Roger Willemsen

Es war irgendwann nicht mehr auszuhalten

Der frühe Tod des großen Interviewers Roger Willemsen schmerzt. Für Planet Interview traf sich David Sarkar 2014 in Hannover mit Willemsen, der gerade sein Buch „Das Hohe Haus“ veröffentlicht hatte. Ein Interview über das Kaugummi-Verbot im Bundestag, schlechtes Schauspiel, heikle Abstimmungen und desinteressierte Abgeordnete.

Roger Willemsen

© Anita Affentranger

[Das folgende Interview haben wir im Juli 2014 veröffentlicht.]

Herr Willemsen, zu Beginn möchte ich Ihnen ein kleines Geschenk überreichen…
Roger Willemsen: Eine Packung Kaugummi. (lacht laut) Vielen Dank! Ich weiß das sehr zu schätzen.

Sie mussten auf der Tribüne des Deutschen Bundestages ja Monate lang auf Kaugummi verzichten. Hat Sie das sehr verwundert?
Willemsen: Mir selber hat es nicht gefehlt, aber den Schülern auf der Tribüne. Vor allem soll es ein Ausdruck des Respekts gegenüber dem „Hohen Haus“ sein, und dann erweist sich das Hohe Haus als nicht respektvoll den Schülern und Zuhörern gegenüber. So entsteht ein Missverhältnis.

Würden Sie es mir übel nehmen, wenn ich Ihnen sage, dass ich froh war nach 400 Seiten „Das Hohe Haus“ den Deutschen Bundestag verlassen zu können?
Willemsen: Nein, ich war auch froh. Aber ich hatte viel erfahren. Und ich glaube, wenn Sie nach 400 Seiten sagen: „Jetzt reicht es!‘, dann nehmen Sie einen Impuls auf, den ich auch gehabt habe. Es war irgendwann nicht mehr auszuhalten, weil so vieles einfach so vorhersehbar war. Dennoch muss ich gestehen, dass sich ein Phantomschmerz einstellt, wenn ich heute an dem Gebäude vorbeigehe. Dann frage ich mich, was sie im „Hohen Haus“ wohl gerade so treiben.

Was genau haben Sie nicht mehr ausgehalten?
Willemsen: Die Stereotypen, die Rituale, das tote Fleisch der Kommunikation, das zur Schau gestellt wird. Das Bild der Erregung, schlecht gespielt, weil Politiker keine Schauspieler sind. Die gespielte Überzeugung, die gespielte Auseinandersetzung um Sachargumente, die alle längst ausgetauscht sind, von denen sich niemand mehr bewegen lässt. All das, was Pseudos ist, ist störend im Bundestag.

Zitiert

Ein Teil der Reden im Bundestag werden sicherlich nur für die „Tagesschau“ gehalten.

Roger Willemsen

Mich hat erstaunt, dass laut Ihrer Beobachtung über den Einsatz von Soldaten im westafrikanischen Mali genauso erregt diskutiert wird, wie über die gesundheitlichen Gefahren von Laserdruckern…
Willemsen: Ja, dieses ungemeine Themengemisch hat mich auch erstaunt. Aber auch der damit verbundene Sachverstand, denn selbst für die allerkleinsten banalen Themen, die verhandelt werden, gibt es Experten. Da wird über die Landwirtschaft diskutiert und direkt danach geht es um die Grenzen des Wachstums. Manchmal geht es um bis zu 20 Themen an einem Tag.

Wenn man annimmt, dass die meisten Beschlüsse bereits in den Ausschüssen gefasst wurden – geht es im Parlament nur noch um die Show, in der die Darbietung über dem Inhalt steht?
Willemsen: Diese Frage ist sehr berechtigt. Ein Teil dieser Reden werden sicherlich nur für die „Tagesschau“ gehalten. Es ist schon ein abgekartetes Spiel. Alles, was so wirkt, als wolle es noch aufeinander reagieren, eingehen, sich bewegen lassen, ist fingiert. Das ist wie ein Menuett. Da steht jede Regel fest. Auf der anderen Seite werden Reden gehalten für ein imaginäres Gegenüber, das sich bewegen lassen könnte. Insofern sind die Reden das, was wir als Endresultat der Ausschussarbeit zu sehen kriegen. Allerdings ist der Prozess dahin oft interessanter, als das letztendliche Resultat. Der Prozess fehlt mir.

