Herr Becker, in Ihrem Film "Heinrich der Säger" haben Sie das erste Mal mit Ihrer Tochter Meret zusammen gespielt. Wie lief die Zusammenarbeit?
Ich war zunächst gespannt, was sich durchsetzen würde, das Private oder die Qualifikation der Schauspieler – das letztere hat sich ganz klar durchgesetzt. Allerdings nutzt man natürlich aus, dass man sich kennt. Man hat Differenzierungen parat, die man mit anderen Kollegen erst erarbeiten muss. Das läuft wie mit Kollegen vom Theater, mit denen man schon lange eingespielt ist. Die Arbeit mit meiner Tochter hat mir unheimlich Spaß gemacht, vor manchen Szenen brauchten wir nur zwei drei Bemerkungen zu machen oder Meret brauchte einfach nur den Ton auszuwählen und ich wusste, wie ich darauf reagiere. Sie weiß, wo sie mich abfangen kann und ich weiß, wie ich sie stoppen oder erheitern kann.
Denken Sie daran, noch öfters mit Ben oder Meret zusammenzuspielen?
Das würde ich mir wünschen. Mit Meret war das der Anfang, mit Ben habe ich schon einmal gespielt, allerdings nicht im direkten Aufeinandertreffen, ich habe seine Rolle in alt gespielt. Ich hätte auf jeden Fall Spaß daran, da viele Dinge von alleine ihren Lauf nehmen, die man mit anderen Schauspielern oft mühsam erarbeiten muss.
Wie haben Sie sich denn auf die Rolle des Bahnwärters und noch viel mehr auf die Rolle des "Sägers" vorbereitet?
Ich hatte in Hamburg am Theater schon mal einen Lokführer gespielt, den Nil in den "Kleinbürgern" von Maxim Gorki. Da bin ich damals zur Bahndirektion gegangen und bin zur Vorbereitung auf die Rolle viel mit den Nachtzügen Hamburg-München gefahren, auf der Lok versteht sich. Und jetzt hab ich für diesen Film wieder mit der Deutschen Bahn gesprochen und habe ein Stellwerk gefunden auf dem ich mehrere Tage arbeiten konnte, um auch solche Tätigkeiten zu machen wie der Heinrich im Film. Was die Tätigkeiten des Sägers anbelangt bin ich in Hamburg zur Schiffswerft Blohm&Voss gegangen, habe mir einen Trennschleifer geben lassen, mit dem Betriebsrat gesprochen, die haben mich zwei Kollegen anvertraut, die mich eingewiesen haben. Ich hab dann mit verschiedenen Flexen gearbeitet, zunächst dickere Stahlträger durchgesägt und später auch richtige Schienen. Ich kam am Ende mit 90 Sekunden durch eine Eisenbahnschiene durch, ein Affentempo.
Hatten Sie in Ihrer Kindheit den Traum, Lokführer zu werden?
Klar, wir hatten früher einen Bauernhof etwa 150 Meter von einer Bahnlinie entfernt, unsere Hauskoppel grenzte direkt an die Ladestrasse der Bahn, da sind wir immer hingerannt wenn die Züge vorbeikamen. Das größte Erlebnis war, da muss ich wohl neun Jahre alt gewesen sein, da hat mich ein Lokführer mitgenommen von unserem Bauernhof nach Neumünster und wieder zurück, das waren immerhin 28 Kilometer. Ich durfte sogar helfen Kohlen in den Ofen zu schaufeln, was ich aber kaum hingekriegt habe, weil die Schaufel viel zu schwer war. Aber ich hatte schon das Gefühl Heizer zu sein auf dieser Lokomotive, das war ein prägendes Erlebnis.
Sind Sie heute mit dem Zug angereist?
Nein, sehr schäbig, ich bin mit dem Flieger gekommen und dann aufs Auto umgestiegen – ganz, ganz übel. Ich fahre aber morgen zur Strafe, oder eigentlich aus Freude mit der Bahn zurück.
Ich bin zu Blohm&Voss gegangen, habe mir einen Trennschleifer geben lassen - am Ende kam ich in 90 Sekunden durch eine Eisenbahnschiene durch, ein Affentempo.
Sie fahren gerne mit der Bahn?
Ja, ich sehe die Bahn vor allem als das kommunikativste Verkehrsmittel, was wir haben. Es könnte auch das billigste sein, wenn die Bahndirektion nicht zum größten Teil aus Vorständen bestehen würde, die in der Automobilindustrie ihre Aktien haben. Entsprechend wird gesteuert zu Gunsten des Umsatzes der Automobilindustrie statt das man sich die gesellschaftliche Frage stellt, wie befördert man am günstigsten, am ökologischsten und auch am kommunikativsten. In der Bahn kommuniziert man miteinander, im Auto hingegen setzt sich das fort, was ich in dieser Gesellschaft am schlimmsten finde – jeder gegen jeden. Da ist die Bahn ein Ansatz der Überwindung.
Gegen die Politik der Deutschen Bahn wurde bisher kaum Protest erhoben geschweige denn demonstriert. Jetzt gibt es mit "Heinrich der Säger" einen ersten kritischen Film – glauben Sie die Leute werden in Deutschland gegen die Deutsche Bahn auf die Strasse gehen?
