Ronald Zehrfeld

Ich weiß nicht, ob ich den Mut gehabt hätte, zu flüchten.

Schauspieler Ronald Zehrfeld über seine Zeit als Judoka in der DDR, zerstörte Biografien und den Film „Wir wollten aufs Meer“

Ronald Zehrfeld

© Wild Bunch Germany

Herr Zehrfeld, in „Wir wollten aufs Meer“ geht es um die DDR-Freunde Andi und Conny und ihren Traum, als Matrosen zur See zu fahren und die Welt zu sehen. Ihre Eltern arbeiteten bei der DDR-Fluggesellschaft Interflug und lebten in gewisser Weise diesen Traum, oder?
Zehrfeld: Da muss man unterscheiden, Conny und Andi wollen raus aufs Meer, die wollen die Welt sehen und in andere Länder reisen. Meine Eltern wiederum kamen zwar in den Genuss von Freiflügen, allerdings beschränkte sich das auf Ein-Tages-Reisen nach Budapest. Morgens hin und abends zurück. Das war ein Privileg, hatte aber nichts mit der weiten Welt zu tun.

Das große Thema bei „Wir wollten aufs Meer“ sind Freundschaften, aber eben auch instrumentalisierte Freundschaften. Sie selbst wurden 1977 in Ost-Berlin geboren, sind in der DDR groß geworden. Sind Sie mit dieser Stasi-/Spitzel-Problematik in Kontakt gekommen?
Zehrfeld: Ich war ja erst 13, als die Mauer fiel. Es gab aber Fälle in der Verwandt- und Bekanntschaft.

Wie fühlt es sich an, über diese Instrumentalisierung, die man real erlebt hat, einen Film zu machen?
Zehrfeld: Absurd. Das System hat Biografien zerstört. Menschen wurde viel Lebenszeit gestohlen. Da wurde über Leichen gegangen. Und Menschen kamen in ihrem Leben an Punkte, wo klar war, wenn du etwas Bestimmtes erreichen möchtest, musst du hier oder da ein paar Informationen abliefern. Da musste man erstmal den Arsch in der Hose haben und sagen: Ich verrate nix. Der Film handelt von Freundschaft, Verrat und Macht in einem totalitären System und was es mit dir macht. Man kann sich in Conny rein versetzen, aber auch in Andi und dessen Enttäuschung nach seinem Unfall oder in Matze, der das System nicht mehr will. Spannend ist, wie sich die Entscheidungen der einzelnen Figuren im Film nachvollziehen lassen. Das hat sich niemand so ausgesucht, aber jeder musste tagtäglich Entscheidungen treffen.

Als Kind waren Sie Judoka, ein Sportler, der vom System gefördert wurde. Glorifiziert man dann ein solches System?
Zehrfeld: Sicher waren das Erziehungs- und das Bildungssystem anders. Es gab andere Wege, die Kinder von der Straße zu holen: Jungpioniere, die FDJ-ler, den Sport, alles Organisationen, die vom Staat finanziert wurden. Der Staat hatte größtmögliches Interesse daran, zu wissen, was passiert, was die Opposition macht. Sie wussten, dass es Bücher gibt, die man nur unter der Hand bekam und wo es die gibt.
Es gab viele Staaten, die die DDR nicht anerkannten. Aber es gab den Sport. Doping hin oder her, gab es so für Jugendliche einen Anreiz, herum zu kommen, aber eben auch zu zeigen: Ich bin stolz auf dieses Land. Wir sahen früher die Schattenseiten nicht. Es war schwierig über den Tellerrand zu sehen und zu erkennen, dass Leute vom Staat unterdrückt wurden.

Ihre sportliche Karriere ging mit dem Fall der Mauer zu Ende, weil damit der Trainingsstützpunkt quasi aufgelöst war. Denken Sie, wenn Sie Olympia sehen, dass Sie da auf der Matte hätten kämpfen können bzw. vor vier Jahren dort hätten kämpfen können?
Zehrfeld: Ja, vor vier oder eher vor acht Jahren hatte ich solche Gedanken. 1989 bis 1991 war ich noch ein wenig traurig, aber andererseits waren die 90er-Jahre in Berlin eine der spannendsten Zeiten in meiner Biografie. Ich habe das ganz anders miterlebt! Es gab sofort Ablenkung. Als ich 13 bis 20 war, also bis 1997, ist so viel passiert. Da war kein Weg zu weit, kein Berg zu hoch. Vielleicht ist ein Olympia-Traum zerplatzt, aber ich vermisse nichts, weil ich einen Ausgleich bekommen habe.

