Herr Schwentke, warum widmen Sie sich in Ihrem neuen Film dem Kriegsverbrecher Willi Herold?
Robert Schwentke: Ich habe nach einer Geschichte gesucht, die es mir erlauben würde, etwas über die dynamische Struktur des Nationalsozialismus zu erzählen. Damit solch eine kulturelle Katastrophe passieren konnte, mussten viele mitmachen, und ich hatte das Gefühl, dass man über die Täterperspektive Einiges über die Zeit erzählen kann – auf eine Art, wie es im deutschen Kino noch nicht erzählt wurde.
Der einfache Soldat Herold findet in den letzten Kriegstagen 1945 eine Offiziersuniform und begeht darin brutale Kriegsverbrechen. Was genau hat Sie an dieser Geschichte interessiert?
Schwentke: Wie konnte es dazu kommen? Was waren die systemischen Voraussetzungen, die psychologischen Umstände? Es fängt ja immer mit einer entmenschlichenden Rhetorik an. Die sogenannten Feinde werden als Ungeziefer betrachtet. Dann die Umkehrung aller moralisch-ethischen Werte: Das Gebot „Du sollst nicht töten!“ wird auf den Kopf gestellt, und was zuvor illegal war, ist plötzlich ohne Bestrafung möglich.
Welches Bild von Willi Herold hat sich für Sie ergeben?
Schwentke: Ich habe versucht, ihn mit klinisch-psychologischen Terminologien zu knacken, aber das geht gar nicht. Wenn man seinen Antrieb zusammenfassen wollte, müsste man sagen: Für ihn war das ein Cowboy-und-Indianer-Spiel mit scharfer Munition.
Ich bin überzeugter Pazifist und wollte einen Antikriegsfilm machen.
Wie haben Sie Ihre Schauspieler auf den Dreh vorbereitet?
Schwentke: Ich habe zu ihnen gesagt: Stellt euch vor, ihr seid in einem Raum, und da gibt es eine Tür. Ihr tretet sie auf und keiner sagt „Stopp!“. Dann seht ihr die nächste Tür und tretet auch die auf. Es sagt immer noch keiner „Stopp!“. Und ihr denkt euch: Bei der nächsten Tür muss jemand „Stopp!“ sagen. Das geht gar nicht, dass man mich diese Tür auch noch aufmachen lässt. Aber nichts passiert. Und dann verfällt man halt in einen Rausch, macht immer weiter und weiter.
Welche Relevanz hat Herolds Geschichte für uns heute?
Schwentke: Es geht um grundsätzliche menschliche Eigenschaften. Etwa um unsere Fähigkeit, Feindbilder zu kreieren, brutal und ungerecht gegeneinander vorzugehen. Etwas, was in uns allen schlummert. Manchmal kommt es zum Ausbruch, aber selbst wenn es nicht sichtbar wird, ist es da. Was unsere Zivilisation von solch einer Katastrophe trennt, ist eine feine Membran. Es passierte in Bosnien, bei den Hutu und den Tutsi, immer wieder.
Was macht Ihnen derzeit Angst?
Schwentke: Die Rhetorik in Europa und Amerika ist furchteinflößend, und mit der Rhetorik fängt es immer an. Diese starken Sprüche, der Nationalismus: Ich höre jeden Tag beängstigende Dinge in den Nachrichten. Wir müssen uns dafür sensibilisieren, früh genug zu erkennen, wohin das führen kann.
In Ihrem Film zeigen Sie drastische Gewalt, Erschießungen. Manchem Zuschauer ist das zu viel.
Schwentke: Ich finde, es muss zu viel sein.Weil genau das passieren kann, wenn keiner „Stopp!“ sagt. Auch im „Hauptmann“ gibt es diese Rhetorik der Entmenschlichung, die Gefangenen im Lager werden als Insekten bezeichnet. Aber das Wichtigste am Film ist – und dadurch wird er relevant für jede Zeit –, dass er keine Tragödie ist, bei der man weiß: Im dritten Akt verliert der König seinen Kopf. Es ist eine Tragödie, die man hätte vermeiden können und müssen. Was passiert ist, geschah nicht notgedrungen, es war nicht unausweichlich. Es ist deshalb passiert, weil die Täter davon profitiert haben.
