Frau Ateş, Sie sind gerade 50 Jahre alt geworden. Haben Sie gefeiert?
Seyran Ateş: Ja, es gab eine heftige Party mit vielen Freunden, Freundinnen, Nachbarn und Verwandten, etwa 70 Leute. Allein meine Verwandten reichen aus, um so eine Party in Schwung zu bringen.
Es ist jedoch nicht für jeden Muslim gebräuchlich, den eigenen Geburtstag zu feiern, oder?
Ateş: Da muss man unterscheiden zwischen orthodoxen und liberalen Muslimen. Jene, die den Islam wortgetreu leben, verbieten den Geburtstag und das Feiern, wenn es nicht mit religiösen Feierlichkeiten zu tun hat. Sie verbieten auch, zu klatschen, Musik zu hören geschweige denn, dazu zu tanzen. Solche Leute habe ich aber nicht als Freunde oder Bekannte, das würde nicht zusammengehen, weil wir liberale Muslime sind. Bei meinen Verwandten ist es heute absolut normal, den Geburtstag zu feiern, mit einer Torte und Geschenken.
Es gibt aber auch die Sufis und die Derwische, die Musik machen und dazu tanzen. Das ist eine Ausrichtung des Islams, die Musik als etwas Göttliches ansieht, als etwas etwa Religiöses und Notwendiges. Zu diesen Muslimen gehört meine Familie eher.
Sie haben im vergangenen Jahr Ihre türkische Staatsbürgerschaft abgegeben. Was für ein Gefühl hatten Sie dabei?
Ateş: Meine Gefühle zum Thema Staatsangehörigkeit haben sich im Laufe der Zeit verändert, auch durch das Erlebnis bei meiner letzten geplanten Einreise in die Türkei (die türkischen Behörden wollten Ates‘ Personenschützer vom LKA nicht mit Waffen einreisen lassen, mit Verweis auf ihre türkische Staatsbürgerschaft, ohne jedoch selbst Personenschutz zur Verfügung zu stellen, Anm. der Redaktion).
Vorher habe ich gedacht, die doppelte Staatsangehörigkeit ist ganz wichtig für meine Identität und wenn ich sie abgebe, gebe ich einen so wichtigen Teil von mir ab, dass ich es als Schmerz empfinden werde. Ich habe mich intensiv gefragt, ob dann alles in mir zerbricht, ob es ein Gefühl in mir zerstört. Als ich den Antrag gestellt habe, war das aber bei weitem nicht so schlimm. Und als ich den Pass abgeben musste und die Frau zu mir sagte „das ist jetzt endgültig“ habe ich auch nochmal in mich gehorcht. Aber es ist nichts in mir zerbrochen oder kaputt gegangen. Ich habe mich nicht von den Leuten oder von dem Land verabschiedet. Ich habe nur auf einen rechtlichen Status verzichtet, der für mich ja negativ war. Ich habe das aus Vernunft gemacht. Und danach fühlte mich erleichtert. Ich weiß jetzt: Wenn mir in der Türkei etwas passiert, dürfen die Deutschen einschreiten.
Wie oft sind Sie in der Türkei?
Ateş: Ich bin seitdem nicht in die Türkei gereist. Aber ich spiele gerade mit dem Gedanken nach Istanbul zu fliegen. Ich vermisse meine beste Freundin, die dort lebt und ich vermisse Istanbul.
Könnten Sie Schwierigkeiten bei der Einreise bekommen?
Ateş: Ich weiß nicht, ob die jetzt sagen: „Dich wollen wir hier nicht mehr haben!“ Allerdings denke ich, dass Erdogans Regierung und die zuständigen Behörden so klug sind, mich zu ignorieren, damit die Sache nicht so wichtig genommen wird. Alles andere wäre dumm, denn solche Schlagzeilen, die will dort niemand.
Wie stehen Sie zum Entscheidungszwang bei doppelter Staatsbürgerschaft für über 23-Jährige, die die Staatsbürgerschaft eines Nicht-EU-Landes haben?
