Herr Ley, warum ist im Fall Beate Zschäpe ein Dokudrama besser als eine ‚reine‘ Dokumentation?
Raymond Ley: Nicht besser – aber in diesem Fall durch den fiktionalen Anteil geeigneter. Es gab zum Komplex NSU zudem schon einige Dokus. Ich wollte zu diesem Thema immer gern ein dokumentarisches Fernsehspiel drehen – mit journalistische Anteilen und Beate Zschäpe im Fokus. Mir ist die Fahrt von Zschäpe im Sommer 2012 zu ihrer Großmutter schon vor zwei Jahren aufgefallen – dank eines Artikels von Annette Ramelsberger in der Süddeutschen Zeitung.
Zschäpe wurde von BKA-Beamten begleitet, ihre Gespräche protokolliert. Hat dieses Protokoll Einfluss auf das laufende Verfahren gegen Zschäpe?
Ley: Ja. Das Protokoll von dieser Fahrt provozierte zudem eine Auseinandersetzung zwischen den Anwälten Zschäpes, dem Beamten, der dazu vernommen wurde, und dem Gericht. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wusste das Gericht von dieser „Ausflugsfahrt“, las das Protokoll und wusste, welche Dinge Frau Zschäpe damals im Blick hatte: Kronzeugen-Regelung, Überlegung Geständnis, Taten eingestehen usw. Das ist für die ermittelnden Beamten, die die Fahrt durchgeführt haben, wohl auch wichtig, dass das vom Gericht wahrgenommen wurde. Ob das Protokoll letzten Endes verfahrensrelevant wurde, ist dann fast zweitrangig. Der Richter in München setzt sich ja auch mit dem Charakter einer Person auseinander. Und dafür war diese Fahrt und das Protokoll eine gute Vorlage.
Man kann Zschäpes Blicke und Gesten dechiffrieren.
Was möchten Sie dem Zuschauer mit dem Dokudrama „Letzte Ausfahrt Gera“ ermöglichen?
Ley: Wir zeigen dem Zuschauer drei verschiedene Zschäpe-Figuren: Da ist die Zschäpe aus dem Prozess, die zum Teil herablassend auf die Hinterbliebenen und die Zeugen schaut – dann zeigen wir eine eloquente Zschäpe im Auto, die versucht, sich in den Beamten zu spiegeln und die wissen will: Was denkt man auf der Ebene des BKA von mir, wie könnte der Prozess für mich laufen usw? Und wir zeigen das Bild Zschäpes in Zusammenhang mit den Uwes. Diese drei Bilder kann der Zuschauer übereinander schieben – das Bild Zschäpes wird dann für ihn transparenter und plastischer. Der Film ist nicht als Psychogramm oder als Charakterstudie angelegt, sonst hätte man ihn komplett fiktionalisiert und wir hätten noch viel mehr aus der Kindheit der Zschäpe einbeziehen müssen. Den dokumentarischen Boden bilden für uns diese fragilen Äußerungen auf der Fahrt, das ist die Begrenzung: Stand 2012. Was wusste wer?
Braucht es denn nachgestellte Szenen von Uwe Böhnhart mit nacktem Oberkörper in Zschäpes Armen, inklusive seiner Tätowierungen?
Ley: Diese martialischen Tätowierungen auf Böhnhardts Rücken sind Bilder aus dem „Umfeld“, dem Leben der Beate Zschäpe. Zeitzeugen, die diese Tätowierungen bei Böhnhardt im Fehmarn-Urlaub am Strand gesehen haben, waren jedenfalls schockiert. Das Tattoo mit dem skelettierten Soldaten – sozusagen der „Tod mit Gewehr“ – spricht für die politische Haltung des NSU und die muss der Film darstellen können. Man findet diese Tätowierungen zudem im Internet. Jemand hat die Fotos vom toten Böhnhardt ins Netz gestellt, dort kann man diese Tätowierungen sehen, samt der obduzierten Leiche Böhnhardts.
Hat die Polizei die Bilder ins Netz gestellt?
Ley: Nein, sicher nicht. Sie können aber auf einem russischen Server zum großen Teil die gesamte Aktenlage finden – auch das BKA-Protokoll der Zschäpe-Fahrt, welches eine Grundlage unseres Filmes ist.
Gibt es eigentlich Tonaufnahmen von Beate Zschäpe?
Ley: Ich kenne keine. Es gibt allerdings Film-Aufnahmen, wo sie 15/16 ist.
Und das Auto der Polizei wurde auf der Fahrt nach Thüringen nicht abgehört?
