Am 12. Januar 2013 feierte Rola El-Halabi ihr Comeback in den Boxring. Das folgende Interview entstand wenige Tage zuvor.
Frau El-Halabi, anderthalb Jahre nachdem Ihr Stiefvater Sie vor einem Boxkampf angeschossen hat, kehren Sie in den Ring zurück. Welche Phasen haben Sie vom Attentat bis heute durchlaufen?
El-Halabi: Wohl jede Phase, die es gibt. Es waren emotionale Aufs und Abs. Ich war die erste Zeit psychisch und körperlich ruiniert. Vor allem die Ungewissheit, ob ich jemals wieder laufen können würde, war mein Problem. Dann die wechselnden unklaren Diagnosen über meinen Gesundheitszustand. Kaum war eine OP überstanden, stand schon die nächste an. Ich hatte nie eine klare greifbare Aussage wie ich körperlich wieder hergestellt werden kann. Meine Psyche hielt sich die erste Zeit zurück. Erst nach drei Wochen begriff ich seelisch das volle Ausmaß, was überhaupt passiert ist. Diese Erkenntnis hat mich sehr getroffen.
Wann haben Sie den Entschluss gefasst wieder in den Ring steigen zu wollen?
El-Halabi: Da gab es keinen Entschluss. Es stand für mich nie zur Debatte aufzuhören. Ich wollte immer auf dem Höhepunkt meiner Karriere aufhören. Das war und ist mein größter Traum. Der 1. April (der Tag des Attentats, Anm. d. Red) war sicher nicht der Höhepunkt. Deshalb war für mich klar – aufrappeln und weitermachen.
In Ihrem Buch „Stehaufmädchen“ sprechen Sie von diversen menschlichen Enttäuschungen.
El-Halabi: Ja. So ein einschneidendes Erlebnis ordnet Beziehungen und Freundschaften neu. Meine Infokanäle zur Außenwelt wie Handy, E-Mail und Facebook waren überschwemmt mit Nachrichten. Das konnte ich gar nicht alles fassen und lesen. Manche Freunde und Bekannte nahmen an, mit einer SMS ihre Schuldigkeit getan zu haben. Sie waren beleidigt und verärgert, warum ich mich nicht bei ihnen rückgemeldet habe. Ich dachte, dass es ihnen ein Bedürfnis ist, mich sehen zu wollen. Und ich fragte mich, was das für vermeintliche Freunde sind, denen ich eine magere SMS wert bin?
Eine weitere Ernüchterung waren die spärlichen Aussagen vor Gericht. Selbst Menschen aus Ihrem engsten Team haben nicht gegen den Stiefvater ausgesagt.
El-Halabi: Das ging schon vor dem Prozess los. Viele gaben bei den Ermittlungen der Polizei an, nichts gesehen und nichts gehört zu haben. Das waren Menschen, die persönlich anwesend waren, während mein Vater Drohungen gegen mich ausgesprochen hat. Ich kann mir es nicht erklären, warum das so ist. Manche versuchten sich mit Loyalität herauszureden. Aber zu wem sollte man in so einem Moment loyal sein? Zum Täter oder Opfer?
Ich habe von keinem verlangt zu lügen oder meinen Vater unnötig zu belasten. Ich wollte einfach nur die Wahrheit. So wurde ich vor Gericht als Lügnerin dargestellt. Als ob ich die Vorabdrohungen erfunden hätte, um die Tat zu dramatisieren.
Wie haben sich diese Erlebnisse generell auf Beziehungen zu anderen ausgewirkt?
El-Halabi: Ich vertraue nur noch sehr wenigen Menschen. Früher bin ich anderen immer erst einmal positiv gegenübergetreten, habe ihnen geglaubt, was sie sagen. Heute lebe ich mit einer dicken Schutzmauer, weil ich persönlich erfahren habe, dass fast jeder zuerst sich rettet. Und dann vielleicht die anderen. So wie der Kapitän des untergegangen Schiffes Concordia. Viele solcher Menschen hatte ich in meinem Umfeld.
Wie kommen Sie mit dieser Ernüchterung klar?
El-Halabi: Es war sehr gut, dass alle Enttäuschungen so geballt kamen. Quasi mit einem Schlag. Ich denke, der Mensch kommt eher damit klar, wenn er auf einmal ins eisige Wasser geworfen wird, als täglich einen fiesen kalten Guss zu bekommen. Platsch. Du bist drin und musst lernen, damit umzugehen. Entweder zu schwimmen oder unterzugehen. Viele kleine gemeine Enttäuschungen hintereinander hätten mich eher zerbrochen.
Sie haben keine psychologische Hilfe in Anspruch genommen. Woher kommt dieser Anspruch, alles mit sich selbst ausmachen zu wollen?