Ateş: Die aktuelle gesetzliche Regelung finde ich fürchterlich. Junge Menschen werden gezwungen, sich für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden, ohne dass sie darauf vorbereitet werden. Sie wissen gar nicht wofür oder wogegen sie sich entscheiden. Sie bekommen nur einen Dreizeiler zugeschickt, dass sie jetzt an der Reihe sind und sich entscheiden müssen. Der Staat, fühlt sich offensichtlich nicht verantwortlich, die jungen Menschen bei dieser Entscheidung zu begleiten, das finde ich falsch. Wenn Deutschland diese jungen Menschen für sich gewinnen will, dann sollte Deutschland auch dafür werben, dass sie die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen – was ja die meisten tun, aus praktischen Gründen. Die anderen entscheiden sich dann aus emotionalen Gründen dagegen.
Was aber genauso nachvollziehbar ist, oder nicht?
Ateş: Diejenigen Eltern, die sehr nationalistisch, traditionell denken, drängen ihre Kinder zur türkischen Staatsangehörigkeit, weil sie Angst haben, ohne die Staatsbürgerschaft weniger Rechte in der Türkei zu haben, wenn sie zum Beispiel Immobilien erwerben wollen, wenn sie erben wollen – das geschieht aufgrund von Unwissenheit über ihre tatsächlichen Rechte und aus einer starken Emotionalität heraus. Sie bleiben doch Türken, auch wenn sie den deutschen Pass haben. Ihnen wird nicht die Sprache, die Kultur oder sonst etwas weggenommen, sie sind nicht plötzlich deutsch-deutsch sondern sie haben eine transkulturelle Identität, sie sind Deutsch-Türken.
Haben Sie sich denn vor allem aus praktischen Gründen für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden?
Ateş: Bei mir ist es auf jeden Fall das Land, für das ich mich entschieden habe. Deshalb fordere ich ja auch die jungen Leute auf: Entscheidet euch für das Land, für die Verfassung und für die Gesellschaft, auch dafür, als Bürger Teil zu haben an der Entwicklung in diesem Land. Es ist ja auch die Entscheidung dafür, das Volk zu sein. Und als Volk dieses Landes kannst du zu dem Deutschen, der dir rassistisch begegnet, sagen: „Ich bin auch deutsch!“
Publizieren Sie Ihre Bücher eigentlich nur auf Deutsch?
Ateş: Ja, ausschließlich.
An wen richten sich Ihre Bücher?
Ateş: An diejenigen, die Deutsch lesen können. Es gibt aber auch sehr viele Türken und Türkinnen, die kein Deutsch lesen können, die von anderen gehört haben, worüber ich schreibe und Fans von mir geworden sind. Die sagen zu mir: „Lass es doch endlich mal übersetzen, ich möchte selber lesen, was du da geschrieben hast.“
Und?
Ateş: Bislang hat kein türkischer Verlag Interesse gezeigt. Bei dem Buch „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ wäre es fast so weit gekommen, aber damals habe ich mich aus Angst aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Ich ich kann mir vorstellen, dass ich in den nächsten ein, zwei Jahren mit türkischen Verlagen ins Gespräch kommen werde. Denn die Nachfrage nach einer türkischen Übersetzung, die gibt es.
Aber könnte es sein, dass mit der Abgabe der Staatsbürgerschaft Ihre Publikationen in der Türkei weniger beachtet, Ihre Stimme weniger gehört wird?
Ateş: Nein, keineswegs. Die Menschen dort sehen mich so oder so als türkische Gastarbeitertochter, die denken nicht in den Kategorien der Staatsbürgerschaft. Es gibt in der Türkei dieses Bild von Gastarbeitern: Das sind diejenigen, die weggegangen sind nach Deutschland und so schräg zurückkommen. In ihren Augen sind wir „Almancılar“, „Deutschländer“, ein komisches Volk, mit dem man nicht so wirklich zurecht kommt.
Warum nicht?
