Ricardo, Max, ihr habt kürzlich die CD "Re:ECM" rausgebracht, für die ihr Stücke bearbeitet habt, die auf dem Label ECM erschienenen sind. ECM veröffentlicht vor allem Jazz und zeitgenössische klassische Musik – wie kam das Projekt zustande?
Villalobos: Wir kennen ECM schon sehr lange, als Plattensammler kennt man das Label. Es war auch ein großer Einfluss. Man sucht ja immer Dinge, um die Clubmusik interessanter zu machen, um auf einer Gefühlsebene eine Variation zu finden. Und da habe ich irgendwann angefangen, ECM-Sachen in meine DJ-Sets reinzumischen. Weil die sehr viel Raum haben und oft auch sehr alleine dastehen… Irgendwann kam dann jemand von Universal Music mit der Idee zu mir, etwas mit ECM zu machen, im Sommer 2009 haben wir dann das erste Stück produziert, elektronische Musik mit einem ECM-Track gemischt.
Wie stand denn Manfred Eicher (Gründer von ECM) zu dem Projekt?
Villalobos: Als wir fünf Stücke fertig hatten, war Eicher bei uns im Studio. Er war recht angetan und hat gesagt, wir könnten aus dem ECM-Katalog alles verwerten, was wir wollten.
Auch Arvo Pärt?
Villalobos: Ja, klar.
Loderbauer: Am Anfang hieß es noch, dass Jarrett und Pärt nicht möglich wären, doch später meinte Manfred Eicher, es würde alles gehen. Wobei wir Jarrett am Ende nicht gemacht haben.
Warum ist es keine Technoplatte geworden?
Villalobos: Es ging darum, den Raum, den ECM bietet, mit dem Raum, den wir als elektronische Musiker bieten können, zu kombinieren, so, dass nicht alle Frequenzen repräsentiert sind. Bei 4-to-the-floor-Stücken hast du ja immer vier gleiche Räume zwischen der Bassdrum.
Loderbauer: Uns war es auch wichtig, die Dynamik, die auf ECM-Platten vorhanden ist, elektronisch beizubehalten.
Villalobos: Und wenn du einen Beat von 128 bpm hast, dann bleibt dazwischen nicht mehr sehr viel Platz für die Dynamik. Deswegen sind die Beats auf unserer Platte oft gebrochen und dann halb so schnell. Ich bringe natürlich ab und zu Alben mit 4-to-the-floor-Stücken raus, aber im Großen und Ganzen habe ich mich von dem offensichtlichen 4-to-the-floor-Tanzzwang-Stil schon ein bisschen emanzipiert und wegbewegt.
Welcher Wunsch verbindet sich für euch mit dem Projekt?
Villalobos: Es geht um das Gefühl für Raum und für punktuelle Gefühlsanstöße, die die Musik von ECM auszeichnet. Bei den Aufnahmen gibt es viele langsame sich entwickelnde Sounds, sehr viel Platz zwischen den Tönen und Musikern, wir haben versucht, etwas drumherumzubauen, mit Elektronik zu kombinieren und den Raum beizubehalten.
ECM zeichnet sich sowieso schon dadurch aus, verschiedene Musikrichtungen miteinander zu kombinieren. Insofern geht es auch darum, die Definition der Musik aufzuheben. In der Clubmusik gibt es sehr viele Unterscheidungen, zwischen House, Micro House, Minimal usw. Aber das ist nicht förderlich für die Musik sondern eher eine Einigung zwischen Journalisten, damit sie über die Sachen schreiben können. Auch Definitionen und Ansichten darüber, dass bestimmte Sachen nicht zusammen passen, sind nicht förderlich. Wir finden, dass man Musik als Ganzes sehen muss, um sie auch wirklich frei genießen zu können.
In den letzten Jahren haben mehrere elektronische Musiker Platten mit Klassikbearbeitungen veröffentlicht, darunter Jimi Tenor, Matthew Herbert und Carl Craig, Jeff Mills ließ seine Musik von einem Orchester nachspielen und Francesco Tristano spielt Techno-Klassiker auf dem Klavier. Was ist der Grund für diese Vielzahl von Projekten?
Villalobos: Das sind Marketing-Ideen. Den Plattenfirmen geht es darum, neue Felder aufzumachen, Hörerschaften, die nur Clubmusik hören, mit der Hörerschaft der Klassik zu vermischen – um halt einfach neue Marktfelder zu erschließen.
Loderbauer: Bei uns war aber die Grundlage, dass wir uns musikalisch ECM sehr verbunden fühlen. Wir haben nicht versucht, ECM in einen Club-Kontext zu transportieren, sondern wir wollten, dass es eine Hörplatte für sich ist.
Passt Klassik eigentlich zu 4-on-the-floor?
Loderbauer: Ich finde nicht.
