zu haben, die mich sowohl auf der arabischen als auch auf der deutschen Seite sehr auffängt.Ich bin gerne in Deutschland und habe nicht das Bedürfnis nach Saudi-Arabien zu heiraten, ich verdränge aber meine saudischen Wurzeln auch nicht. Bei dem Buch ging es nicht um meine persönliche Erfahrung, sondern um einen repräsentativen Lebenslauf. Um den alltäglichen inneren Konflikt vieler Biographien, der so aber kaum erzählt wird. Ich habe lange nach dem richtigen Ton gesucht und finde es wichtig, dass das Buch leise ist.
Warum leise?
Khayat: Damit die Leute eine Bereitschaft haben sich darauf einzulassen. Ich glaube daran, dass Literatur und Kunst neue Perspektiven aufmachen und Empathie schaffen können, mehr als eine kreischende Reportage oder ein Sachbuch.
Ich habe viele Heimaten.
Im Buch geht die freiheitsliebende, nichtreligiöse Layla nach Frustrationen in Deutschland zurück in das Land ihres Vaters und heiratet dort einen Mann, den sie kaum kennt. Eine Trotzreaktion?
Khayat: Genau, sie hat die Schnauze voll, dass in Deutschland in ihr immer etwas gesehen wird, was sie nicht ist. Sie hat keine Lust mehr, eine Wüstenprinzessin, vermeintliche Terroristin oder bemitleidenswerte arabische Frau zu sein. Sie will irgendwo sein, wo sie angenommen wird, mit all ihren Brüchen, wo sie glücklich sein kann und sie niemand fragt, wo kommst du eigentlich her. Diese Frage wird einem in Deutschland ja ständig gestellt.
In Saudi-Arabien sind Frauen lebenslang unmündig, per Gesetz ihren Vätern, Brüdern oder Männern unterstellt. Warum geht Layla, die selbstbestimmt leben will, dorthin zurück?
Khayat: Sie hat ein Bedürfnis, das über vielem steht: das nach Familie, Zugehörigkeit. Sie geht nicht nach Saudi-Arabien, weil sie sich mit dem dortigen Gesellschaftssystem auseinandersetzt. Sie geht dorthin, weil dort ein Teil ihrer Familie lebt, in dem sie sich geborgen fühlt. Es ist fast egal, woher diese Familie kommt oder wo sie lebt. Sie sucht einen Platz, an den sie gehört.
In Saudi-Arabien ist die Familie, der Stamm alles. Geht es Ihnen um dieses Selbstverständnis?
Khayat: Ich sehe mich nicht als Botschafterin für jemanden oder für Saudi-Arabien. Das Thema meines Buches ist die Verortung, der innere Konflikt von Menschen, die dazugehören wollen, aber nicht wissen, wie und wo. Es geht um ein Gefühl, um eine Sehnsucht. Die arabischen Gesellschaften und auch die saudische sind herzlich und auf eine gewisse Art wertfreier. Da wird nicht gefragt: Wo kommst du eigentlich her und auf welcher Seite stehst du? Hast du denselben Nachnamen dann gehörst du zur Familie. Das ist Layla wichtiger als dass sie selbst Auto fahren darf. Auch ich finde, dass das ein großer Wert ist: Dass man nicht fragt wo jemand herkommt, um ihn in eine Schublade zu stecken, sondern dass man ihn einfach annimmt. Das fällt Deutschen häufig schwer.
Wie meinen Sie das?
Khayat: In Deutschland wirst du annektiert oder integriert, alle sprechen hier von Integration. Dabei geht es um Vereinheitlichen: Alle sollen vereinheitlicht werden, statt einfach so gelassen zu werden wie sie sind. Man möchte die anderen gleichmachen, um sie besser zu verstehen. Dass aber jemand, der das Gefühl hat, gleichgemacht zu werden, sich dagegen wehrt, weil er meint, dass ihm etwas weggenommen wird von seiner Geschichte, seiner Persönlichkeit, das wird kaum verstanden. Diesen empathischen Moment vermisse ich. Im Subtext wird auch unterschieden zwischen guten und weniger guten Ausländern. Es ist cool eine Französin zu sein, aber nicht eine Türkin. Ich kann Laylas Gefühle sehr gut nachvollziehen, dass sie keine Lust mehr auf das vermeintliche Wohlwollen ihrer deutschen Mitbürger hat.