Ateş: Wenn am Flughafen eine ganze Ladung aus Berlin, Köln oder Hamburg ankommt, dann ist das für die Türken ein unzivilisiertes Volk, das da aus Deutschland einfliegt: Leute, die nicht mitbekommen haben, dass die Türkei schon viel moderner geworden ist, als sie selbst. Die Türken, die nach Deutschland gekommen sind, sind in ihrer Entwicklung teilweise sehr langsam, sie sind im Kopf in ihrem Dorf geblieben. Es sind ja mehrheitlich bildungsferne Menschen, viele Bauern, entsprechend grob und einfach ist ihr Verhalten und ihre Sprache.
Dann gibt es auch welche, die in Deutschland zu Geld gekommen sind, die Neureichen-Allüren haben, mit dicken Autos zurückkommen und damit angeben. So etwas können viele Türken in der Türkei gar nicht mehr ertragen, sie reden nicht sehr positiv über die Deutschländer. Wir hatten mal einen Autounfall in der Türkei, da hat man uns als „Abfall der Deutschen“ beschimpft.
Aus einer religiös-traditionellen Haltung heraus?
Ateş: Nein, im Gegenteil. Die wundern sich, dass sich die Gastarbeiter-Türken in Deutschland nicht zivilisiert haben, sondern Barbaren und Wilde sind, obwohl sie in Europa leben. Viele werden als zurückgebliebenen Türken wahrgenommen. Und wenn Touristen aus der Türkei nach Deutschland kommen und sich die Parallelgesellschaften anschauen, die Siedlungen, in denen die Türken sich niedergelassen haben, sind die meisten beschämt und denken sich: „Wenn die Deutschen daraus ihr Bild über die Türken ableiten, dann ist es kein Wunder, dass wir nicht in die EU aufgenommen werden.“
Das bringt uns zum Thema Integration. Sie kritisieren in Ihrem Buch „Wahlheimat“ ja die Integrationskurse…
Ateş: Ich kritisiere vor allem die Kurse, die dort angeboten werden, wo türkisches oder arabisches Leben als Parallelgesellschaft stattfindet, also in Vereinen oder Moscheegemeinden. Das sind sehr konservative Orte, eine andere Welt, die sich kulturell von der Gesellschaft unterscheidet, in welche die Menschen integriert werden sollen. So ein Angebot kann nicht authentisch sein. Wenn eine Moscheegemeinde Integrationskurse anbietet, ist das auch sehr stark mit Religiosität vermengt, das ist bereits ein Grund, warum Integration nicht funktionieren kann. Weil gerade diese religiösen Menschen darauf bedacht sind, ihre Gemeinde bei sich und beieinander zu halten. Und der deutsche Staat bezahlt das dann auch noch. Das finde ich den allergrößten Fehler. Es kann nur funktionieren, wenn neben der Sprache auch Werte, Kultur und Politik des Landes vermittelt werden, in das die Menschen integriert werden sollen.
Was schlagen Sie vor?
Ateş: Es wäre sehr gut, wenn die Menschen auch damit konfrontiert werden, dass das Land multikulturell ist. Wenn also Türken und Araber nicht nur untereinander sind sondern auch mit anderen Menschen zusammenkommen, die genauso Deutsch lernen, aber nicht eine gemeinsame erste Sprache mitbringen. So lernt man besser und so lernt man auch andere Kulturen kennen.
Sie sprechen beim Thema Integration auch von einer „Assimilation von beiden Seiten“. Was können wir als Deutsche ohne Migrationshintergrund tun, um die unvertraute, fremde Kultur in unsere Identität zu integrieren?
