Richard Z. Kruspe

Ich bin ruhiger geworden.

Richard Kruspe, Gitarrist von Rammstein, spricht im ausführlichen Interview über sein Verhältnis zu Berlin, sein Nebenprojekt Emigrate, englische Texte, DJ-Unterricht, die Arbeit am siebten Rammstein-Album und warum er trotz des Welterfolgs nie wirklich abgehoben ist.

Richard Z. Kruspe

© Bryson Roatch

+++ Das folgende Interview entstand im Herbst 2018. Es wurde zuerst in englischer Fassung im „Zoo Magazine“ veröffentlicht. +++

Richard, vor einigen Jahren bist du aus Deutschland ausgewandert, hast mehrere Jahre in New York gelebt und bist 2011 wieder nach Berlin zurückgekehrt. Welche Bedeutung hat der Name deines Nebenprojekts „Emigrate“ für dich heute?
Richard Kruspe: Es ist ein Ansporn, so oft wie möglich die eigene ‚Comfort Zone‘ zu verlassen. Sich nicht festzulegen, sondern sich zu öffnen und neue Seiten kennen zu lernen. Wenn man über viele Jahre in der gleichen Band ist, wie ich in Rammstein, dann weiß man ja genau wie jeder funktioniert, wie du selbst in dieser Konstellation funktionierst, wie du getriggert wirst usw. Das ist bei einem Projekt wie „Emigrate“ anders, weil da ständig das Team wechselt. Da triggern andere Leute andere Seiten von dir.

Ist Berlin nun wieder Ihre Heimat, oder denkst du manchmal noch ans Auswandern?
Kruspe: Ich war vor zwei Wochen in meiner Alten Heimatstadt Schwerin, beim 60. Geburtstag von Gert Reichelt. Er war Sänger von „Das elegante Chaos“, der ersten Punkband in Schwerin und auch mein musikalischer Ziehvater. Bei seinem Geburtstag habe ich mich mit Freunden von früher unterhalten, die genauso wie ich weggezogen sind, dann aber irgendwann wieder nach Schwerin heimkehrten, weil sie dieses Heimatgefühl haben.

Hast du das auch?
Kruspe: Nein, überhaupt nicht. Weder dort noch hier. Wenn ich von einer Reise nach Berlin zurückkomme, denke ich nicht an Heimat, im Sinne von Heimatstadt. Es ist eher so, dass ich mir meine eigene Heimat baue. Das Haus, in dem wir uns hier befinden, habe ich gekauft, ich hole mir hier Leute rein, die ich mag und baue mir so meinen eigenen Kosmos. Dieser Kosmos könnte aber genauso auch in Südafrika sein.
Ich habe auch nie eine große Liebesbeziehung zu Berlin gehabt, weil ich die Stadt immer als sehr destruktiv empfunden habe. Mittlerweile öffnet sie sich, aber früher war es mir hier zu elitär und zurückweisend.

Nicht weit von hier war der Knaack Club, wo ihr mit Rammstein die ersten Konzerte gegeben habt. Wirst du nostalgisch, wenn du heute an dem Gebäude vorbeigehst?
Kruspe: Da gibt es andere Punkte, die dort für mich eine Rolle spielen. Unseren Proberaum hatten wir damals gegenüber vom Knaack, dort haben wir sehr viel Zeit verbracht und damit verbinde ich natürlich viele Erinnerungen.

Der Club Knaack fiel 2010 der Gentrifizierung zum Opfer…
Kruspe: Das sieht man leider an vielen Orten, Künstler machen einen Bezirk interessant, dann ziehen die anderen nach, die Mieten gehen hoch und irgendwann können sich die Künstler selbst das nicht mehr leisten. Der Prenzlauer Berg ist deswegen auch ein sehr langweiliger Stadtteil geworden. Hätte ich zu diesem Bezirk keinen persönlichen Bezug würde ich wahrscheinlich in Kreuzberg wohnen. Wobei ich als Vater auch etwas Positives sehe: Es gibt hier wahnsinnig viele Spielplätze.