In einem Interview haben Sie erzählt, dass Ihnen Drops verabreicht wurden, die als Vitamine bezeichnet waren. Sie gehen davon aus, dass Sie also noch vor der Pubertät systematisch gedopt wurden…
Zehrfeld: Dafür gibt es keine Beweise. Aber es gab mal eine Anfrage von anderen Sportlern, die eine Sammelklage vorbereiteten. Da war ich aber einfach zu jung. Fakt ist, wir haben den Kram bekommen. Die Frage ist, waren das Vitamine oder Doping? Für mich war der Preis nicht so hoch, wie für andere Sportler.

Zitiert

Das System in der DDR hat Biografien zerstört. Menschen wurde viel Lebenszeit gestohlen. Da wurde über Leichen gegangen.

Ronald Zehrfeld

Gibt es einen dopingfreien Profisport?
Zehrfeld: Ich würde mir Profisport ohne Doping wünschen. Aber in dieser Leistungsgesellschaft spielen Macht und Geld immer eine Rolle. In unpopulären Sportarten wird vielleicht nicht gedopt. Aber ich glaube schon, dass in kommerzielleren Sportarten gedopt wird.

Kaum ein Artikel über Sie, der nicht Ihre körperliche Präsenz anspricht. Was macht Sie, Misel Maticevic oder auch Benno Fürmann so speziell?
Zehrfeld: Ich bin dieser Obelix. Da ist dieses Vieh. Damit kann ich kokettieren oder mich freuen, aber ich kann mich nicht schmaler machen. Da müsste man eher die anderen fragen, wie es dazu kam, dass es in der Filmlandschaft nicht mehrere solcher Schauspieler gibt.

Wir wollten aufs Meer“ ist das Kinodebüt von Regisseur Toke Constantin Hebbeln. Was zeichnet ihn aus?
Zehrfeld: Mich interessiert, was der Regisseur machen will. Mich hat beeindruckt, wie Toke, der ja aus dem Westen kam, sich in das Thema eingearbeitet hat. Ich, der das erlebt hat, lese so ein Buch natürlich ganz anders.
Die Arbeit von Regisseuren lässt sich aber schwer vergleichen, weil sie unterschiedlichen Ansätzen folgen. Hier fasziniert der Facettenreichtum der Geschichte. Jede der Figuren wühlt die Zuschauer anders auf. Da spielen sicher auch eigene Erfahrungen der Zuschauer eine Rolle, die sie so vielleicht besser verarbeiten können. Das macht was mit dir.

Wie bereiten Sie sich als Schauspieler auf Ihre Szenen vor, zum Beispiel haben Sie schon mal eine Gefängnisszene gespielt. Greifen Sie auf die Erfahrung aus dem alten Film zurück?
Zehrfeld: Das gehört zur Vorbereitung. Einige unserer Kleindarsteller hatten tatsächlich dort Jahre abgesessen und konnten von ihren persönlichen Erfahrungen erzählen. Die haben eine andere Sichtweise darauf, einen anderen Respekt davor, sie können das Erlebte wieder fühlen und fangen teilweise an zu weinen. Du findest über diese großen Männer einen anderen Zugang zum Film. So etwas hilft ungemein bei der Vorbereitung, um Schicksale erfahrbar und sichtbar zu machen. Es gibt so viele dieser Geschichten, die es verdienen gezeigt zu werden. Mich interessiert die Bandbreite der Schicksale, die zugehörigen jeweiligen Motivationen der Akteure, die damit zusammenhängen, aus welcher Schicht sie kommen. Es hilft, die DDR nachvollziehen zu können, die Beweggründe und Entscheidungen des anderen zu verstehen.

Half denn auch Ihre eigene DDR-Biographie bei der Arbeit an „Wir wollten aufs Meer?“
Zehrfeld: Als Schauspieler muss man sich in die Charaktere hineinfühlen – und nicht wie Roland Zehrfeld handeln. Ich weiß nicht, ob ich den Mut gehabt hätte, zu flüchten. Ich war 13 damals. Keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn das mit dem Sport nicht funktioniert hätte. Ich spiele also jemanden, dessen Flucht nicht funktioniert hat, der damit rechnen muss, Frau und Kind nicht wieder zu sehen. Klar hat Matze gehofft, dass die Flucht funktioniert, er die Familie nachholen kann. Er war bereit einen Preis zu zahlen. Er musste raus und setzte sich Gefahren aus, die ihn ins Gefängnis bringen konnten. Es gab zwar noch die Hoffnung, freigekauft zu werden, aber das passierte nicht allen. Viele mussten wieder zurück in ein System, aus dem sie unbedingt raus wollten.

Ihr letzter Film „Barbara“ wurde als deutscher Film in die Oscar-Vorauswahl entsandt. Was erwartet Sie im Fall der Fälle?
Zehrfeld: Erstmal, dass noch mehr Menschen in anderen Ländern diesen Film schauen. Ich beschäftige mich erst damit, was mich erwartet, wenn es auf mich zukommt.

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