Die Filmkritikerin Cristina Nord prägte den Begriff der „Fetischisierung von Authentizität“. Wie wichtig war es Ihnen, dass Herolds Geschichte so oder so ähnlich tatsächlich stattgefunden hat?
Schwentke: Ich habe nach einer wahren Geschichte gesucht, weil ich nicht den Erzählermuskel habe, mir das alles selbst auszudenken. Wenn ich keinen authentischen Fall gehabt hätte, an dem ich mich hätte abarbeiten können, hätte ich noch mehr in die Farce, die Groteske gehen müssen. Dann wäre der Film wie „Sieben Schönheiten“ von Lina Wertmüller geworden oder wie Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“.
Zum ersten Mal seit „Eierdiebe“ von 2003 haben Sie wieder ein Drehbuch geschrieben. War von Anfang an klar, dass Sie es selbst und alleine schreiben wollen?
Schwentke: Ja, denn mir war früh klar, dass die Auseinandersetzung mit den Themen und den Figuren beim Schreiben stattfindet. Ich bin überzeugter Pazifist und wollte einen Antikriegsfilm machen. Von denen gibt es leider wenige, die meisten erliegen dem Fetischismus des Krieges. Viele sogenannte Antikriegsfilme sind gar keine, weil das Grauen immer toll aussieht und sich aufregend anfühlt.
Die Altersfreigabe war sicher ein Thema, sie liegt nun bei 16. Wie drastisch wollten Sie erzählen?
Schwentke: Das war extrem genau kalibriert. Ich habe nichts gedreht, was ich nicht auch genutzt hätte. Man muss sich vorher genau überlegen, was man zeigen kann. Was man selbst als möglich ansieht und was nicht. Zum Beispiel sieht man bei den Erschießungen nie in die Grube. Es war wichtig, nichts für den shock value dramaturgisch hochzukochen oder auszubeuten. Was den Film gewalttätig macht, sind nicht einzelne Momente, sondern es ist der akkumulative Effekt: dass es nie aufhört.
Wie viel Drastik braucht ein Film über die NS-Verbrechen?
Schwentke: Eine gewisse Gewalt muss man zeigen beziehungsweise spürbar machen – das ist natürlich nicht dasselbe –, weil man sonst die Opfer verrät. Wenn man unter den Teppich kehrt, was in dieser Grube passiert, sollte man den Film nicht machen. Denn es waren echte Menschen, die da gestorben sind. Dass wir aus Sicht der Täter erzählen, heißt noch lange nicht, dass wir keine Verantwortung den Opfern gegenüber haben.
An welchen Filmen haben Sie sich orientiert?
Schwentke: Am japanischen, russischen, osteuropäischen Kino. An Filmen wie „Komm und sieh“ von Elem Klimow oder Andrzej Munks „Die Passagierin“.
Was schätzen Sie an diesen Werken?
Schwentke: „Die Passagierin“ erzählt aus der Sicht einer Lagerangestellten. Den Film gibt es nur als Fragment, denn Munk ist während der Dreharbeiten tödlich verunglückt. Seine filmschaffenden Freunde haben dann Standfotos benutzt und ein Voice-over drübergelegt. Interessanterweise eignet sich die Form des Fragments sehr gut für diese Geschichte, weil viele Dinge nicht so auserzählt sind, wie das zum Beispiel in „Schindlers Liste“ der Fall ist. Mit dem kann ich persönlich nicht viel anfangen.
Spielbergs Film ist noch immer der populärste über den Holocaust. Was stört Sie an ihm?
Schwentke: Stanley Kubrick hat es mal sehr schön formuliert: „Schindlers Liste“ sei kein Film über den Holocaust, sondern einer über das Überleben, übers Gewinnen. Und wenn man einen Film übers Gewinnen macht, macht man keinen Film über den Holocaust. Ich finde das sehr wahr.
Inwiefern wollten Sie sich davon abheben?
