Herr Messner, in den letzten Jahren ist die Zahl der Fälle, in denen Bergsteiger aus Notsituationen gerettet werden mussten, deutlich gestiegen. Worin sehen Sie dafür die Ursache?
Messner: Die Vorstellung vom Berg hat sich in den Köpfen der meisten Menschen verändert. Das hat mit den Kletterhallen zu tun, die großartige Orte für Kinder, Alte und alle anderen sind, um Sport zu treiben, wo man sich schnell steigern kann. Leute vergessen am nicht so steilen Berg, dass da Steine runterfallen können, dass Schneebretter abgehen und Blitze einschlagen können. Man kann da runterfallen, es gibt Gefahren, die in der Stadt, in der Kletterhalle, nicht vorkommen. In der Kletterhalle springe ich und hänge am Seil. Springe ich am Berg, zerschelle ich. Wir haben vergessen – und da nehme ich mich nicht aus – die Menschen aufzuklären.
Was sind Bergsteiger für Menschen?
Messner: Jeder Bergsteiger ist ein Individuum und ich bin ein sehr ausgeprägtes Individuum. Ich kann für mich sagen: Ich gehe da freiwillig hinauf, um nicht umzukommen. Das ist die Quintessenz. Ich gehe freiwillig in einen Gefahrenraum, von dem ich weiß, ich könnte dort umkommen, aber ich gehe dorthin, um nicht umzukommen. Das ist ziemlich schizophren.
Was treibt Sie auf die Berge? In einem Ihrer Museen steht an der Wand: „Ich wollte einmal hoch hinaufsteigen, um tief in mich hinabzublicken.“
Messner: Das ist eine Aussage, die ich damals am Everest gemacht habe, als ich ihn mit Peter Habeler erstmals ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen habe. Je weiter ich in den Gefahrenraum vordringe, je mehr verstehe ich von meinen Ängsten, Zweifeln, von meiner Menschennatur. Mich interessiert mehr, wie wir Menschen ticken, als der Blick vom Everest auf die anderen Berge. Der ist sehr oberflächlich. Ich habe dort oben nicht die Zeit und auch nicht die Muse. Ich bin da oben ein wenig von der Höhe benebelt, bin nur in Eile und will wieder herunter, weil es so kalt, so windig und so gefährlich ist. Ich will in die Sicherheit. Auch das ist schizophren. Die Freude kommt erst nachher, wenn ich aus allen Gefahren heraus bin. Auch die Erkenntnis, dass das Zurückkommen wie eine Wiedergeburt ist und es langsam die Sorgen und Ängste die vorher da waren, vergessen lässt. Nur so ist es möglich immer wieder Visionen zu entwickeln, zu planen, zu trainieren, die passenden Partner zu finden und wieder aufzubrechen.
Was sind das für Momente, in denen Sie zufrieden auf das Erreichte zurückblicken?
Messner: Ich bin niemand, der der Dinge harrt und sich auf seinen Lorbeeren ausruht. Was ich hinter mir habe ist Teil meiner Erfahrung, ist auch Teil meiner Verantwortung. Das trage ich in meinem Rucksack. Es gibt nicht nur erfreuliche, sondern auch tragische Geschichten. Denken Sie an den Tod meines Bruders, den ich mein ganzes Leben lang mit mir mitschleppe. Getragen werde ich von dem, was ich vor mir habe. Von Visionen, die ich im Kopf habe, die ich umsetzen möchte. Ich bin dem Künstler viel näher, als dem Sportler. Ich wollte nie Rekorde aufstellen. Ich habe immer Visionen ausgebrütet und versucht die umzusetzen. Mein Abenteuer beginnt im Kopf, findet dort aber nicht statt. Im Kopf ist es auch aufregend, es findet aber in der Realität, in der Auseinandersetzung mit der Natur statt. Dabei kannst du umkommen, aber es kann auch gelingen.
Erschöpft sich das nie?