Ateş: Das ist eine spannende Frage. Was tatsächlich in den letzten Jahrzehnten zu beobachten ist: Die Leute lernen immer mehr Sprachen. Jeder Deutsche nutzt die Gelegenheit irgendwo Englisch aufzuschnappen, viele sprechen noch eine andere Sprache, es lernen auch immer mehr Leute Türkisch, weil sie sagen, es gibt so viele türkische Menschen um mich herum. Mit dem Spracherwerb lernt man auch eine andere Kultur kennen. „Eine Sprache, ein Mensch“ sagt man im Türkischen. Jede Sprache, die du lernst, macht aus dir einen neuen Menschen, eine neue Identität. Viele Deutsche sind sehr offen, sie reisen viel und wollen neue Dinge erfahren. Dadurch, dass sie sich in eine andere Kultur begeben, bekommen sie einen Einblick, was fremd ist und welche Kultur vielleicht ähnlich ist, auch wenn sie teilweise anders gelebt wird. Die Deutschen verstehen: Wir leben in einer globalisierten Welt mit vielen verschiedenen Kulturen, die auch ein Angebot, eine Bereicherung darstellen. Wenn ich das begreife, assimiliere ich mich in die Einwanderungsgesellschaft.
Wir würden uns auch als weltoffene Menschen bezeichnen, hatten bislang jedoch kaum Berührungspunkte mit der türkischen Kultur. Woran könnte das liegen?
Ateş: Sicherlich ist die Religion ein Aspekt, der abschreckt. Zur Zeit werden die allermeisten terroristischen Anschläge, die auf dieser Welt stattfinden, von Islamisten initiiert.
Doch die bereits erwähnte „Parallelgesellschaft“ existierte schon vor dem 11. September 2001.
Ateş: Ja, aber auch vor 2001 hat uns dieser Aspekt getrennt, man hat es nur einfach ignoriert und nicht darüber geredet. Als es dann geknallt hat, hat man festgestellt, dass vielleicht der Islam ein Grund sein könnte. Auf der anderen Seite haben sich in dem Moment sehr viele von den demokratiefeindlichen Menschen auf muslimischer Seite angefangen, zu outen. Es gibt immer mehr Kopftuchträgerinnen. Warum? Diese Frauen grenzen sich ab, weil sie meinen, dass sie selbst ausgegrenzt wurden.
Sind Sie optimistisch, was die Parallelgesellschaften anbelangt, dass die sich auflösen?
Ateş: Ich bin optimistisch, dass wir als Gesamtgesellschaft damit einen besseren Umgang finden werden, so dass die Parallelgesellschaften für uns nicht mehr eine so große Gefahr darstellen. Gänzlich auflösen müssen sie sich aber nicht. Eine multikulturelle Gesellschaft erträgt es, dass es in einer Stadt gewisse Straßenzüge gibt, in denen es mehrheitlich homogene Angebote zum Beispiel an Russischem, Italienischem oder Türkischem gibt. Ich habe gerade von einer riesigen Einkaufshalle gehört, wo man alles „Made in China“ kaufen kann. Das ist doch fantastisch! Solange aus der Parallelgesellschaft keine Feindlichkeit gegen die Mehrheitsgesellschaft organisiert wird, geht das.
Stichwort Feindseligkeit: Wie relevant halten Sie jemand wie Thilo Sarrazin für den Integrationsprozess?
Ateş: Herr Sarrazin hat seinerzeit als Finanzsenator in Berlin viel Geld im Bereich Integration gestrichen. Dann hat er hat ein Buch über Armut und sozial schwache Familien geschrieben und darin einen Bogen hin zu Migranten gespannt. Dabei hat er sie so dermaßen feindlich beschrieben, dass ich nicht verstehe, wie ein intelligenter Mensch in so eine feindliche Stimmung kommt. Es ist richtig, dass wir in diesen Parallelgesellschaften, in unserer multikulturellen Stadt, Probleme beim friedlichen Zusammenleben haben. Doch das hätte er auch anders beschreiben können.
Sarrazin ist Statistiker und in seiner Analyse ausgesprochen kühl.
Ateş: Der weiß gar nicht, was er anstellt, mit seiner Sprache. Und all den Statistiken, die er heranzieht, kann man zehn Statistiken entgegenhalten, die in die entgegengesetzte Richtung zeigen. Ich kenne all diese Untersuchungen, ich bekomme immer wieder welche zugeschickt und bin dann irritiert darüber, wie gut es statistisch aussieht. Darüber könnte man genauso ein Buch schreiben, dass alles Friede, Freude, Eierkuchen ist.