Schwentke: In „Schindlers Liste“ geht es um Läuterung. Da gibt es den klassischen Charakterbogen von jemandem, der profitiert, dann merkt, dass er etwas falsch macht, und sich positiv verändert. Diese Erzählweise hat etwas Versöhnliches. Ich wollte aber keinen versöhnlichen Film machen, sondern einen verstörenden.
Worin sehen Sie nun den größten Unterschied zwischen „Schindlers Liste“ und Ihrem Film?
Schwentke: Darin, wie viel Raum dem Zuschauer gelassen wird, sich selbst einzubringen. Meine Hoffnung ist, dass Leute über den „Hauptmann“ nachdenken und im Gespräch mit anderen, die ihn gesehen haben, merken: Die haben sich ganz andere Gedanken gemacht. Meine Absicht ist, dass der Film diskutiert wird, dass sich Leute daran reiben. Es ist kein gefälliger Film.
Welche Zielgruppe hatten Sie vor Augen?
Schwentke: Eine Generation, zu der ich ja auch gehöre, die keinen Krieg erlebt hat. Historisch geschieht es leider oft genug, dass nicht die Kriegsgenerationen einen neuen Krieg beginnt, sondern eben jene, die keinen mitgemacht hat. Vielleicht kann der Film eine Prophylaxe sein, damit man den Abgrund erkennt, auf den man sich da zubewegt.
Was sollte ein Film über die NS-Lager nicht zeigen? Gibt es Tabus?
Schwentke: Jacques Rivette, mein Lieblingsregisseur, hat mal einen wunderbaren Text fürs „Cahiers du cinéma“ geschrieben, eine Polemik gegen den Film „Kapo“ von Gillo Pontecorvo. Darin begeht eine Frau im Lager Selbstmord, indem sie sich in den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun wirft. Sie fällt dann extrem drapiert über den Zaun und die Kamera fährt auf sie zu. In Rivettes Text geht es nur um diese Zufahrt und darum, dass jede Einstellung einen moralischen Standpunkt haben muss. Wenn ein Filmemacher bei diesem Bild auch noch eine Zufahrt macht, dann ist das nach Rivettes Ansicht so moralisch verwerflich, dass man den Regisseur und den Film nicht ernstnehmen kann.
Wie denken Sie darüber?
Schwentke: Was er sagt, ist richtig: Jede Einstellung hat einen moralischen Wert, und wenn man einen Film über Moralität oder Amoralität macht, muss man das bedenken.
Wer hat es besser gemacht als Pontecorvo?
Schwentke: Roberto Rossellini hat Erschießungen und Zweite-Weltkriegs-Geschichten auf eine unaufgeregte, nüchterne Art gedreht. Dieses Nüchterne ist das, was mich interessiert: Dass es fast schon mechanische Abläufe waren. Eine Maschine, bestehend aus Menschen.
Sie haben zuletzt in den USA gearbeitet. Warum wollten Sie Ihren neuen Film auf Deutsch drehen?
Schwentke: Ich glaube, das muss man. Für die Glaubwürdigkeit. Schließlich geht es um Deutschland. Ich bin immer irritiert, wenn Engländer mit einem deutschen Akzent Englisch sprechen oder Amerikaner den Nazi geben. Sprache ist wichtig, es geht um Euphemismen. Darum, dass kein totalitäres System ohne einen totalitären Ton auskommt. In der Übersetzung wäre vieles verloren gegangen.
Hätten Sie Ihre Geschichte denn auch in Hollywood erzählen können?
Schwentke: Ich bin mir nicht sicher, ob sie den Entwicklungsprozess überlebt hätte. Vieles entspricht nicht den Konventionen: Dort gibt es immer den Guten, der der Moral Stimme verleiht. Der fehlt bei uns. Sobald man es anders macht, entsteht eine kognitive Dissonanz und nach der suche ich, wenn ich mir Filme ansehe. Ich möchte nicht schon wissen, was hinter der nächsten Ecke passiert, sondern überrascht werden.
Werden Sie künftig wieder mehr in Europa arbeiten?