Warum muss Politik so sein? Will das Volk es so, oder sind am Ende die Medien schuld?
Willemsen: Die Medien tragen insofern eine Mitschuld daran, als dass sie den Fraktionsfrieden als etwas ungemein wichtiges und schützenswertes erachten. Und weil sie selber an der Dramatisierung von Politik so interessiert sind, werden sie jede noch so kleinste Verstimmung als eine Störung des Koalitionsfriedens ansehen.
Außerdem müsste man den Fraktionszwang lockern. Beeindruckend waren Reden immer dann, wenn die Redner aus der Parteilinie ausgeschert sind. Das habe ich in jeder Partei erlebt. Ich habe erlebt, dass die Rede eines CDU-Abgeordneten über die Grenzen des Wachstums, selbst von der eigenen Partei nahezu unbeklatscht blieb. Das sind die seltenen Momente, in denen das Volk wirklich repräsentiert wird. Denn im Volk ist keine Parteilinie vorgebildet. Auf der anderen Seite verdanken die Parlamentarier gerade den Parteien ihre Karrieren. Deshalb hat die Partei auch ein gewisses Recht Loyalität einzufordern, allerdings wird diese Loyalität oft bis zum Exzess betrieben.

Einen besonders schweren Stand hat nach Ihren Beobachtungen die Linkspartei. Wenn Vertreter dieser Partei sprechen, lichtet sich die Regierungsbank und die Unaufmerksamkeit ist besonders groß. Kann sich ein Parlament überhaupt leisten eine gesamte Fraktion kollektiv zu ignorieren?
Willemsen: Nein, das kann es nicht. Und diese Partei zahlt das heim, indem sie permanent, und das kann man ganz unideologisch sagen, Informationen abgibt, die man ohne diese Partei nicht bekommen würde. Ein Beispiel ist der Rüstungsreport. Alle Parteien, ob rot-grün oder schwarz-gelb, haben diese Exporte jahrelang abgesegnet, aber gleichzeitig behauptet, sie seien extrem restriktiv in den Rüstungskontrollen. Dann kommt das Jahr 2011: 17680 Anträge gehen ein, abgelehnt werden 105. Das sind 0,5 Prozent. Und diese Zahl bekomme ich dann im Parlament von einem Abgeordneten der Linkspartei gesagt. Diese Informationen will ich haben, die würde mir aber sonst niemand mitteilen.

Doch die großen Parteien lehnen eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei ab. Wie lange wird dieser Zustand auf Bundesebene noch anhalten?
Willemsen: Ich glaube, dass sich die SPD diesen Standpunkt nicht mehr leisten kann. Das hat sich ja schon abgezeichnet. Selbst die CDU arbeitet auf kommunaler Ebene ja schon mit der Linkspartei zusammen. Dieses Thema umgibt eine solche Heuchelei. Was die Linkspartei heute macht, steht zum großen Teil im Godesberger Programm der SPD. Niemand soll sich hinstellen und sagen, das sei kommunistisch oder verfassungsfeindlich. Die werden beobachtet, man legt ihnen jeden möglichen Stein in den Weg. Es gab Momente im Parlament, in denen die Linkspartei forderte syrische Flüchtlinge aufzunehmen, doch der Antrag wurde abgelehnt, weil er von den Linken kam. Ich glaube diesen radikalen Widerstand hat man sich vor allem geleistet, weil die SPD eine große Angst davor hatte, Wähler an die Linken zu verlieren.

Willemsen BuchcoverImmer wieder beschreiben Sie in Ihrem Buch die notorische Unaufmerksamkeit der Abgeordneten während der Sitzungen. Es wird rausgegangen, laut geredet, aufs Handy-geschaut…
Willemsen: Dieses in vielen Momenten offen zur Schau gestellte Desinteresse der Abgeordneten bei Reden im Parlament ist teilweise schon wirklich peinlich und dieses Hauses nicht würdig. Oftmals interessieren sich die Abgeordneten ja nicht mal für die Reden ihrer eigenen Parteigenossen. Ich bin mit einer eigenen politischen Biographie in das Parlament gekommen, aber insofern voraussetzungslos, als dass ich schauen wollte, wer mich wirklich beeindruckt, wer sich wirklich delegiert fühlt. Und von den Abgeordneten der Linkspartei, gerade auch von Hinterbänklern, die keiner kennt, habe ich sehr oft sachkundige, informationsdichte und überzeugte Reden gehört. Diese Reden werden aber zum Großteil schon aus Prinzip kollektiv nicht beachtet und schon gar nicht beklatscht. Das ist ja so absurd, dass sogar der Applaus eine Fraktionszugehörigkeit hat.