Herr Sarrazin hat eine rechte Seite bedient, er hat tatsächlich auch diese Angst vieler Menschen vor Überfremdung, vor der Islamisierung Deutschlands bedient.
Ist das denn eine Sorge, die Sie nachvollziehen können? Oder ist „Überfremdung“ bloß Populismus?
Ateş: Also, wenn wir uns die Salafisten anschauen und einige andere radikale Islamisten, dann können wir sagen: Es gibt in Deutschland Menschen – mögen das ein paar hundert oder ein paar tausend sein –, die aus Deutschland gerne ein islamisches Land machen würden. Deshalb bleiben sie ja hier und ziehen nicht in ein islamisches Land, weil sie der Überzeugung sind, dass sie es irgendwann schaffen werden, Deutschland zu islamisieren.
Uns ging es jetzt weniger um die Salafisten als um die generelle Sorge vor Überfremdung, zum Beispiel bei Menschen, die Sarrazins Argumentation in Bezug auf die unterschiedlichen Geburtenraten folgen.
Ateş: Diese Menschen denken ja nicht weiter nach, bei denen findet keine differenzierte Überlegung statt. Es werden immer weniger Urdeutsche und immer mehr Migranten geboren, was aber nicht heißt, dass all die Migranten, die hier geboren werden, feindliche Migranten sind. Sondern davon sind mehr als die Hälfte friedliche Menschen, die hier leben, zur Schule gehen, sogar Abitur machen, einen vernünftigen Beruf erlernen und dazu beitragen, dass dieses Land und seine Wirtschaft überhaupt funktioniert.
Menschen, die Sarrazins Darstellungen lesen, aber wenig Ahnung haben, die müssen natürlich große Angst haben. Weil sie denken, es gibt bald nur noch Türken und Araber in Deutschland. Doch das ist eine Milchmädchenrechnung, denn wenn jetzt mehr Migrantenkinder auf die Welt kommen, bedeutet das nicht, dass Deutschland mit all seinen Werten untergeht. Viele dieser Migranten leben sehr modern und sind demokratische, freiheitliebende, verfassungstreue, vielleicht sogar verfassungspatriotische Menschen, wie ich. In dieser Differenziertheit hat der Leser das Buch von Herrn Sarrazin natürlich nicht gesehen.
Wenn sie beim Verfassungsschutz vermeintlich Akten verlieren und vermeintlich Ermittlungsfehler passieren, denke ich, dass dort ein System dahinter steckt.
Sarrazin betrachtet Einwanderungspolitik im Hinblick auf den wirtschaftlichen Nutzen. Finden Sie das legitim?
Ateş: Ich betrachte das auch so, das tun wir doch alle. Wenn wir als Bürger eines Landes zusammenleben, begreifen wir uns als Solidargemeinschaft und wollen dafür Sorge tragen, dass das Land funktioniert, dass wir hier alle genug zu essen haben. Auch die Migranten, die hierherkommen, sind wirtschaftlich interessiert, sie wollen Arbeit haben, dafür Geld bekommen. Es gibt auch welche, die nicht arbeiten gehen und vom Sozialstaat leben wollen, aber solche Menschen gibt es auch unter den Urdeutschen.
An welchen Stellen können Sie das, was Sarrazin schreibt, nachvollziehen?
Ateş: Ich gebe ihm in dem Punkt Recht, dass wir uns die Frage stellen müssen: Kann der Sozialstaat das überhaupt noch tragen, was wir uns hier leisten? Können wir es uns leisten, dass Menschen herangezogen werden, die sagen: „Ich will Hartz4 werden.“ Aber was er macht, ist sehr wenig emphatisch denjenigen gegenüber, die es betrifft. Er sortiert die Menschen aus, hat kein bisschen Mitgefühl für diejenigen, die etwas nicht können oder einfach nichts für ihre Situation können. Er schmeißt die Hartz4-Empfänger mehrheitlich in die Schmarotzer-Ecke, wo ich es umgekehrt sehen würde: Ja, es gibt Sozialschmarotzer, aber die meisten wären froh, wenn sie da raus wären. Und wenn er von der „Produktion von Kopftuchmädchen“ spricht, sage ich: Die Eltern zwingen ihre Kinder dazu, ein Kopftuch zu tragen.