Schwentke: Auf jeden Fall. Das hat damit zu tun, dass sich die Bandbreite der Filme, die von den US-Studios finanziert werden, extrem verschmälert hat. Die machen mittlerweile alle denselben Film, auf Dauer ist das langweilig. Ein Spagat wäre wunderbar: sowohl dort als auch hier frei arbeiten zu können. Ich habe immer Rechts- und Linkskurven genommen, einen Thriller gedreht und danach eine Komödie. Das möchte ich weiterhin so betreiben.
Als junger Mann haben Sie Deutschland für Ihre filmische Ausbildung verlassen. Weshalb?
Schwentke: In den späten 80ern bin ich nach Amerika gegangen, der Zustand des deutschen Films war damals traurig: kein Wille zum Experiment, keine Freude am Erzählen. Orientiert habe ich mich aber weniger am US-Kino. Man unterstellt mir immer, ich hätte „Tattoo“ als Bewerbungsschreiben für Hollywood gedreht. Nichts liegt der Wahrheit ferner. Wir haben den Film einfach so gemacht, wie wir uns einen deutschen Film wünschten. Nach meinem zweiten Kinofilm „Eierdiebe“ hatte ich große Schwierigkeiten, einen dritten Film finanziert zu bekommen, sogar Schulden. Als mir dann aus Amerika ein Film angeboten wurde – das war „Flightplan“ – konnte ich gar nicht nein sagen.
In den USA haben Sie Genre-Filme gedreht. Würden Sie die auch in Deutschland machen wollen?
Schwentke: Sehr gerne! Aber schon bei „Tattoo“ hat man zu uns gesagt, dass das nicht funktioniert. Hat es ja auch nicht. Ich weiß nicht, woran das liegt. In Frankreich gibt es richtige Genre-Regisseure, bei uns gar nicht. Außer vielleicht Dominik Graf, seine Polizeifilme liebe ich über alles. Ich würde gerne noch mal Genre probieren, aber man muss das kulturgerecht machen. Nachäffen und nur behaupten: Das klappt nicht.
Welche Stoffe interessieren Sie sonst noch?
Schwentke: Ich bin an Mischformen interessiert und daran, dem homogenen Film zu entkommen. Avantgarde-Regisseure wie Apichatpong Weerasethakul oder Abbas Kiarostami, von denen ich ein großer Fan bin, haben sich gefragt: Wie kann man anders erzählen? Ich würde gerne ein paar radikalere Filme machen.
Sie bezeichnen sich als Anhänger des klassischen europäischen Kinos. Was schätzen Sie daran?
Schwentke: Den Willen, erzählen zu wollen. Die Filme von Costa-Gavras finde ich großartig, auch die frühen Taviani-Filme. Die haben eine andere Art von Autorenfilm praktiziert. Ein europäisches Kino, das in Vergessenheit geraten ist. Genauso Carlos Saura oder Buñuel: Das sind große Kinoerlebnisse, die mir heute fehlen. Die haben nicht so vor sich hingedümpelt, die hatten Ausdruckswillen und einen klaren Standpunkt.
Deutsche Serien feiern inzwischen auch international Erfolge: erst „Deutschland 83“, jetzt „Babylon Berlin“ und „Dark“.
Schwentke: Dass Amazon und Netflix Serien auf Deutsch produzieren, finde ich aufregend. Noch vor zwei Jahren war das gar nicht möglich. Die haben sich die deutsche Fernsehlandschaft angesehen und gesagt: „11 Millionen Zuschauer für den „Tatort“? Diesen Markt verstehen wir nicht.“ Dass in Amerika plötzlich eine Serie wie „Dark“ geschaut wird – auf Deutsch – ist auf eine tolle Weise absurd. Vielleicht durchweicht es auch andere Konventionen. Diese Konventionen haben ja nichts mit der Wahrheit zu tun, sie sind bloß verhärtete Vorstellungen. Die muss man wegwischen.
Ist serielles Erzählen auch für Sie eine Option?
Schwentke: Absolut! Die Idee, einen achtstündigen Film zu machen, finde ich unheimlich reizvoll. Ich habe Serien gesehen, bei denen ich sagen muss: Hut ab, das kommt einem Kinoerlebnis schon sehr nahe. Trotzdem: Die abgeschlossene Erzählweise möchte ich mir schon auch noch erhalten.