(Berlin im März 2008)
Senhor Mendes, wie kommen Sie mit dem winterlichen Wetter in Berlin zurecht?
Mendes: Ich bin in Brasilien geboren und lebe heute in Los Angeles. Da ist es schon okay, mal ein anderes Klima zu erleben, einen Wollpullover zu tragen. Vor einem Monat war ich in Japan, wo in Tokio gerade Schnee lag. Aber ich glaube, ich könnte nicht dauerhaft an einem Ort leben, wo es die ganze Zeit kalt ist und schneit. Ich mag das tropische Klima, die Wärme…
Wie hat denn das Klima in Brasilien Ihre Musik beeinflusst?
Mendes: Brasilianische Musik ist eine sehr fröhliche, romantische Musik und sicher hat das auch mit der Sonne und dem Strand zu tun. Es geht darum, das Leben zu zelebrieren.
Aber nicht jeder brasilianische Song ist ein fröhlicher, besonders im Bossa-Nova liegt viel Melancholie.
Mendes: Melancholie ja. Aber es gibt in dieser Musik keine Wut, es gibt in der brasilianischen Musik keinen Zorn, wie im Rock’n’Roll oder im Rap. Vielleicht singt jemand über eine Affäre, eine Beziehung, die nicht funktioniert hat, und derjenige ist frustriert – aber er ist nicht wütend. Das finde ich wichtig, dadurch bleibt das Positive bestehen. Ich erinnere mich jedenfalls an keinen zornigen Song, vielleicht gab es in den 60ern mal einen Protestsong über die Politik. Aber schauen Sie sich dagegen unser größtes Fest an, den Karneval, wo das ganze Land das Leben feiert. Da gibt es keine Traurigkeit.
Aber heute kommt zum Beispiel auch Baile Funk aus Brasilien, eine recht aggressive Musikrichtung…
Mendes: Die ist sehr fröhlich, du siehst dort niemand weinen.
Und doch könnte man viele Stücke des Baile Funk als aggressiv bezeichnen.
Mendes: Sie sagen ‚aggressiv’, weil der Beat hart ist. Aber es gibt keinen Zorn. Auch zu den Beats des Baile Funk tanzen die Leute und feiern. Niemand verhält sich dort komisch oder brutal.
Hierzulande ist Baile Funk nicht zuletzt durch Filme wie „City of God“ populär geworden, wo es vordergründig um die Gewalt in den Favelas geht.
Mendes: Das ist eine andere Geschichte, die Gewalt, die da passiert. Das hat man ja überall in der Welt, in jeder großen Stadt. Aber wenn es um die Musik geht, zu der die Kids tanzen – die ist normalerweise sehr fröhlich.
Und die Gewalt beeinflusst nicht die Musik, die gespielt wird?
Mendes: Ich denke nicht. Es gibt Gebiete, in denen besonders viel Gewalt herrscht, aber das beeinflusst die Musik nicht. Ich denke sogar, das Gegenteil ist der Fall, dass die Leute eine Musik schreiben, durch die sie diese Gewalt abbauen können. Ein gutes Beispiel ist der Karneval. Wenn sie in den Norden gehen, nach Bahia oder Pernambuco, die Leute tanzen, feiern, da spiegelt die Musik keine Gewalt wider. Weil die Gewalt gibt es überall. Ich lebe in Los Angeles, da gibt es genauso Gegenden, die sehr gefährlich sind, mit Gangs, Drogen und all dem Zeug, das ist nicht nur in Brasilien so.
Jedenfalls sah es in Brasilien in den 60er Jahren noch anders aus.
Mendes: Ja, das war eine sehr ruhige Zeit, eine andere Zeit. Ich habe damals in Rios Stadtteil Copacabana gearbeitet, und ich konnte von dort zu Fuß zu dem Hafen laufen, wo die Fähre in meine Heimatstadt Niterói abfährt. Heute leben in Rio viel mehr Menschen, es gibt große Probleme mit Armut, der Ungleichheit zwischen arm und reich, und das mit Drogen und Pistolen kombiniert ist sehr kompliziert. Aber trotzdem, Brasilien ist ein großartiges Land.
Sie sind damals vor allem mit der Akustik-Band Brasil ’66 aufgetreten. Wie hat sich Ihre Musik bis heute verändert, in Anbetracht der Entwicklung der Musiktechnologie?
Mendes: Wissen Sie, als ich in Rio meine erste Platte aufgenommen habe, da hatten wir ein Zwei-Spuren-Gerät, wir mussten das meiste zusammen live aufnehmen. Dann kamen Geräte mit vier Spuren, acht, 16, 24, dann Multitrack – und heute haben wir Programme wie ProTools, was wunderbar ist. Die Qualität ist gut, die neue Technologie ist großartig. Das Aufnehmen ist viel einfacher und schneller geworden, man kann viel leichter schneiden. Und du kannst einen Song zu irgendjemanden, irgendwohin schicken. Bei der Produktion von meinem Album „Encanto“ habe ich zum Beispiel einen Song zu Till Brönner nach Berlin geschickt und er hat dann ein Flügelhorn-Solo dazu eingespielt. Ich habe auch ein Stück zu Juanes in die Berge Kolumbiens geschickt und er hat die Vocals dazu gesungen.