Aber diese Verdrängung, ließe sich der etwas entgegensetzen?
Kruspe: Mir gefällt ja die Idee, zu sagen, dass jedes Wohnhaus mindestens einen Künstler integrieren muss. Ich kenne solche Projekte aus Soho/New York. Ich weiß nicht, ob sich Vermieter hier darauf einlassen würden und ob die Künstler selbst das überhaupt wollen. Aber es wäre zumindest ein Ansatz, um wieder ein bisschen Leben und mehr Farbigkeit in die Bude zu bekommen. In meinem Haus probiere ich das jedenfalls.

Zitiert

Emigrate ist für mich ein Gegenstück zu Rammstein.

Richard Z. Kruspe

Nun sitzen wir hier in deinem Home-Studio. Und dein Projekt Emigrate ist genau genommen eine reine Studio-Band, denn ihr tretet nicht live auf. Oder gibt es inzwischen doch Live-Pläne?
Kruspe: Nein, dafür ist schlicht keine Zeit da. Emigrate ist für mich ein Gegenstück zu Rammstein, ein Gleichgewicht, das in dieser Form auch wirklich Sinn macht. Wenn ich anfangen würde, mit Emigrate live zu spielen, könnte es sein, dass ich Blut lecke und dann noch mehr machen will. Doch dann würde dieses Gleichgewicht nicht mehr funktionieren.

Der Ansatz, als Band nur aufzunehmen und nicht live zu spielen, ist ziemlich anachronistisch.
Kruspe: Warum?

Weil die Tonträger-Verkäufe zurückgehen und Bands immer mehr auf Einnahmen durch Live-Auftritte angewiesen sind.
Kruspe: Aber darauf bin ich nicht angewiesen, Emigrate ist kein wirtschaftliches Projekt. Hätte ich nur diese eine Band hätte, würde es wahrscheinlich anders aussehen.
Emigrate entstand zu einer Zeit, wo ich anfing, viele Songs zu schreiben und mich dann fragte: Was mache ich jetzt mit denen? Es ist für mich auch eine Möglichkeit, mit anderen Musikern zusammenzuarbeiten, was mir großen Spaß macht. Im Gegensatz zu Rammstein ist es ein sehr offener Kosmos. Einen wirtschaftlichen Aspekt gibt es aber nicht, im Gegenteil, ich zahle drauf – und das ist OK so. Das ist reine Leidenschaft.
Die Frage nach Konzerten kommt natürlich immer wieder. Ich habe deswegen auch mal überlegt, ob ich mit Emigrate vielleicht eine DJ-Tour mache.

Zu DDR-Zeiten warst du ja schon mal Disc-Jockey, genau genommen „Schallplattenunterhalter“.
Kruspe: Korrekt. Mit dem heutigen DJing war das allerdings kaum zu vergleichen. Man hatte zwar auch zwei Plattenspieler, aber zwischen den abgespielten Songs musste man moderieren, einen Kommentar abgeben, eine Art Bridge bilden.
Für Emigrate habe ich mir mal einen Lehrer besorgt, der mir gezeigt hat, was man mit der heutigen DJ-Technik alles machen kann, das war sehr interessant. Allerdings hat er mir von einer DJ-Tour abgeraten.

Aus welchem Grund?
Kruspe: Meine Idee war, Rock mit Electro zu verbinden, also auch Songs zu mixen, mit Effekten zu arbeiten. Aber da meinte mein Lehrer: Vergiss es, das funktioniert null! Wenn du Rock auflegst, darfst du auf keinen Fall die Songs verändern. Die Rockfans wollen nicht, dass du irgendwas loopst, sondern die wollen das Original. Und die Electro-Leute wollen keine Gitarren hören. Da musste ich erstmal lernen, wie diese DJ-Welt funktioniert. Tommy Lee, der Drummer von Mötley Crüe, hat das schon mal probiert und ist damit ziemlich auf die Nase gefallen.