Villalobos: Nicht unbedingt, deswegen haben wir das auch nicht gemacht. Natürlich gab es in der Anfangszeit des Sampler Clubmusik mit String-Samples und Orchesterhits, es gab auch Rondo Veneziano. Aber im Großen und Ganzen ist es schwer, das miteinander zu kombinieren, so dass es musikalisch einen Sinn ergibt. Es gibt bestimmte Sachen, die man mit 4-on-the-floor mischen kann. Das Verlangen nach Melodie ist im Clubkontext auch schon recht groß, weil dort der Rhythmus maßgeblich ist und die Melodien teilweise sehr einfallslos sind. Es ist für einen selbst als DJ ja auch interessanter so etwas zu machen als einfach nur Rhythmus abzufeuern.
Ricardo, du hast vor zwei Jahren für die Recomposed-Reihe der Deutschen Grammophon aus einem Mussorgsky-Stück aus „Bilder einer Ausstellung“ einen Minimal-Track gemacht. Wie bist du da rangegangen?
Villalobos: Das war überhaupt nicht einfach. Man muss die Sachen mit sehr viel Respekt behandeln, es muss einen Sinn ergeben, wenn man mit Samples und der Rhythmisierung der Klassikparts umgeht, es darf nicht cheesy sein.
Seit wann beschäftigst du dich schon mit klassischer Musik?
Villalobos: Als Hörer schon mein Leben lang, meine Eltern haben sehr viel Klassik gehört.
Man hat als DJ eine Art von Lehrer-Rolle. Und einen guten Lehrer zeichnet natürlich aus, dass er auch über den normalen Lehrplan hinausgeht.
Du hast mal gesagt, dass dich elektronische Musik weniger inspiriert als andere Musikrichtungen…
Villalobos: Ja, das stimmt. Ich beschäftige mich zum größten Teil mit elektronischer Musik weil ich DJ bin. In letzter Zeit ist es so, dass ich verstärkt Jazz, Klassik und auch irgendwelche anderen Formen von Musik höre. Man muss universell an Musik interessiert sein.
Bereust du es immer noch, dass du nie Klavier oder Gitarre gelernt hast?
Villalobos: Heute nicht mehr so sehr. Aber generell kann man es immer bereuen, wenn man ein bestimmtes Instrument nicht gelernt hat, das man sehr mag. Ich hätte ja auch um ein Haar… Also, als ich acht oder neun Jahre alt war hatte ich so eine Bontempi-Orgel da habe ich ein paar Jahre drauf gespielt, immer zu Weihnachten und solche Sachen. Aber dann ist meiner Mutter eine Terpentinflasche auf die Orgel gefallen…
Und?
Villalobos: Da hat sich die Tastatur leider verflüssigt. Meine Eltern haben dann auch keine mehr nachgekauft, obwohl ich da schon drei Jahre am machen war. Ich glaube, mein Vater wollte auch nicht, dass ich Unterricht nehme, weil seine beiden Geschwister früher immer geübt haben, Gitarre und Klavier, die ganze Zeit, das hat ihn total genervt. Aber ich habe dann mit 13, 14 angefangen, Percussion und Schlagzeug zu spielen.
Du bist jedenfalls auch ohne Klavier zum Ziel gekommen…
Villalobos: Im Großen und Ganzen geht es darum, eine Sprache zu finden, um sich mit Musik auszudrücken und dass man als Sender einen Empfänger findet. Als DJ spielt man auf eine gewisse Art und Weise auch ein Instrument, oder wenn man im Studio elektronische Musik macht und versucht, frequenzmäßig ein Gleichgewicht zu schaffen, zwischen Bass, Hi-Hats und Melodie-Instrumenten. Dabei schlüpft man in die Rolle von verschiedenen Musikern.
Aber es ist natürlich förderlich, auch ein richtiges Instrument zu spielen. Du bist als elektronischer Musiker ja so eine Art Filter, aus deiner gesamten musikalischen Hörerfahrung, deines ganzen Lebens filterst du raus, was du für gut oder schlecht hältst. Und wenn du ein Instrument spielst, bedeutet das, dass du sich sehr viel mit Musik auseinandersetzt. Das schleift diesen Filter, den man dann später im Studio benutzt, um zu sagen, das ist gut, das ist schlecht, was ich da gemacht habe, das ist sinnvoll oder nicht sinnvoll – um diese Entscheidungsprozesse und Filterungsprozesse geht es im Prinzip bei elektronischer Musik.
Du hast mal gesagt, dein Ziel sei es bei deinen Produktionen, dass die elektronische Musik so klingt wie akustische…
Villalobos: Das ist genau das, was wir jetzt gemacht haben, mit ECM in die Nähe von dem zu kommen. Wenn du deine elektronische Frequenz-Definition mit diesen Räumen in der ECM-Musik kombinierst, dann muss das ja irgendwie dazupassen. Diese Klangästhetik hat einen so hohen Standard, wie die Räume aufgenommen sind, wie die Mikrofone aufgebaut sind, die Entfernung zum Instrument etc. – da liegt ja schon sehr viel Wissen und Erfahrung vor. Und da muss man versuchen, mitzuhalten, wenn man sich mit der elektronischen Musik auf diese Ebene begibt.
Aber dass elektronische Musik wie akustische klingt – schließt sich das nicht eigentlich aus?