Aber eine ideale Zusammenarbeit unter Musikern…
Mendes: Natürlich wäre es schöner gewesen, wenn ich mit den Musikern zusammen in einem Raum gewesen wäre. Aber Juanes zum Beispiel konnte nicht ins Studio kommen, weil der einzige Tag, an dem er Zeit hatte ausgerechnet an Weihnachten war. Wir haben dann telefoniert und er hat mir wundervolle Vocals zurückgeschickt und der Track war fertig.
Die Technologie verändert die Aufnahmesituation, verändert sie auch die Musik an sich?
Mendes: Warum sollte die sich ändern? Für mich ist es der Song, der zählt. Wenn du einen großartigen Song hast, dann kannst du alles dazu tun, einen Beat, ein Klatschen… Der Song ist der Schlüssel, die Melodie des Songs, da komme ich her. Alles fängt an mit der Melodie und alles hört mit der Melodie auf.
Aber vor 40 Jahren hatten Sie einen Schlagzeuger…
Mendes: Habe ich immer noch. Die Technologie erlaubt mir, weil es Mehrspurtechnik ist, dass ich Dinge hinzufüge, Samples zum Beispiel, die ich von meinem Schlagzeuger genommen habe. Es gibt so viele Möglichkeiten, es kommt halt darauf an, wie du sie nutzt. Das kann natürlich alles sehr mechanisch klingen, aber das tut es nicht, wenn es vom Herz her kommt, dann ist es immer großartig. Kopfmusik gegen Musik, die aus dem Herzen kommt, da liegt der Unterschied.
Benutzen Sie Click-Track? (Metronom, welches Musikern bei der Aufnahme ein gleichmäßiges Tempo vorgibt)
Mendes: Normalerweise benutze ich das nicht. Manche Schlagzeuger mögen es als Orientierung, damit sie gleichmäßig bleiben, andere brauchen es nicht. Wenn du mit einem Percussionisten wie Carlinhos Brown zusammenarbeitest, vergiss den Click. Du lässt sie einfach spielen…
Es gibt in der brasilianischen Musik keinen Zorn, wie im Rock’n’Roll oder im Rap.
Wäre es für Sie reizvoll heute noch einmal ein klassisches Bossa-Nova-Album aufzunehmen?
Mendes: Ich habe das ja sehr viel gemacht. Und ich denke, dass auch meine heutige Musik sehr natürlich und organisch aufgenommen und produziert ist, mit all den Drums und Percussions. Außerdem mag ich es, neue Dinge auszuprobieren, zu experimentieren mit verschiedenen Musikern, Sängern. Das treibt mich an.
Sie mochten also die Erfahrung mit Ihrem 2006er Album „Timeless“, bei dem Sie erstmals mit will.i.am von den Black Eyed Peas zusammengearbeitet haben…
Mendes: Ja, ich mochte die Herausforderung. Das war für mich eine Entdeckung, ein Abenteuer. So etwas fasziniert mich viel mehr, als jetzt zu versuchen, etwas Puristisches zu machen.
Bebel Gilberto, die Tochter von João Gilberto, die heute auch eine Mischung aus Bossa-Nova und elektronischer Musik macht, sagt, dass zur Zeit ihres Vaters die Musik viel mehr von Liebe inspiriert war als heute. Stimmen Sie ihr zu?
Mendes: Das ist ihre Meinung. Nein, es gibt so viele große Komponisten in Brasilien, Leute wie Caetano Veloso oder Gilberto Gil, die kamen nach dem Bossa Nova, genauso wie Milton Nascimento. Liebe ist immer noch der größte Motivator, da können Sie jeden Komponisten oder Künstler fragen. Ich fände es eine sehr romantische Vorstellung, zu sagen, dass Liebe damals viel mehr bewegt hat. Die Liebe ist immer noch da. Gott sei Dank
Liebe fehlt der heutigen Musik also nicht…
Mendes: Nein. Was wir aber im Moment weniger haben, sind Melodien. Die Songs, die in der damaligen Zeit geschrieben wurden, vor allem von Antonio Carlos Jobim, die waren einfach unglaublich. Heute ist es schwer, Leute zu finden, die so Musik schreiben können und ich vermisse die guten Melodien. Wenn Sie heute das Radio anmachen, die jungen Hörer werden heute viel mehr motiviert durch Atmosphäre, Sounds und Beats als durch wirkliche Songs. Die Bossa-Nova-Zeit, als es Jobim gab, die Beatles, Burt Bacharach oder früher Cole Porter – das waren melodische Zeiten.