Ley: Unsere Vermutung ist, dass es womöglich abgehört wurde. Aber von der Fahrt selbst gibt es offiziell nur ein 12-seitiges Protokoll.
Also keine leichte Aufgabe für die Schauspielerin Lisa Wagner…
Ley: Lisa Wagner hat den Prozess besucht und sich Frau Zschäpe angeschaut. Man kann ihre Reaktionen, ihre Blicke und Gesten dechiffrieren. Und dann – so verstehe ich eine Zusammenarbeit – muss der Schauspieler auch seinen eigenen Weg der Darstellung suchen. Lisa Wagner spielt hier eine Psychopathische Persönlichkeit, der das eigene Ich sehr nach und das Schicksal der Opfer sehr fern ist.
Eine Polizistin sagt in einer nachgespielten Szene in Ihrem Film: „Beate Zschäpe ist nicht das Sex-Anhängsel der beiden Uwes.“ Woher kommt dieser Satz?
Ley: In der Szene geht es darum, zu betonen, dass Beate Zschäpe möglicherweise an den Taten beteiligt war bzw. von ihnen wusste. Da haben wir die Recherchen gebündelt. Das muss Dokumentarspiel können, die Situation der Polizei weiterdenken: In welcher Lage befinden sich die Beamten, in welchen Auseinandersetzungen und welche Thesen stellen sie auf? Ein Dokudrama ist keine wortgetreue Nachstellung einer vermeintlichen Wirklichkeit – es ist auch immer eine Interpretation des dokumentarischen Materials.
So ein Satz ist also nicht Spekulation sondern Recherche.
Ley: Er ist Teil der Überlegung, jener Fragen, die sich die Polizisten gestellt haben. Wir haben viel über die Auseinandersetzungen innerhalb der Polizei rund um den NSU-Fall gelesen und der von Ihnen erwähnte Satz sollte dies darstellen.
Was ist Ihr Anspruch an nachgespielte Szenen, bis zu welchem Grad müssen die belegbar sein?
Ley: Man muss sich für jede Szene, jede Recherche die Frage stellen: In welcher Situation befanden sich die Beamten ein halbes Jahr, nachdem sich Zschäpe gestellt hatte? Die ganze NSU-Geschichte flog ihnen damals um die Ohren, sie merkten, dass die SOKO „Döner-Morde“ den falschen Ansatzpunkt – aus einem fast rassistischen Blickwinkel – heraus verfolgt hatte, dass der Verfassungsschutz sie an der Nase herumgeführt hat und dass Akten verschwunden sind. In der Behörde muss die Hölle los gewesen sein. Und die Überlegungen, die sich die Polizisten in unserem Film machen, können oder sollten dieses Feld abbilden.
„Die Leute betrachten historische Ereignisse so, wie sie ihnen in Romanen oder Spielfilmen dargestellt werden. Forschungsarbeiten sind schwierig zu lesen und die Realität ist oft schwer zu ertragen. Unsere Toleranzschwelle ist, was die Wahrheit angeht, sehr niedrig“ sagt der Publizist und Autor Miguel Wiñazki. Er ist der Auffassung, dass die Zuschauer der Verfilmung eines realen Geschehens leicht ihren Glauben schenken.
Ley: Man ist immer in der Verantwortung, dass die Grundlagen stimmen müssen. Aber wenn jetzt jemand einen Film über Janis Joplin oder über Kurt Cobain dreht, dann wird der Zuschauer diesen Film als Interpretation des Themas Cobain und Joplin sehen – und vielleicht dennoch seine Sichtweise ändern. Der Zuschauer ist erwachsen genug, um letztlich zu wissen, dass er sich TV, Kino etc. nicht bedingungslos ausliefern sollte.
Und der Zuschauer hinterfragt, was er zum Beispiel in einem Biopic sieht?
Ley: Wenn ich ein Biopic über Richard Nixon sehe, dann weiß ich, wer der Regisseur und wer der Autor ist. Jeder Nacherzählung setzt andere Schwerpunkte, nimmt eine Perspektive ein und ist somit eine weitere Interpretation des Themas.
Wichtig ist uns bei der Arbeit immer, dass die Zeitzeugen es verdient haben, dass wir vorsichtig mit ihren – zugegeben subjektiven – Wahrheiten umgehen.