Villalobos: Ja, aber man kann dem zumindest nahe kommen. Man hat natürlich definierte Frequenzgänge, es sind halt umfangreichere Frequenzgänge, wenn man einfach nur ein Soloinstrument in einem Raum aufnimmt. Das kann man mit digitalen Reverbs nicht genauso hinbekommen, sondern das sind digital erfundene Räume. Das menschliche Gehör kann man in Sachen Raum und Hallerfahrung einfach nicht betrügen.
Deine DJ-Sets sind oft auch ein Stückweit experimentell, mal ist Jazz zu hören, Volksgesänge, afrikanische Trommeln – wie wichtig ist es dir bei deinen Sets, über den Aspekt der Unterhaltung hinaus, deinem Publikum etwas zu vermitteln?
Villalobos: Ich denke, es geht immer darum, Vereinfachungen zu finden, egal ob du als Vater vor deinen Kindern stehst, als Künstler vor den Konsumenten oder als Politiker. Clubmusik ist eine Vereinfachung von Musik, um praktisch etwas zu vermitteln. Man hat eine Art von Lehrer-Rolle, ja. Und einen guten Lehrer zeichnet natürlich aus, dass er über den normalen Lehrplan hinausgeht, auch individuell auf Schüler eingeht. Man hat eine Vermittlerrolle, man muss eine gemeinsame Sprache finden, eine Sprache, die verstanden wird. Man muss sich da selber auch als Tänzer sehen, man kann nicht davon ausgehen, dass man seine Lieblingsmusik spielt, und das müssen dann alle fressen.
Es geht darum, diese vereinfachte Situation im Club, die viele Leute zusammenbringt, mit etwas auszuschmücken, was darüber hinausgeht. Und wenn das die Leute anspricht, untermauert das auch deine Position als DJ.
Also geht es nicht nur um Vereinfachung sondern auch um Komplexität?
Villalobos: Diese Vereinfachung von Rhythmen in der Clubmusik, ist das, was alle verstehen und weswegen sie in den Club kommen, um gemeinsam zu tanzen. Aber darüber hinaus würde es mich langweilen, wenn es nur Rhythmus wäre.
Allerdings, dass man die versucht die Leute zu „erziehen“, das wäre glaube ich nicht der richtige Ausdruck. Denn wenn man versucht, jemand zu erziehen, dann bedeutet das ‚erhobener Zeigefinger’, und das wiederum heißt: Ende der Kommunikation. In dem Moment stellst du dich über die Person, mit der du kommunizierst, dann funktioniert Kommunikation nicht mehr. Wenn jemand über dich sagt, dass du mit dem Zeigefinger Clubmusik machst, nach dem Motto „das müsst ihr auch hören“, dann ist die Kommunikation schon gescheitert. Die Kommunikation muss immer auf der gleichen Ebene stattfinden.
Wie viel Prozent deiner Sets sind Kunst, wie viel Unterhaltung?
Villalobos: Das kann man so nicht sagen. Kunst ist erst dann Kunst, wenn es jemanden anderen interessiert, eine Person mehr als du selbst, das ist das Grundprinzip. Mit dieser Definition kann man der Sache viel näher kommen, weil Kunst ja auch Unterhaltung ist, dafür ist sie da, deswegen existiert sie ja überhaupt. Ich bezeichne mich nicht als Künstler, weil ich Künstler sein will, oder weil meine Eltern reich sind und ich mir das leisten kann, Künstler zu sein, sondern weil es andere Leute gibt, die etwas mit dem anfangen können, was ich mache. Das ist die einzige Definition, die man gelten lassen kann.
Zum Schluss noch eine ganz andere Frage: Vor einem Jahr ereignete sich die Katastrophe auf der Loveparade in Duisburg. Kannst du dich erinnern, wie und wann du davon erfahren hast?
Villalobos: Ja, ich war in Belgien auf einem Festival, ich habe während des Auflegens davon erfahren. Da war die Stimmung nicht sonderlich… also für mich war es nicht besonders toll.
Dafür, dass schon so lange nichts passiert ist, wenn Menschen gemeinsame Interessen haben und an einen Ort gehen – das passiert bei Konzerten, bei Fußballspielen, bei Partys… Vielleicht muss das mal passieren, vielleicht mussten die Leute von der Organisation mal Fehler machen, damit das mal passiert. Aber im Großen und Ganzen wird das weiter so gemacht, es werden trotzdem Leute durch ein Nadelöhr in Fußballstadien gedrängt… Und so etwas kann passieren. Früher ist mal ein Feuer ausgebrochen und dann ist das auch passiert. Es passieren immer wieder solche Sachen bei Massenveranstaltungen.
Du hast am Abend desselben Tages noch in Berlin aufgelegt. Wäre es für dich auch eine Option gewesen, den Gig abzusagen?
Villalobos: Nein, das konnte ich nicht. Das war die Party einer chilenischen Freundin anlässlich 200 Jahre Unabhängigkeit von Chile – das konnte ich nicht absagen. Aber es färbt natürlich sehr auf die Stimmung ab, ganz klar.