Solche Formulierungen geben ja auch die Motivation dahinter wieder. Seine Motivation ist mir zu feindlich und ich sehe da darin auch rassistische Aspekte: nämlich, dass diejenigen, die ordentlich als Maschinen arbeiten, als niederes Volk hier bleiben und alle anderen gehen sollen. Das ist die sehr arrogante, kolonialistische Betrachtungsweise eines Herrenmenschen.
Sie haben 2007 in „Der Multikulti-Irrtum“ geschrieben, es fehle nicht viel, „bis in Deutschland die Situation überkocht.“ Was konkret befürchten Sie?
Ateş: Ich war Mitglied der ersten Staffel der Islamkonferenz, von 2006 bis 2009 und dort habe ich relativ früh gesagt, dass es auch in Deutschland immer mehr Stimmen gibt, die nach der Scharia rufen, nach der Paralleljustiz. Das würde bedeuten, dass Muslime in einzelnen Bereichen nach islamischem Recht urteilen, und zwar in den Moscheen, nicht vor Gericht. Damals wurde meine Befürchtung als zu übertrieben abgetan, doch heute haben wir diese Diskussion. Und wenn wir nichts dagegen unternehmen, haben wir hier irgendwann eine kleine, aber nicht zu unterschätzende radikale islamistische Gemeinde, die für eine Parallelwelt der Muslime kämpft. Und sie vielleicht so weit etabliert, dass das islamische Rechtssystem ohne staatliche Kontrolle funktioniert, sprich ohne, dass wir es mitbekommen, weil diese Menschen es privat leben.
Die ersten Anzeichen habe ich als Anwältin schon Anfang der 2000er Jahre beobachtet, wenn mir Frauen berichtet haben, dass sich der Ehemann, mit dem sie standesamtlich verheiratet sind, mit einer zweiten Frau per Imam verheiratete. Oder wenn Familien sich entschieden haben, dass eine Imamehe auch für die Erstfrau ausreicht.
Sie haben sich als Anwältin vor allem für zwangsverheiratete Frauen eingesetzt…
Ateş: Ja, aber nicht ausschließlich. Von den Fällen, die ich bearbeitet habe, waren mindestens die Hälfte Zwangsverheiratungen. Ich habe 2003 angefangen, dafür zu kämpfen, dass Zwangsheirat ein Straftatbestand wird. Es gibt keine statistisch belegbaren Zahlen, aber ich schätze, dass unter den in Berlin lebenden Türken 30 bis 60 Prozent zwangsverheiratet werden. Es ist aber meiner Ansicht nach in den letzten Jahren weniger geworden, weil der Kampf gegen die Zwangsverheiratung tatsächlich Erfolg hat. Immer mehr junge Menschen setzen sich dagegen zur Wehr, sowohl Frauen als auch Männer und es finden immer mehr Liebes-Heiraten statt.
Was ist heute als Anwältin Ihr Hauptgebiet?
Ateş: Ich mache Familienrecht, das ist mein Tagesgeschäft und die Fälle, die im Moment zu mir kommen sind hauptsächlich Scheidungen und Sorgerechtsentscheidungen.
Frau Ateş, Ihr aktuelles Buch trägt den Untertitel, „Warum ich Deutschland lieben möchte“. Was macht es Ihnen denn derzeit schwer, sich mit Deutschland zu identifizieren?
Ateş: Nichts. Es gibt nur Dinge, die mich auch als Mensch, der dieses Land liebt, aufregen. Was ich zum Beispiel trotz meiner großen Liebe für Deutschland sehr traurig finde ist, dass es nach wie vor für Menschen mit einem nicht-deutschen Namen sehr schwer ist, einen Arbeitsplatz oder einen Ausbildungsplatz zu finden. Eine gute Qualifikation auf dem Fachgebiet, sehr gutes Deutsch, vielleicht dazu noch Kenntnisse in Englisch, Türkisch oder Arabisch reichen bei den allermeisten nicht aus, um eine adäquate Stelle zu finden. Da wird immer noch der deutsche Name vorgezogen. Das ist sehr traurig, Menschen, die einen vernünftigen Beruf erlernen, sich eine Existenz aufbauen wollen, bekommen große Probleme, nur weil sie einen fremdländischen Namen haben.