El-Halabi: Ich lebe und arbeite nach meinem Bauchgefühl. Ich will und kann mich nicht mit jemandem hinsetzen und auf Knopfdruck über meine Gefühle reden. Ich bin ein offener Mensch und kann viel von mir preisgeben. Aber in dieser Sache mit einem fremden Menschen über meine wahren Ängste zu reden geht nicht. Ich hatte nie das Bedürfnis nach einem Psychologen. Mein Bauchgefühl hat mir eigene Therapiemöglichkeiten aufgezeigt.
Wie muss man sich das vorstellen?
El-Halabi: Die ersten Wochen und Monate konnte ich nirgends alleine bleiben. Nicht alleine im Haus bleiben, nicht auf die Straße gehen, nicht alleine zum Auto gehen. Dann habe ich mir einen Hund zugelegt. Dann bin ich die ersten Male alleine mit dem Hund raus, und nach und nach wurde mein Aktionsradius größer. Mittlerweile gehe ich wieder überall hin – sogar nachts in die Tiefgarage. Ich habe festgestellt, dass ich mich meinen Ängsten stellen muss, bewusst die Konfrontation suchen muss, ansonsten schleppe ich meine Ängste ein Leben lang mit mir herum. Die größte Konfrontation – wieder vor dem Kampf in die Umkleidekabine zu gehen – steht mir noch bevor.
Es war sehr gut, dass alle Enttäuschungen so geballt kamen. Quasi mit einem Schlag.
In einigen Jahren wird Ihr Vater wieder aus dem Gefängnis entlassen. Wie gehen Sie mit dieser Tatsache um?
El-Halabi: Im ersten Jahr war dieser Gedanke vorherrschend. Aber ich habe eingesehen, wie sehr mich dieses Wissen belastet und Kraft kostet. Also habe ich einen klaren, harten Fakt in meinem Kopf gebildet. Ich kann nichts daran ändern, ich kann es nicht beeinflussen. Was der liebe Gott für mich vorgesehen hat, wird passieren. Aber damit beschäftige ich mich, wenn es soweit ist und mein Vater wieder ein freier Mann ist.
Haben Sie Interesse an einem Gespräch, an einer möglichen Aussöhnung?
El-Halabi: Nein! Ich kann es mir in meinem kommenden Leben nicht vorstellen, mit ihm noch ein Wort zu reden, mich mit ihm an einen Tisch zu setzen. Dafür hat er zu viel kaputt gemacht.
Was sehen Sie als Hauptgrund für diesen Schritt, den Ihr Vater getan hat an? Sprach da der in seiner Ehre verletzte Libanese in ihm oder falsche Vaterliebe?
El-Halabi: Es war sein kranker Egoismus. Diese absolute Ichbezogenheit. Ich regiere die Welt, ich entscheide über meine Familie. Er erlaubt uns, er befiehlt uns, er gibt uns einen Rat. Er erklärte uns, sein Kontrollzwang sei eine gute Eigenschaft. Schlechte Erfahrungen, die er machen musste, könne er so von uns fernhalten. Ich habe in der Zeit, in der sich die Dinge so entwickelten, gelernt und eingesehen, dass dies keine richtige Liebe sein kann. Liebe ist Gutes für den anderen wollen, wollen, dass der andere glücklich ist. Egal, ob ich das persönlich gut finde. Diese Art von Liebe kennt mein Vater nicht.
Ihr Vater suchte Rat bei seinen libanesischen Verwandten, wie er mit der unabhängig werdenden Tochter umgehen soll. Kann man da Ehrverletzung komplett ausschließen?
El-Halabi: Ja. Wir haben 2010 ein gemeinsames Interview und damals hat er darauf bestanden hat: Ich bin Deutscher, kein Libanese. Es war sein Antrieb, seine Kinder deutsch zu erziehen, ihnen die deutsche Sprache perfekt beizubringen, ihnen das Abitur zu ermöglichen. Er hat immer auf diesen Fakt bestanden: Die El-Halabis sind deutsch, wir sind eine perfekt integrierte Familie. Diese ganze Heuchelei über Familienehre, Respekt und Religion schiebt er als Grund vor, um seine Tat rechtfertigen zu können. Er weiß doch überhaupt nicht mehr was im Libanon los ist. Er lebt seit 20 Jahren in Deutschland.
In Ihrem Buch schreiben Sie von Konfliktscheu von Seiten der arabischen Frauen, wenn es um Familienangelegenheiten geht. Der Mann wird als unangreifbares Familienoberhaupt gesehen, seine Entscheidungen werden kritiklos hingenommen. Woher kommt das?