Du hast bei „Emigrate“ u.a. mit Peaches, Marilyn Manson, Lemmy und Ben Kowalewicz von Billy Talent zusammengearbeitet. Sind große Rock-Musiker in der Zusammenarbeit eher schwierig oder völlig unkompliziert?
Kruspe: Unterschiedlich. Die Arbeit mit Marilyn Manson war schwierig, Lemmy dagegen war super easy, er ist ins Studio gegangen, hat es eingesungen, fertig. Jetzt ist bei dem Song „I’m afraid“ Tobias Forge von Ghost dabei (alias Cardinal Copia). Als ich den das erste Mal fragte, ob er Kollaborationen macht, hat er abgewunken. Dann habe ich ihm den Song vorgespielt, er hat sich den angehört und dann meinte er spontan: Mach ich. Manchmal muss man auch hartnäckig sein.

Bei Emigrate singst du auf Englisch. Fühlst du dich im Englischen wohler als im Deutschen?
Kruspe: Gute Frage. Musikalisch gesehen war mir der angloamerikanische Bereich immer schon näher als der deutsche. Da habe ich früher auch viele Songs mitgegrölt, obwohl ich den Text nicht verstanden habe. So bin ich aufgewachsen.
Wenn ich heute Songs schreibe, verläuft das sehr intuitiv, irgendwann kommen Wörter raus, darauf baust du den Song auf – und dieser intuitive Anfang, der ist bei mir immer englisch. Den müsste ich also ins Deutsche übersetzen, aber das macht keinen Sinn.

Dennoch gibt es auf dem aktuellen „Emigrate“-Album einen deutschen Text, gesungen von deinem Rammstein-Kollegen Till Lindemann.
Kruspe: Ja, Till kann natürlich auch Englisch, aber seine Stärke ist ganz klar das Deutsche, da hat er eine wunderbare Poesie. Den Song „Let’s Go“ wollten wir schon vor einiger Zeit zusammen aufnehmen, das fanden die anderen aber nicht so gut – also haben wir es erstmal sein lassen.
Till und ich funktionieren sehr gut zusammen, wir sind lange befreundet und in „Let’s Go“ spiegelt sich auch unsere gemeinsame Geschichte. Kurz vor der Wende hatten wir in Schwerin so eine Art Wild-West-Zeit, wo wir lustige kriminelle Dinge gemacht haben…

Kriminelle Dinge?
Kruspe: Ach ja, irgendwelche Imbiss-Buden überfallen – aber darüber reden wir jetzt lieber nicht. (lacht)

© Gregor Hohenberg

Ich habe mir zur Vorbereitung einige ältere Interviews angeschaut und ein wiederkehrendes Thema war, dass du selten zur Ruhe kommst und dein Gefühl, nur dann etwas wert zu sein, wenn du musikalisch aktiv bist. Hat sich diese Unruhe inzwischen etwas gelegt?
Kruspe: Zum Teil. Ich denke, ich bin ruhiger geworden, was sicher auch etwas mit dem Alter zu tun hat. Aber dieses Wertigkeitsprinzip, da weiß ich nicht, ob das jemals aufhören wird. Vielleicht will ich das auch gar nicht, weil das einfach mein Antrieb ist.
Ich arbeite aber zum Beispiel nicht mehr nachts. Früher habe ich nächtelang durchgearbeitet, mit allen Substanzen dieser Welt – das mache ich nicht mehr. Man verbringt auch Zeit mit den Kindern. Ich bin vor fünf Jahren zum zweiten Mal Vater geworden und jetzt gibt es viele Momente, wo ich lieber Zeit mit meiner Tochter verbringe als ins Studio zu gehen.

Klingt deshalb die Musik von Emigrate ein Stück weit versöhnlicher als die von Rammstein?
Kruspe: Ich würde sagen, sie klingt persönlicher. Aber ‚versöhnlicher‘? – Der Zündstoff bei Rammstein ist natürlich ein ganz anderer als bei Emigrate, dort sind wir sechs Leute, hier gibt es erstmal nur mich alleine. Vielleicht ist bei mir der Zündstoff versöhnlicher, kann sein. Das hängt aber auch davon ab, in was für einer Zeit man ein Album schreibt.
Klar, ich bin jetzt nicht mehr 20, damals haben wir uns in den Proberaum gestellt und vier Stunden mit aufgerissenem Verstärker Musik gemacht. So etwas mache ich nicht mehr, da verändert man sich, auch als Rockmusiker.