Sie erwähnen im Buch ja Ihre Liebe zur deutschen Verfassung…
Ateş: Ja, unsere Verfassung ist so nah an der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dass man sie einfach nur lieben kann, wenn man Menschenrechtsaktivistin ist. Sie gibt uns viel Demokratie und viel Freiheit, sie bewirkt, dass wir eine offene, demokratische Gesellschaft sind, sie ist für das Zusammenleben der Menschen eine Art Gesamtkunstwerk.
Das ist die Theorie.
Ateş: Richtig, aber dahinter steckt auch eine Praxis. Ich habe auf der Demonstranten-Seite erleben dürfen, dass uns das Recht gegeben wird, frei unsere Meinung zu äußern und zu demonstrieren. Sei es gegen Atomkraftwerke, für Frauenrechte, am 1. Mai oder beim Christopher Street Day. Ich habe meine 20er Jahre mit Demonstrieren verbracht und eins zu eins miterlebt, wie einfach das für uns war, zu demonstrieren, auch gegen den Staat, gegen die Polizei sein zu dürfen. Trotzdem hat uns die Polizei beschützt.
In der Türkei dagegen habe ich als Anfang 20-Jährige bei den Unruhen in den 80ern gesehen, wie junge Menschen geprügelt und aus den Universitäten ausgeschlossen wurden, wie es einen Krieg zwischen den Rechten und den Linken gab, mit vielen Toten.
In Anbetracht dessen, dass der NSU über viele Jahre unentdeckt blieb und bei den nachfolgenden Ermittlungen viele Akten „versehentlich“ geschreddert wurden – welches Bild haben Sie vom deutschen Verfassungsschutz?
Ateş: Meine Meinung zum Verfassungsschutz ist sehr negativ, aber nicht erst seit diesen vermeintlichen Pannen. Ich wurde ja 1984 in einer Beratungsstelle für Frauen aus der Türkei angeschossen, damals hatten wir dem Verfassungsschutz genug Informationen dazu gegeben, dass die „Grauen Wölfe“ diesen Anschlag verübt haben, damit sie in diese Richtung recherchieren. Als dann 1985 im Prozess ein Mann verurteilt werden sollte, den wir per Phantom-Foto erkannt hatten, tauchte ein Verfassungsschutzbeamter im Gerichtssaal auf. Und auf die Frage des Richters, ob es eine politisch motivierte Tat sein könnte, sagte er, er kenne keinen Verein namens „Graue Wölfe“ und könne dazu nichts sagen. Das war seine einzige Aussage. Seitdem ist meine Meinung zum Verfassungsschutz, dass er auf dem rechten Auge blind ist. Wenn sie dort vermeintlich Akten verlieren und vermeintlich Ermittlungsfehler passieren, denke ich, dass dort ein System dahinter steckt.
Und wenn Sie, wie in den letzten Monaten häufig, von „technische Pannen“ beim Verfassungsschutz lesen…
Ateş: … dann denke ich: „Guten Morgen, Rest der Welt!“ Natürlich sind das keine Pannen. Welcher intelligente Mensch lässt sich das auf’s Brot schmieren? Für wie dumm hält man uns?
Es ist zumindest die offizielle Sprachregelung.
Ateş: Das ist peinlich genug. Man findet ja keine anderen Worte dafür. Das Positive an der ganzen Sache ist wiederum, dass jetzt alles an die Öffentlichkeit dringt, dass immer mehr Menschen sehen, von was für einem Apparat wir die ganze Zeit, vermeintlich, beschützt wurden.