El-Halabi: Der größte Teil der arabischen Frauen ist in Deutschland nicht integriert. Und es besteht wenig Interesse daran. Ich verstehe nicht, wie manche zwar in einem Land leben können, sich aber dennoch so wenig auf die dort herrschende Kultur und Lebensweisheit einlassen wollen. Man nimmt sehr gerne die Annehmlichkeiten, die der deutsche Staat zu bieten hat an. Soll dann aber die eigene Tochter mit der Klasse ins Landschulheim, kommen Aussagen wie: Das geht nicht, bei uns im Islam ist das verboten. Aber: Der Islam ist eine wunderschöne Religion. Nur wird sie leider zweckentfremdet für Extreme aller Art. Als Legitimation für Fanatismus, veraltetes Geschlechterdenken, weltfremde Lebenseinstellungen. In vielen Familien wird diese Einstellung an die Kinder weitergegeben: ‚Wir leben zwar in Deutschland, aber wir richten uns nach den Regeln unseres Heimatlandes. Wir haben keine Ahnung von den unterschiedlichen Religionen.‘ Viele in meinem Umfeld sind erstaunt, dass ich als Muslimin auch Weihnachten feiere. Wie? Du feierst Weihnachten? Ja, ich feiere auch Weihnachten, weil mein Mann mit seiner Familie feiert. Da schließe ich mich doch nicht aus. Außerdem ist Jesus im Islam ein Prophet. Das wissen die meisten nicht. Wir haben einfach keine Ahnung von den Religionen untereinander.
Fühlt sich Boxen nach dem Attentat anders an? Sowohl psychisch als auch physisch?
El-Halabi: Nach einem Jahr und neun Monaten hatte ich zum ersten Mal wieder ein Sparring, hatte wieder Wettkampfhandschuhe an und einen Mundschutz drin. Das war körperlich kein Problem. Alles wie vorher. Nur die Psyche strengt mich an. Mein Körper steckt das wohl leichter weg: Boxen ist für ihn wie Fahrradfahren, das verlernt man nicht. Die einzigen Schmerzen, die ich habe, sind die Narben. Bei kaltem Wetter spüre ich diese enorm.
Spielt, was die Pysche anbelangt, bei den Kampfvorbereitungen Ihr Stiefvater eine Rolle? Möchten Sie es ihm zeigen, dass Sie auch ohne ihn erfolgreich sein können?
El-Halabi: Nein, überhaupt nicht. Ich verliere keinen einzigen Gedanken an ihn. Er existiert weder in meiner Gedanken- noch Gefühlswelt. Ich will und muss niemandem, nicht mal mir selbst mehr, was beweisen. Ich habe in so jungem Alter so viel erreicht und durchgemacht, da muss ich nicht noch mehr Zeichen setzen. Ich will nur meinen Wunsch verwirklichen, auf dem Höhepunkt meiner Karriere aufhören. Es kann sein, dass ich nach diesem Kampf nicht mehr weitermache. Ich halte mir alle Optionen offen. Natürlich bin ich aufgeregt und nervös, aber ich hatte noch nie in meinem Leben so positive und glückliche Gefühle vor einem Kampf. Mit geht es so, wie es jetzt ist, sehr gut.
In Ihrem Buch sprechen Sie sich positiv über die durchaus umstrittene Sportart Freefight aus. Kritiker nennen es die brutalste Sportart überhaupt, insofern es überhaupt ein Sport ist.
El-Halabi: In meinen Augen ist diese Sportart fairer als der Boxsport. Im Boxsport wird im Boxring fairer gekämpft, aber, was dahinter abgeht, ist schlimmer als im Ring bei Freefight. Es ist Abzocke, ein Haifischbecken, abgekarterte Spiele. Freefight ist vielleicht nach außen brutaler und erschreckender, aber es ist fairer als Boxen. Es gibt nicht wie beim Boxen die Option, dass ich mir meinen Gegner aussuchen kann. Bei Freefight gibt es einen Wettkampf und da kann jeder gegen jeden antreten.
Die Videos im Internet sprechen eine andere Sprache. Diese wirken auf mich roh und bestialisch.
El-Halabi: Das habe ich am Anfang auch gedacht. Quasi gezwungenermaßen – weil mein Verlobter diesen Sport betreibt – habe ich mich mit diesem Sport auseinandergesetzt. Er hat mir versucht diesen Ablauf, das Geschehen plausibel zu machen. Wenn man dies versteht, hinter die Kulissen schaut, die Akteure kennenlernt, verliert das Ganze seinen Schrecken. Viele Freefighter sind Akademiker. Diese Durchmischung findet man beim Boxen nicht so in dieser Form. Ich finde diese Sportart nicht bestialisch. Auch beim Boxen gibt es unschöne Szene. Arthur Abraham boxte einen Kampf mit gebrochenem Kiefer und verlor Unmengen Blut. Auch das ist brutal. Beim Freefight spuckt sich niemand an, so wie es manchmal vor einem Boxkampf beim Wiegen der Fall ist.
Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?
El-Halabi: Ich habe noch drei Wunschkämpfe, die ich machen möchte. Dann, denke ich, werde ich diesen Boxsport als Siegerin verlassen. Dann kommt ein neues Leben, in dem ich Mama werden möchte.
Haben Sie Ambitionen im Frauenboxen beruflich aktiv zu werden, um die Dinge anders zu machen, die Ihnen als Sportlerin Schwierigkeiten bereitet haben?
El-Halabi: Nein. Nicht mehr.