Solange die Autos noch bezahlbar sind, werden die Leute versuchen die meisten Wege mit Autos zurückzulegen. Das Nahverkehrsnetz war früher wesentlich besser als das heutige und wurde ja entwickelt, damit die Unternehmer ihre Arbeiter in die Fabriken kriegten. Da man heute aber am Arbeitsweg der Leute noch verdienen will, hat die Bahn kaum eine Chance, aber das ist die derzeitige Politik. Nur ist das ist keine vernünftige Politik im gesellschaftlichen Interesse sondern nur im ökonomischen Interesse, im Interesse an Verkauf und Einnahmen – das halte ich nicht für zukunftsträchtig. Dieser ganze Individualverkehr ist auf die Dauer auch gar nicht finanzierbar, weil die Voraussetzungen so astronomisch sind, die ganzen Straßennetze, die vor allem die Landschaften kaputtmachen. Man müsste viel mehr reduzieren auf die Massenverkehrsmittel in erster Linie die Bahn und allenfalls in Verästelungen Fahrzeuge einsetzen. Das wäre ein völlig anderes Verkehrskonzept was gesellschaftlich viel verträglicher, vernünftiger und wesentlich preiswerter wäre.
Also ist "Heinrich der Säger" keinesfalls nur contra die Deutsche Bahn.
Nein, der Film ist sogar eine ungeheure Werbung für die Bahn und ich denke, alle Bahnfreunde werden auf diesen Film unheimlich abfahren und werden den Heinrich auch gut verstehen, dass er sägt um zu erhalten. Mein Interesse an diesem Film rührte nicht daher, dass ich zu Hause meine Märklin-Bahn habe – ich habe nie so etwas besessen. Mich interessiert vielmehr die Bahn als das gesellschaftlich vernünftigere und damit zukunftsweisende Verkehrsmittel.
Gab es eine Phase in Ihrem Leben, wo Sie oft demonstriert, viel protestiert haben?
Da muss man gar nicht in der Vergangenheitsform reden, das ist bei mir auch noch Gegenwart. Ich kann ja nicht ein bestimmtes gesellschaftliches Anliegen vertreten, ohne dafür entsprechend einzutreten. Ich beteilige mich viel an Demonstrationen in Hamburg, ob für den Erhalt von Arbeitsplätzen oder gegen Ausländerfeindlichkeit und Kriege.
Was sagen Sie als heute 66-Jähriger zur Loveparade – die war auch mal eine Demonstration, zumindest vom rechtlichen Status her.
Die Loveparade kommt mir vor wie der Tanz auf dem Vulkan, ich weiß nicht ob den Leuten wirklich wohl ist, die daran teilnehmen. Ob die dieses Austoben wirklich meinen, oder ob das nicht eine Flucht ist aus einer Realität die immer verzweifelter wird. Ich bezweifle, dass dort das Lebensgefühl einer nachwachsenden Generation zum Ausdruck kommt. Ich halte das eher für einen Ansatz, mit der eigenen Verzweiflung fertig zu werden, und diese zu überspielen. Drogen oder Alkohol spielen dabei auch eine wesentliche Rolle, nur kann das nicht der wirkliche Inhalt einer nachwachsenden Generation sein. Und wenn man diese Jugend sieht in ihrer Widersprüchlichkeit, ich möchte mit denen nicht tauschen. Ich komme ja aus einer ganz anderen Zeit, ich habe den Faschismus noch erlebt und die Nachkriegszeit. Deutschland war in Trümmern, und das, was gesellschaftlich gemacht wurde hatte so etwas wie einen Ansatz einer Perspektive, dass Deutschland ein besseres und vernünftigeres Land werden konnte. Aber wo ist die Perspektive für die Jugendlichen heute – das ist entweder der völlige Rückzug oder man nimmt mit, was man kriegen kann. Mit der älteren Generation sind die Jugendlichen eigentlich fertig, denn was haben wir ihnen für eine Welt hinterlassen? Wir haben unsere Eltern beschimpft, weil sie uns die Nazi-Welt hinterlassen haben, aber welche hinterlassen wir jetzt der nachwachsenden Generation? Das ist eine ganz beschissene Welt, und in Genua ist deutlich geworden wie die Situation eskalieren kann. Das muss sich in Detonationen entladen und das in einer großen Masse. Wenn man diese 150.000 in Genua mal hochrechnet auf Europa, dann sind Massen dahinter, wo die Unternehmer und Regierenden wissen, was sie niederhalten müssen. Was heute auch ganz anders geworden ist im Verhältnis zur Zeit des Endes der Weimarer Republik, damals gab es große Arbeiterorganisationen von der SPD bis zur KPD, Gewerkschaften, die jedenfalls noch so tun konnten, als wären sie kämpferisch. Wo sind denn heute Organisationen dieser Art, in die Jugendliche noch Vertrauen setzen können? Woher soll jetzt politisches und geschichtliches Wissen kommen, wo man dran anknüpfen kann? Also tritt spontanes Handeln an die Stelle und die Jugendlichen müssen im Scheitern und in den Fehlern, die sie machen lernen, ihren Weg zu finden. Dabei muss man ihnen helfen und man darf sie nicht beschimpfen. Der Heinrich hat ja auch etwas von einem ganz jungen Menschen, in seinem anarchistischen Vorgehen. Der hat sein ganzes Leben nie etwas gemacht, er heißt ja auch mit Recht Kurt Grantke, er grantelt vor sich hin. Und auf einmal wird er rausgerissen und es wird ihm gesagt "deine Strecke wird stillgelegt". Das ist dasselbe, wie wenn man dir sagt, "dein Betrieb wird stillgelegt, das war’s, du kannst gehen". Da setzt sich der Heinrich zur Wehr, spontan, ohne politisches Hintergrundwissen, ohne politische Kontakte. Aber dadurch das er handelt reißt er was mit. Er tut etwas ganz, ganz wichtiges: er leistet Widerstand.