In Deutschland ist häufig die Rede von Parallelwelten, in denen die Migranten leben. In Ihrem Buch erzählen Sie nun auch von Parallelwelten in Saudi-Arabien…
Khayat: Es gibt in Saudi-Arabien die offizielle Welt, in der man sich an alle auferlegten Regeln hält, wie das Alkoholverbot oder die Trennung der Geschlechter im öffentlichen Raum – und es gibt Orte, an denen man sich darum weniger schert. Bevor Layla heiratet, macht die Familie einen Ausflug ans Meer. Sie mietet sich eine Villa in einem Compound an. Dort dürfen Frauen Auto fahren, mit Männern gemeinsam im Café sitzen. Das ist Teil der Realität. Es würde mich freuen, wenn mein Buch dem einen oder anderen Leser jenseits von Auspeitschung und religiösem Fundamentalismus eine andere Perspektive aufzeigt. Der Alltag in Saudi-Arabien sieht häufig anders aus und hat viele Facetten. Das Bild der Gesellschaft, das man von außen sieht, kann man nach meiner Erfahrung überhaupt nicht mit dem vergleichen, was tatsächlich im privaten Raum passiert.
In Saudi-Arabien sind beispielsweise auch Kinos verboten, dennoch sind Filme längst Teil der Alltagskultur. Wie erklären Sie diese Gegensätze?
Khayat: Saudi-Arabien ist das Heimatland der wichtigsten islamischen Stätten, Medina und Mekka. Es versteht sich als Vorzeigeland und die Muslime dieser Welt richten ihr Augenmerk auf Saudi-Arabien. Offiziell verharrt das Königreich in seinem Konservatismus, aber die junge Bevölkerung…
…zwei Drittel der saudischen Bevölkerung sind unter 30 …
Khayat: …möchte natürlich anders leben. Viele sind gebildet und haben im Ausland studiert. Sie kommen zurück in ihr Land und wollen Dinge verändern, in kleinen Schritten, klug und leise. Wir haben in den 80er Jahren in Dschidda gelebt. Das war eine sehr liberale Zeit damals. Nach dem Ersten Golfkrieg und vor allem nach dem 11. September 2001 hat sich das Land verändert, es ist sehr viel konservativer geworden. Als ich 2014 Dschidda besuchte hatte ich aber den Eindruck, es sei wieder liberaler geworden.
In welche Richtung wollen junge Saudis das Land verändern? Vor Ort hat man den Eindruck, sie wollten ihre Werte und Traditionen bewahren, aber mehr individuelle Freiheit. Junge, gebildete Frauen rufen nicht ‚weg mit der repressiven Religion‘, sondern ‚her mit muslimischen Gelehrtinnen‘, damit endlich auch Frauen den Koran interpretieren.
Khayat: Unsere Lebensweise hier in Deutschland ist für unsere Gesellschaft richtig, weil sie sich von selbst so entwickelt hat. Ich möchte hier eine liberale Demokratie, meinetwegen auch einen laizistischen Staat, aber in Saudi-Arabien funktioniert das nicht einfach so. Und ich kann es sehr gut nachvollziehen, dass junge Saudis sagen: Ich möchte meinen eigenen Weg finden. Wer möchte das nicht?
Viele Saudis, die zum Studieren ins Ausland gegangen sind, kehren wieder zurück, sie ziehen die Heimat dem freieren Leben in Großbritannien oder den USA vor. Wo ist Ihre Heimat?
Khayat: Ich habe viele Heimaten. In Hamburg an den Landungsbrücken, bei meinen Eltern im Ruhrgebiet in der Küche, wenn wir an Weihnachten alle dort sind. Heimat ist wenn ich am Flughafen in Dschidda ankomme und dort steht die halbe Familie mit fünf Autos um vier Leute abzuholen. Heimat ist für mich aber auch Lesen und Kunst. Beides spielt für mich eine große Rolle, seitdem ich mit elf Jahren von Saudi-Arabien nach Deutschland zog. Wir Kinder waren damals ziemlich durcheinander. Die Literatur half mir, mich zu verorten.