Mit Ausnahme von Lemmy vielleicht.
Kruspe: Das stimmt. Da fällt mir aber auch ein, dass der Song, den wir mit Lemmy gemacht haben, aus einer Live-Session entstanden ist. Da war ich zuerst nur mit meinem Drummer Mikko im Studio und hab gesagt: Lass uns mal ausprobieren, wie es klingt, wenn wir den Song super schnell spielen. Aus dieser wilden Session heraus kamen wir dann auf die Idee, Lemmy zu fragen.
Prinzipiell bin ich aber – auch bei Rammstein – jemand, der schon immer ein gesundes Gefühl für Pop hatte, für eingängige Melodien. So etwas finde ich generell gut. Auch früher schon, meine ganzen Metal-Freunde hat es immer gestört, dass ich genauso Bands wie Depeche Mode gut fand. Da habe ich immer schon eine große Bandbreite gehabt. Das gibt es auch bei anderen, All Jourgensen von Ministry zum Beispiel, der hat auch ein Händchen für eingängige Phrasen. Ich würde so etwas aber nicht unbedingt als ‚versöhnlich‘ bezeichnen, sondern wenn du es schaffst, so was zu schreiben, dann ist das Kunst. Pop-Kunst.

0_emigrate_a-million-degrees_coverIch meinte mit ‚versöhnlich‘ Songs wie „You Are So beautiful“…
Kruspe: Der ist poppig, ja. Vielleicht hast du auch Recht, vielleicht braucht man das Alter, um drüber zu stehen, um sagen zu können: Das ist OK für mich. Weil man nicht mehr das Gefühl hat, sich selbst und anderen etwas beweisen zu müssen.

Ein anderer Song heißt „We Are together“. Worauf bezieht sich der Titel?
Kruspe: Auf die Band, auf Rammstein. Auf die Tatsache, dass wir schon so lange zusammen sind, dass diese Chemie auch nur so funktioniert, wenn wir sechs zusammenbleiben.

Wann ist der Song entstanden?
Kruspe: Den habe ich auch schon 2015 geschrieben.

2017 hast du dann aber eine Journalistin ziemlich erschreckt, als du im Interview meintest, du hättest das Gefühl, das nächste Rammstein-Album sei das letzte Album.
Kruspe: Für mich ist das nächste Rammstein-Album immer das letzte Album, prinzipiell. Weil der ganze Entstehungsprozess ziemlich ermüdend ist, es fällt mir schwer, mich auf dieses Tempo zurückführen. Auf der anderen Seite bin ich aber auch der Prediger, der sagt: „We are together, as one as we stay“. Wir reden natürlich in der Band darüber. Es gibt Stimmen, die sagen „wir können das so weiter machen“…

und was ist deine Meinung?
Kruspe: Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich ein Getriebener bin, aber ich habe schon das Gefühl, dass in meinem Leben noch etwas Anderes wartet. Es kann ja nicht sein, dass ich jetzt Rammstein und Emigrate bis an mein Lebensende mache, oder? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass da irgendwas noch kommen muss. Ein anderer Ansatz vielleicht. Das berede ich auch mit den Jungs.

Die Arbeit am siebten Rammstein-Album war also eher schwierig?
Kruspe: Schwierig nicht, aber langwierig. Und ich muss sagen, die Arbeit war super ehrlich und sehr respektvoll. Ich hatte das Gefühl, dass wir wieder am Anfang angekommen sind, wie als wenn sich ein Kreis geschlossen hat. Das hat mich fasziniert. Auch meiner Person gegenüber gab es wieder eine Akzeptanz und Respekt. Das war in den Jahren davor nicht immer so einfach. Aber es hat eben tierisch lange gedauert. Vier Jahre, da habe ich oft das Gefühl: Ich habe nicht mehr so viel Zeit.