Messner: Ich hatte das große Glück, dass ich immer wieder Widerstände fand. Eine Felswand, die vor mir aufragte und die ich klettern wollte, ist ein Widerstand. Die Eiger-Nordwand in der Schweiz ist ein Widerstand, die ein Kletterer erst aus Büchern kennen lernt und auf die er dann hinauf will. In meinem Leben gab es viele Menschen, die Widerstände aufbauten: Angefangen beim Pfarrer im Dorf, der das ganze als Gottversuchung in der Predigt hingestellt hat, über die älteren Bergsteiger, die meine Haltung als falsch darstellten, weil ich die Götter beleidigen würde. Es gab Bergsteiger, Physiologen und Ärzte, die sagten, es wäre nicht möglich auf 8500 Metern zu atmen, da streike das Gehirn und man würde sterben. Ich habe geschafft, viele dieser Tabus zu lösen, viele Klischees als Klischees zu entlarven. Es geht sehr wohl, wenn man die nötige Erfahrung hat und nicht beim ersten Scheitern hinwirft. Diese Gegnerschaft im Vorfeld, die radikal ausgesprochenen Neins, haben mich zum erfolgreichen Abenteurer gemacht.
Betreiben Sie eine Art Rebellion?
Messner: Ich bin in meinem Leben gezwungen worden zu rebellieren, da ich sonst nie zu einer eigenständigen Persönlichkeit gereift wäre. Uns hat man nach dem 2. Weltkrieg zwar nicht eingesperrt, aber man hat versucht die jungen Menschen zu brechen, was früher faschistische Systeme getan haben und heute noch bestimmte faschistoide Systeme machen. Ich war einer, der als Kind schon dagegen angegangen ist und später in der Öffentlichkeit mit politischen Aussagen und vor allem auch mit meinen Taten dagegen angegangen ist. Auch mit meiner Museumsarbeit. Bis zuletzt gab es Kräfte, die alles daran gesetzt haben, dieses Museum zu verhindern.
Was glauben Sie steckt dahinter?
Messner: Denken wir an Moses: Moses stieg angeblich vom Sinai herab und brachte dem Volk die zehn Gebote. Eine geniale Regelgebung. Er sagte den Leuten: Ich habe in Form eines brennenden Dornbusches Gott gesehen, mit Gott gesprochen. Er hat mir diese Regeln für euch mitgegeben. Hätte ich damals gelebt, hätte ich gesagt: Hochinteressant, da gehe ich mal hinauf und sehe nach. Moses hat den Israeliten verboten nachzusehen. Schlauerweise. Keiner ist hinaufgestiegen. Der Humbug wird bis heute in der Bibel nacherzählt. Eine großartige Berggeschichte, die ich nutze, um über den Berg zu erzählen. Die Erkenntnis kommt von oben, aber vielleicht wäre es gut gewesen, wenn das jemand hinterfragt hätte und hinaufgestiegen wäre. In meiner Zeit gab es keinen Moses. So wichtige Regeln sind nie wieder postuliert worden. Aber es gab viele andere Versuche, Menschen zu gängeln, sie in ihre Schranken zu weisen, sich Menschen Untertan zu machen – gerade in der geistigen Auseinandersetzung. Da war ich ein gebranntes Kind, das von einem strengen Vater in einer sehr katholischen Gegend aufgezogen wurde. In einer verlogenen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg, wo man alle Verantwortung von sich schob. Ich sage absichtlich nicht Schuld, sondern Verantwortung. Ich lernte als Kind ein Leben ohne Eltern kennen, die sich über uns erhoben hätten. Wir Kinder haben uns untereinander die Hörner abgestoßen und uns gegenseitig erzogen. Wir haben auch gemerkt, dass zum Freiraum auch Verantwortung gehört. Dadurch entsteht eine andere Sicht auf die Welt. Eine Erfahrung, die ich schon mit fünf bis zehn Jahren machen durfte und nicht erst mit 50, wenn es meist schon zu spät ist.
In der Kletterhalle springe ich und hänge am Seil. Springe ich am Berg, zerschelle ich.
Sie lagen auch immer wieder im Streit mit Bergsteiger-Kollegen…
Messner: Die Auseinandersetzungen mit der Bergsteigerei in Deutschland haben damit zu tun, dass ich so radikal meinen Weg gehe. Der Fels ist meine Sache. Es geht niemanden auf der Welt etwas an, wie, wo und wann ich eine Felswand hochgehe. Es geht die Leute an, ob ich meine Steuern bezahle, auf der Straße rechts fahre und ob ich besoffen fahre. Das unterliegt dem Bürgerlichen Gesetzbuch – aber nicht, wenn ich durch die Eiger Nordwand steige.
Der Regisseur Andreas Nickel hat nun den Film „Messner“ über Sie gedreht. Wieso waren Sie an einem weiteren Film über sich interessiert?