Wie wurden Sie damals aufgenommen?
Khayat: Wir sprachen fließend deutsch und wurden sofort annektiert. Uns wurde sehr schnell klar gemacht, „ihr seid ja Deutsche“. Das war verwirrend, weil der andere Teil von uns plötzlich keine Rolle mehr spielte.
Ihre Mutter ist Deutsche, Ihr Vater aus Saudi-Arabien. Wie wurde er damals als Schwiegersohn aufgenommen?
Khayat: Meine deutsche Großmutter erzählte, dass das natürlich erst einmal ein Schock war. Niemand wusste damals, wo Saudi-Arabien eigentlich liegt. Aber irgendwie war die Zeit unschuldiger. Sie war nicht so politisiert. Man hat nichts über dieses Land gewusst, auch nichts Negatives. Religion und Politik waren damals nicht so im Vordergrund.
Beschreiben Sie das Land Ihrer saudischen Familie in drei Wörtern.
Khayat: Ich kann nicht das Land beschreiben, nur die Stadt, Dschidda, in der ich groß geworden bin: Wärme, Leben, Lautstärke.
Und das Ihrer Hamburger Wahlheimat?
Khayat: Freiheit, Ruhe, zu Hause.
Wie erklären Sie einem Saudi Ihre deutsche Heimat?
Khayat: Ich würde ihm von der Freiheit erzählen. Ich kann in einen Zug steigen und dorthin fahren, wo ich will. Ich kann sagen und schreiben, was ich möchte. Es gibt ein Grundgesetz, das mich als Person schützt. Es gibt einen Sozialstaat, dessen System auch dafür sorgt, dass ich krankenversichert bin. Ich schätze diese große Form der Freiheit an Deutschland. Das darf man auf gar keinen Fall jemals unterbewerten. Das geht mir auf die Nerven, dass die Menschen hier manchmal vergessen, wie wertvoll diese Freiheit ist und dass sie nicht selbstverständlich ist. Ich empfehle den Leuten: Fahrt in die Welt, und nicht in den Cluburlaub nach Malle, schaut Euch um! Man kann in Deutschland eigentlich nur den ganzen Tag für alle Möglichkeiten, die man hat, Danke sagen.
[Das Interview entstand im März 2016.]
2. Teil:
unsere Gesellschaft hat sich jedoch nicht von selbst so entwickelt, liebe Frau Kayaht: wir haben Jahrhunderte hinter uns, in denen um Freiheit und Gleichheit gerungen wurde, viele Kriege, die „schwarze Pädagogik“, die aus Kindern Nazis machte, erst 1810 wurde das Leideigentum abgeschafft und der Weg in die Demokratie war blutig genug.
Natürlich stimme ich Ihnen zu, dass Dankbarkeit die Haltung sein sollte, sie zu erhalten im Sinne von Francis Bacon: “ Es sind nicht die Glücklichen, die dankbar sind, es sind die Dankbaren, die glücklich sind“
Danke für das wunderschöne Interview!
Auch ich habe den Orient so erlebt: bereits 1955, als meine Eltern mit dem persischen Studenten Abbas in einer Wohngemeinschaft lebten und wir Nachkriegskinder mit der Warmherzigkeit, Höflichkeit und Großzügigkeit des Orients überschwemmt wurden. Später auf meinen Reisen bestätigte sich, was ich auch in dem Buch der sizilianischen Prinzessin Vittoria Alliata 1981 las: Harem – Die Freiheit hinter Schleiern. Es veränderte meine Sichtweise nicht unbedingt, denn als Lehrerin der ersten türkischen „Gastarbeiter“ erlebte ich bereits, dass die Frau in der Familie als geliebter Mittelpunkt wahrgenommen wurde und nicht als Mensch 2. Klasse.