Könnte Emigrate so etwas wie deine Altersvorsorge sein?
Kruspe: Finanziell nicht.

Ich meinte das eher in kreativer Hinsicht, eine Altersvorsorge für deinen Schaffensdrang.
Kruspe: Nein. Ich kreiere gerne, aber das Ergebnis müssen nicht unbedingt Songs sein. Ich wollte zum Beispiel immer ein Haus bauen. Also habe ich vier Jahre eins gebaut, das war eines der schwierigsten Projekte in meinem Leben, aber es ist super schön geworden. So etwas interessiert mich genauso. Und dann habe ich zum ersten Mal das Skript für einen Videoclip geschrieben, für „You Are So Beautiful“. Das Video haben wir in L.A. mit meiner Tochter gedreht, sie war das erste Mal vor der Kamera. Sie hat das toll gemacht, da bin ich total happy.

In dem Clip geht es um ein Mädchen, dass zwei Väter hat: einen langweiligen Stiefvater, der sich kaum um sie kümmert und ihren richtigen Vater, der ein Rockerleben führt…
Kruspe: …der seine Tochter liebt, es aber es nicht so richtig auf die Reihe kriegt. Da steckt natürlich auch ein Stück meiner eigenen Geschichte drin. Man bringt immer etwas ein, was man selbst erlebt oder gefühlt hat. Es ist aber nie 1:1, sondern manchmal übertreibt man, mal verändert oder verzerrt man die Dinge.

Du hast früher öfter in Interviews darüber gesprochen, dass du dich von deiner Mutter gegenüber deinem Bruder vernachlässigt gefühlt hast. Gab es irgendwann eine Aussprache darüber mit deiner Mutter?
Kruspe: Klar, da gab es Möglichkeiten. Ich habe versucht, Therapien zu machen, um das zu thematisieren, ich habe auch mit meiner Mutter darüber gesprochen. Das Problem ist, dass jeder davon eine andere Wahrnehmung hat, insbesondere nach so vielen Jahren. Da musst du dann irgendwann deinen Frieden mit machen. Aber es sind eben Dinge, die dich prägen. Und wenn man so eine Kindheit gehabt hat, ist man froh, einen Output zu finden für seine Gefühle. Wenn man den nicht hat, passiert es oft, dass man solche Kindheitserlebnisse später in die eigene Familie trägt. Das habe ich aber nie gemacht, zum Glück.

Ich wollte mit dir noch über den Song „War“ sprechen, in dem du davon singst, dass wir Menschen bewusst in Angst gehalten werden. („War, this it what it sounds like, to keep us terrified“)
Kruspe: Da geht es um Kommerzialisierung von Krieg, um Krieg durch Medien. Als ich den Song geschrieben habe, habe ich noch in New York gelebt. Und in den USA ist die Kriegs-Berichterstattung ja noch anders als in Deutschland. Wie damals der Einmarsch der USA im Irak berichtet wurde, da bin ich wütend geworden.

Gibt es das öfter, dass dich etwas wütend macht und du darüber einen Song schreibst?
Kruspe: Es gibt viele Themen, die mich aufregen, aber ich mag es überhaupt nicht, das in die Öffentlichkeit zu tragen. Da bin ich das Gegenteil von jemand wie Bono. Im Fall von „War“ kam das allerdings ganz natürlich aus mir raus und das war dann OK für mich. Es soll aber nicht wie der erhobene Zeigefinger rüberkommen.
Natürlich mache ich mir auch sehr viele Gedanken über das Leben und reflektiere, ich bin ein politisch denkender Mensch. Aber ungern in der Öffentlichkeit, sondern viel lieber im persönlichen Gespräch. Innerhalb von Rammstein reden wir auch viel über Politik, was interessant ist.
Ansonsten denke ich: Bevor du auf der Bühne über solche Probleme redest musst du erstmal versuchen, dein eigenes Leben auf die Reihe zu kriegen. Und das ist schwer genug.