Kommen die wieder?
Mendes: Ich bin mir sicher, dass das ein Kreislauf ist und dass wir wieder dahin zurückkehren. Ich finde allerdings auch das, was ich heute mache, eine gute Kombination. Fergie von den Black Eyed Peas meinen Song „The Look of Love“ singt, dazu ein funky Rio De Janeiro-Beat, – das klingt wie 2008. Aber es ist immer noch eine wundervolle Melodie dabei.
Mit welchen Gedanken beobachten Sie den in den letzten Jahren immer stärker gewordenen Einfluss der Musikindustrie?
Mendes: Also, die Kids entdecken Musik heute ja auch durch das Internet, viel schneller als es früher möglich war. Du kannst dich einloggen und dir Musik aus Afrika oder Indien da rausholen, die Menge an Information ist unglaublich. Wenn ich daran denke, wie schwer vor 40 Jahren in Brasilien war, eine Jazz-Platte zu finden.
Ich mag solche Dinge wie Itunes, oder Starbucks, wo du deinen Kaffee trinken kannst und danach eine CD mitnehmen kannst, die du dort gehört hast. Es gibt heute sehr viele verschiedene Wege, Musik zu verkaufen, und fest steht, dass sich das alte Modell wandeln muss.
Sind Sie ein Technologie-Fan?
Mendes: Ich denke, Dinge wie das Telefon sind schon sehr wichtig. Aber am Ende des Tages will ich nur einen guten Song spielen. Das brauche ich viel mehr als irgendwelche Technologie. Geben Sie mir ein Klavier, einen guten Sänger – dann bin ich glücklich. Vielleicht noch eine gute Flasche Wein dazu.
Auf „Encanto“ haben Sie „Agua de Beber“ gecovert…
Mendes: Ja, ein Klassiker von Jobim. „Wasser zum Trinken“ heißt er übersetzt.
Was ist Ihr Lebenselixier?
Mendes: Familie, Frau, Kinder – das ist das Beste. Reisen, meine Freunde – und ich bete für gute Gesundheit. Der Rest ist Glück.
Was war das Wichtigste, was Antonio Carlos Jobim Ihnen beigebracht hat?
Mendes: Alles. Harmonien. Melodien, die Architektur einer Komposition, Orchestration – er war unglaublich, ein Genie! Und ich hatte großes Glück, dass ich mit ihm Zeit verbringen durfte. Er war ein eine sehr interessante Persönlichkeit, sehr lustig, superintelligent. Er setzte sich ans Klavier, spielte einen Song für dich, und du dachtest: „Wow, das ist nicht Technik, sondern das ist die Essenz von Schönheit.“
Was hat er Ihnen über das Leben beigebracht?
Mendes: Es ist schwer, da jetzt eine bestimmte Sache zu nennen. Aber er war sehr romantisch, er liebte die Natur, er hat viel über die Vögel gesprochen… Wenn Sie sich „Waters of March“ anhören, ein wunderbarer Song! Er war ein großer Songwriter, ein Melodiker.
Hat die Natur auch Ihre Musik beeinflusst?
Mendes: Natürlich, wenn du an einem schönen Ort bist… Ich bin in Rio aufgewachsen, eine wunderbare Stadt, der Strand, die schönen Leute, die Berge – das beeinflusst dich.
Wie viel Zeit verbringen Sie jedes Jahr in Brasilien?
Mendes: Ein bis zwei Monate.
Und was bringen Sie sich danach mit in die USA?
Mendes: Meistens gar nichts. Ich würde gerne Früchte mitbringen, oder Samen. Die Mango in Brasilien ist äußerst lecker. Aber wenn ich das einführe, würden die mich wahrscheinlich verhaften. Sie dürfen ja keine Nahrungsmittel in die USA mitbringen, wegen irgendwelcher Einreisebestimmungen. Aber das Gute daran ist vielleicht, dass man diese Dinge in Brasilien dann um so mehr genießt. Genauso wenn ich in Japan bin, dann lebe ich dort japanisch. Ich esse japanisches Essen, höre japanische Musik, trinke Sake. Und wenn ich in Brasilien bin gehe ich an den Strand, schwimme und esse Mango.
Mögen Sie die Globalisierung?
Mendes: Ich mag den Aspekt, dass Musik durch die ganze Welt reist. Jetzt sitze ich hier in Deutschland, spreche über meine neue Platte, die Leute hier mögen brasilianische Musik, das ist wunderbar. Die Kultur hat heute weniger Grenzen. Dieses Jahr hat eine französische Schauspielerin in Hollywood den Oscar bekommen (Marion Cotillard für ihre Rolle in „La vie en rose“, Anm. d. Red.) – so was mag ich. Kunst, die reist, der Austausch von Meinungen, weltweit.