Ihr Fazit nach einem Jahr im Parlament ist düster. Sie schreiben: „Solange sich Verbraucher und Wähler nicht massiv für eine Kritik des Konsums, des aktuellen Natur- und Ressourcenverbrauches starkmachen, wird es innerhalb der parlamentarischen Möglichkeiten keine Antworten geben.“ Aber sollte das nicht eigentlich die Aufgabe von Politik sein? Welche Rolle erfüllt das Parlament?
Willemsen: Man braucht das Parlament, um die politische Agenda zu schreiben, um Transparenz zu schaffen, um politische Entscheidungen sichtbar und nachvollziehbar werden zu lassen. Auf der anderen Seite ist der Grundgedanke der, dass wir uns im Bezug auf die Entscheidungen ändern würden, wenn wir wüssten, wie sie zustande kommen. Das geschieht aber nicht. Die Leute sind nicht einverstanden, dass Frau Merkel sich bei der Gen-Mais-Debatte in Brüssel enthält. 90 Prozent ihrer Wähler sind es nicht. Die Leute wollten nicht in den Golfkrieg, aber Frau Merkel wäre gegangen. Die Leute wollten, dass Edward Snowden gehört werden kann und nach Berlin eingeladen wird, aber das geschah nicht. Es gibt so viele Fälle, in denen sich Frau Merkel gegen die Mehrheit entscheidet, und trotzdem sagt diese Mehrheit nicht: „Das bringt Sie um unsere Stimme!“. Im Gegenteil: Das bringt der Kanzlerin den Ruf einer, mit Autorität und stiller Härte agierenden starken Lenkerin ein. Man delegiert die eigene Vernunft auf die vermeintlich höhere Vernunft der Kanzlerin, und sagt: Sie wird das schon machen. Sie steht dafür mit ihrem guten Namen.

Ein Journalist des „stern“ dokumentierte kürzlich einen heiklen Fall: nahezu heimlich stimmten im Sommer 2013 die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen für einen Änderungsantrag, der zukünftig die Einsicht in Akten des Bundesrechnungshofes verhindert, welche sich auf die Finanzierung der Fraktionen beziehen.
Willemsen: Ich war an diesem Tag im Parlament, aber ob ich in diesem Moment die Tragweite dieses Beschlusses erkannt habe, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich denke aber schon, dass es auch kalkuliert ist, dass man heikle Entscheidungen im Unscheinbaren sich vollziehen lässt. Zum Beispiel, wenn es um Piraterie in Somalia geht. Da wird ein ein Kilometer langer Sandstreifen gefordert, um die Piraten an Land zu verfolgen. Da denkt man sich, warum nicht, und dann kommt eine Abgeordnete der Linkspartei, und teilt mit, wie oft das in den vergangenen zehn Jahren vorgekommen ist: Ganze zwei Mal. Dann weiß man, dass es eigentlich um die Ausdehnung einer militärischen Präsenz auf dem Land geht. Aber diese Implikation nennt niemand.

Sie saßen ein Jahr im Parlament. Wenn es Ihnen schon schwer fiel, bestimmte Prozesse nachzuvollziehen, dann kommt der Bürger am Fernsehschirm doch erst recht nicht mehr mit, oder?
Roger Willemsen: Nein, das wird er nicht schaffen. Ich würde ihm zwar wünschen, dass er so oft wie möglich in sein Parlament gehen kann und da auch so lange sitzen darf, wie er möchte, aber das darf er nicht. Er bekommt nur eine Stunde und muss wieder gehen. Insofern ist der mündige Bürger, der es anders möchte, ausgeschlossen. Und wenn das Volk die politischen Prozess nicht mehr nachvollziehen kann, sondern die Politik ins Hinterzimmer, in die Ausschüsse verschoben wird, dann hört die Talkshow wirklich nie auf.

Können Sie eine zunehmende Politikverdrossenheit unter diesen Umständen nachvollziehen?
Willemsen: In meiner Generation wurde immer gesagt: „Wer sich nicht für Politik interessiert, der merkt nicht, wie sie sich für ihn interessiert!“. Insofern habe ich immer gedacht, dass es fast eine Grundpflicht wäre, wählen zu gehen, sich sachkundig zu machen. Aber das Parlament fördert durch seine ständige Ritualisierung und die Verschiebung der Prozesse ins Unsichtbare eben diese Verdrossenheit. Wenn dann noch dazukommt, so wie es im Moment passiert, dass Regierungsparteien mitunter 62 Minuten am Stück reden, und die Opposition gerade einmal 15 Minuten, dann kann die Opposition ihre Argumente nicht mehr vertiefen, sondern tritt plakativer auf. Die reden dann dümmer, als sie eigentlich sind, weil sie den Effekt erzeugen müssen. Und das sichert dem Parlament noch mehr Desinteresse. Wer hört sich denn 65 Minuten einen und den selben Standpunkt an?

Hätten Sie gerne ein anderes Buch geschrieben, einen anderen Inhalt geschildert?
Willemsen: Ich wäre gerne mehr mitgerissen gewesen. Ich hätte mich lieber mehr im Gestaltungszentrum gesehen. Ich hätte gerne weniger Spießertum, symbolisches Handeln und Hierarchien erlebt. Ich würde mir auch sehr wünschen, dass jedes Jahr ein Kollege ins Parlament geht, um meine Arbeit fortzusetzen. Denn nur dem tagesaktuellen Journalismus das Parlament zu überlassen, scheint mir zu wenig.

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