Messner: Es gab ein paar Dokumentarfilme, die versucht haben, Messner zu erzählen und es gab Joseph Vilsmaiers „Nanga Parbat“-Film, den nur das Verhältnis zwischen den beiden Brüdern interessierte. Ich habe zu Andreas Nickel gesagt: Du musst nur die Tatsachen nehmen und die lebensnah nacherzählen. Was nicht einfach ist, da eine Situation in 8125 Meter nicht nachgestellt werden kann.
Er hat sich dabei mit der Hälfte meines Lebens begnügt, den Abenteurerjahren, Felsklettern, Eisklettern, große Höhe und die großen Sand- und Eiswüsten. Alles was danach kam, blieb außen vor. Er bemüht sich sehr, ein Psychogramm zu zeichnen, was ihm auch sehr gut gelingt. Es ist gegen meine Zweifel gelungen, trotz dieser Serie von Abenteuern, die auf der Leinwand zu sehen sind, einen Spannungsbogen zu halten.
Ein besonderes Element des Films ist die Darstellung Ihres Verhältnisses zur Familie, zum Beispiel das zu Ihrem Vater. Die Auseinandersetzung mit ihm scheint Sie bis heute anzutreiben…
Messner: Das würde ein Bruder von mir unterschreiben, der Psychotherapeut ist. Ich selbst glaube nicht, dass mich mein Vater heute noch antreibt. Mein Vater hatte mit meiner Lebensführung ein Problem, weil er sich sorgte, dass ich unter der Brücke lande. Alle Brüder sind Akademiker geworden, haben einen seriösen Beruf ergriffen. Ich habe alles andere als einen seriösen Beruf. Mein Vater hätte gerne gesehen, dass auch ich ein Studium zu Ende bringe und Architekt oder Ingenieur werde – und nebenbei Bergsteigen gehe. Vielleicht sogar einmal in den Himalaja. Er wusste, dass ich das mit Leidenschaft betreibe. Mein Vater hatte riesige Angst, dass ich mich mit dem Kauf meiner Burg wirtschaftlich übernehme. Abgesehen davon, dass es nicht zu einem Bergsteiger, einem Süd-Tiroler Dorfbub, passt, sich mit 40 eine Burg zu kaufen.
Warum war er so skeptisch?
Messner: Er hat die Hintergründe nicht verstanden. Als ich mir mit 42 einen Bergbauernhof gekauft habe, war das für ihn, für seine Lebenshaltung, die größtmögliche Sicherheit. Auch für mich. So habe ich mich meinem Vater angenähert, ohne ihm etwas beweisen zu müssen. Ich bin schon mit zwölf dort hinauf geklettert, wo er nicht hinauf klettern konnte. Was mich gestört hat, war, dass er versuchte uns eine Lebenshaltung aufzudrängen, die beengt hat, anstatt Freiräume zu schaffen. Für mich war schon sehr früh das selbstbestimmte Leben ein Heiligtum. Ich werde meinen Kindern und Freunden nie einen Lebensweg vorschreiben.
Ihre Mutter hat unter dem Tod des Bruders sehr gelitten. Wie hat das Ihr Verhältnis verändert?
Messner: Meine Mutter war die verständnisvollste Person, die man sich vorstellen kann, im Versuch den ersten Tod eines Sohnes zu begreifen, den ich ihr verloren habe. Nicht sie. Später kam ein zweiter Bruder beim Klettern um, das habe ich damals erst Monate später erfahren, weil ich im Himalaja war. Das war eine schwere Belastung für meine Mutter. Meine Mutter war aber von Beginn an die einzige, die es mir nie vorgeworfen hat. Auch nicht stillschweigend.
Ihre Brüder haben Ihnen Vorwürfe gemacht?
Messner: Mit den Brüdern ist das schwieriger, weil die nicht begreifen konnten, wie das passiert war. Das kann niemand begreifen, der nicht dabei war. Deswegen hat im Grunde niemand das Recht, auszulegen oder zu erfinden, wie es gewesen sein könnte. Wie es gewesen ist, ist die einzig interessante Tatsache und die Verantwortung dafür bleibt ausschließlich bei mir. Das schmerzt natürlich viele andere. Meine Brüder haben durch den Marsch zum Fuß des Nanga Parbat die Möglichkeit erhalten, Abschied von unserem Bruder zu nehmen und zu begreifen, indem sie vom Fuße des Berges Lawinen abgehen sahen.
Wenn es durch den Film gelingt die Masse an Menschen von den Bergen abzuhalten, da sie durch mich einen Stellvertreter für die Erfahrungsmöglichkeit haben, dann haben wir viel erreicht.