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Sie haben vielfach Interviews mit Opfern bzw. Angehörigen von Opfern geführt, u.a. für „Letzte Ausfahrt Gera“ und den Film „Eschede Zug 884“ über das schwere Zugunglück von 1998. Wie wichtig ist Ihnen, dass die Betroffenen durch so einen Film auch eine Möglichkeit bekommen, das Geschehene zu verarbeiten?
Ley: Ich glaube schon, dass es für diejenigen, die an Filmen wie „Eichmanns Ende“, „Die Kinder von Blankenese“, „Eschede Zug 884“oder „Die Nacht der großen Flut“ teilgenommen haben, die Möglichkeit bestand, um über diese Interviews mit den Geschichten abzuschließen. Für Alisa Şimşek war es nicht einfach, mit uns über ihren vom NSU getöteten Mann zu reden. Man wird da natürlich auch zum Zuhörer, zum Beispiel bei den Menschen, die durch das Eschede-Unglück ihre Familien verloren haben. Und das ist eine große Verantwortung, weil die Leute ja ihre Geschichte in deine Hände legen.
Für Sie ist das auch schwierig?
Ley: Es ist eine sehr komplizierte, manchmal belastende Situation, die man sich vorher beim Entwurf solcher Projekte nicht unbedingt vorstellt. Das ist vielleicht auch gut so. Für „Die Kinder von Blankenese“ und auch „Eichmanns Ende“ mussten wir nochmal die Nazi-Theorie der „Endlösung“ aufarbeiten. Wir sind mit dem Team nach Bergen-Belsen gefahren und haben uns angeschaut, was sind die Folgen, wie sieht das Original-Filmmaterial aus? Das war für alle Beteiligten ein ziemlich harter Weg.
Geht es Ihnen auch darum, mit den Filmen Stellungnahmen oder Entschuldigungen von Verantwortlichen zu erreichen?
Ley: Das zu erwarten, wäre vermessen. Die Deutsche Bahn hat sich zehn Jahre später entschuldigt, aber ich denke nicht, dass unser Film über Eschede dabei eine Rolle spielte. Wir hatten ja versucht für den Film mit der Bahn zu reden, die wollten allerdings erst das Drehbuch sehen – das war aber nicht mit uns verhandelbar.
Haben Sie für „Letzte Ausfahrt Gera“ versucht, jene Ermittler zu erreichen, die Angehörige der NSU-Opfer unter Tatverdacht stellten?
Ley: Ja, aber wir reden hier von Staatsschutz, vom Bundeskriminalamt nicht von einer normalen Polizeistation. Die können auch offiziell nicht mit uns reden, weil der Prozess noch läuft. Sie könnten eventuell noch Teil des Prozesses werden.
War es denn der richtige Zeitpunkt, das Dokudrama über Beate Zschäpe noch vor Prozessende zu drehen?
Ley: Ich hätte es gern bereits schon vor einem Jahr gezeigt – ich denke, jetzt ist ein guter Zeitpunkt, so eine fragile Charakterstudie zu betreiben und die Welt der Zschäpe, der Uwes und die Welt der Hinterbliebenen gegeneinander zu stellen. Es ist wichtig, das Thema Rechtsradikalismus überhaupt anzufassen.
Zum Schluss: Wie viel Dokumentations-Anteil würden Sie sich, als Dokumentarfilmer sowie als Zuschauer, für das ZDF-Programm wünschen?
Ley: Ich sehe mich nicht als Dokumentarfilmer, eher als Regisseur, der dokumentarische Themen anfasst. Zudem kenne ich die Programmstruktur des ZDF nicht genau, ich weiß nicht, was das ZDF da bietet.
Innerhalb einer Woche Anfang Januar 2016 waren es knapp sieben Stunden Dokumentationen.
Ley: Das hört sich wenig an. Ich merke nur, dass manchmal die Dokumentationen nicht auf den richtigen Sendeplätzen landen, sondern eher auf 0 Uhr versteckt werden. Das ist schade. Ich finde, dass es zu wenige – zudem prominente – dokumentarische Programmplätze gibt, das ist – glaube ich – bei ARD und ZDF identisch. Ich glaube auch, dass die Leute gerne mehr Dokumentationen sehen würden. Wenn allerdings die Öffentlich-Rechtlichen immer wieder dieses Wettrennen gewinnen wollen mit den Privaten und sich gleichzeitig überlegen, mehr Dokumentationen zu senden – diese beiden Bestrebungen schließen sich aus. Sie können entweder an diesem Marktanteil-Fetischismus teilnehmen oder sich wieder erinnern, was ihr Auftrag ist.
** Bei der Autorisierung des Interviews wurden drei Antworten nicht freigegeben.