Ist es dir eigentlich schwer gefallen, angesichts des Welterfolgs von Rammstein ‚auf dem Teppich zu bleiben‘?
Kruspe: Nein. Vermutlich, weil unser Erfolg erst relativ spät kam. Das Alter spielt da eine wichtige Rolle, wenn du so einen Erfolg mit 18, 19 hast, dann drehst du wahrscheinlich durch.
Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass wir aus dem Osten kamen. Wir hatten immer das Gefühl: Irgendwas stimmt hier nicht, das kann alles nicht wahr sein. Fast wie so eine Art Schuldgefühl. Und dann sind die Deutschen generell nicht so wie die Amerikaner, die einen Erfolg so wahnsinnig nach außen kehren. Und die Ostdeutschen tun das nochmal weniger.

Du bist also nicht abgehoben?
Kruspe: Ich glaube nicht. Deshalb musste ich auch nicht ‚runterkommen‘. Ich würde auch sagen, dass wir alle von Rammstein relativ normal geblieben sind.

War Religion mal ein Thema für dich, um mit dem Erfolg umgehen zu können?
Kruspe: Nein, nie. Religion ist für mich ein Feindbild.

Ach so?
Kruspe: Ja, Religion finde ich gefährlich. Ich sehe mich eher als spirituellen Menschen, ich glaube zum Beispiel an die Idee, dass alles, was du tust, eine Resonanz hat, die irgendwann zu dir zurückkommt. Ich glaube auch daran, dass wir hier sind, um zu lernen. Dazu gehört dann auch, dass Dinge passieren, die weh tun. Wenn man diesen Lernprozess verinnerlicht, kommt man, glaube ich, ganz gut durchs Leben.

Wenn Religion gefährlich ist, warum besteht das Rammstein-Logo dann aus einem Kreuz?
Kruspe: Das sehe ich ganz pragmatisch, so ein Kreuz gibt es zum Beispiel auch beim Roten Kreuz. Kirche spielte im Osten Deutschlands ja auch kaum eine Rolle. Und ganz ehrlich: Jedes Mal, wenn ich mit der christlichen Religion konfrontiert werde, mich geschichtlich damit auseinandersetze, wird mir schlecht. Da gibt es so viel Verleumdung. Oder auch die Tatsache, dass tausende Menschen durch Priester vergewaltigt wurden, aber nicht ein einziger Kardinal zurückgetreten ist. Nicht einer. Das ist der Wahnsinn!

Auf dem Weg hierher bin ich an einer Kirche vorbeigekommen. Hörst du die sonntagmorgens?
Kruspe: Ja, aber ich kann natürlich differenzieren, zwischen dem Klang und der Architektur einer Kirche und der Institution. Ich gehe gerne in Kirchen, die haben oft eine wunderschöne Akustik. Die andere Seite ist, was passiert, wenn Religion und Macht zusammenkommen.

Wir führen dieses Interview an Halloween. Was hat dir zuletzt Angst eingejagt?
Kruspe: Ich habe, ganz typisch, Angst vorm Zahnarzt. (lacht)

Was ist mit Horrorfilmen?
Filme: Nein, da habe ich keine Angst mehr. Vielleicht weil ich dann immer sofort darüber nachdenke: Wie haben sie das gemacht, wie haben sie die Szene gedreht? – Ich gucke viele Filme, Film ist ein Medium, wo ich meinen Kopf abstellen kann.

Ihr wart mit Rammstein damals in „Lost Highway“ zu hören. Ein gruseliger Film, der den Zuschauer rätselnd zurücklässt.
Kruspe: Also David Lynch-Filme, dazu rauchst du einen guten Joint, lässt sich darauf ein und fängst nicht an zu überlegen, warum und wieso etwas passiert. Wenn du versuchst, bei Lynch etwas in logische Zusammenhänge zu bringen, hast du verloren.

Selbst die Band Rammstein kennt also nicht die Lösung von „Lost Highway“?
Kruspe: Nein. Ich glaube, die gibt es auch nicht.

[Das Interview enstand im Herbst 2018.]

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