Die Aufdeckung der NSU-Morde und das, was bei den Ermittlungen schief gelaufen ist, hat das Ihre Liebe zu Deutschland nicht erschüttert?
Ateş: Nein, die ist davon absolut unberührt geblieben. Auch, weil ich das Thema Rassismus bzw. rechte Gesinnung im politischen Apparat wieder im Verhältnis zu anderen Ländern sehe, auch im Vergleich zur Türkei. Und mit der Aufdeckung macht Deutschland jetzt nochmal einen Schritt nach vorne.
Glauben Sie das wirklich? Die beteiligten Beamten sagen ja nicht aus oder können sich, angeblich, nicht erinnern. Zudem steht mit Hans-Georg Maaßen jemand an der Spitze des Verfassungsschutz, der offensichtlich Folter duldet, wenn wir an den Fall Murat Kurnaz denken. Wo sehen Sie da eine Besserung?
Ateş: Wir haben jetzt den Prozess, wir haben Öffentlichkeit, und beim Verfassungsschutz ist – das hoffe ich zumindest – Personal ausgetauscht worden. Ich hoffe, dass Politiker jetzt einen anderen Einblick bekommen, auch durch den Zusammenschluss der Verfassungsschutzämter, den es geben wird, wo Daten abgeglichen werden. Da gibt es schon Veränderungen und ich hoffe, dass so ein besserer Kontrollmechanismus entsteht.
Wenn in den politischen Rängen rechtes Gedankengut existiert, wird es natürlich schwieriger sein, das aufzudecken. Da ist es dann an den Untersuchungsausschüssen gelegen und die würde ich derzeit als integer bezeichnen, die versuchen tatsächlich mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Ansonsten hätten wir von all den vermeintlichen Pannen ja nichts erfahren. Inzwischen sehen wir diese Dinge im Fernsehen, das lässt sich nicht mehr verdunkeln.
Doch selbst bei der ersten Vergabe der Presseplätze im NSU-Prozess gab es angeblich eine „technische Panne“ beim Versand von E-Mails. Glauben Sie das?
Ateş: Nein, natürlich nicht. Nun ist Richterschelte nicht mein Hobby, aber dieses Gericht hat sich wirklich sehr peinlich und stur verhalten. Vor allem, weil den Richtern die Möglichkeiten gegeben sind, für die Gerichtsverhandlung auch einen größeren Raum in der Stadt, im Prinzip sogar das Münchener Olympiastadion zu mieten. Sie sind nicht gebunden an das Gericht, in dem sie sitzen.
Wenn in der Türkei ein Verfahren so ablaufen würde, dann würde man in Deutschland vermutlich sagen: „Das ist undemokratisch, rassistisch und diskriminierend, was da passiert, das ist doch alles abgesprochen und eine Verhinderungsstrategie.“
Was bereitet Ihnen mehr Angst in Deutschland, rechte Gewalt oder gewaltbereite Islamisten?
Ateş: Das sind Brüder und Schwestern im Geist und im Herzen. Für mich sind sie absolut identisch und gleich gefährlich. Die Rechten da draußen möchten Menschen wie mich nicht gerne hier haben und sind bereit, zu töten. Das haben sie ja gezeigt, dass sie wild drauf los gehen und Menschen umbringen, nur, weil sie einen fremden Namen haben.
Und die Islamisten schicken mir Morddrohungen, deshalb gibt es für mich da keinen Unterschied. Ich habe genauso Angst vor einem Skinhead wie vor einem Islamisten. Ich bin auf Usedom mit Hitlergruß aus einem Café gejagt worden, 1990. Deshalb weiß ich, wie sich das anfühlt. Seitdem bin ich auch nicht mehr auf Usedom gewesen.
Haben Sie denn Rückhalt bei den Behörden wenn es zum Beispiel um die Morddrohungen geht, die Sie erhalten?
Ateş: Ich stehe seit 2006 unter Polizeischutz, und einige dieser Leute sind auch gefunden worden. Das Problem ist, dass ich die meisten Droh-Mails von Servern bekomme, die irgendwo in der Welt aufgestellt sind und sich nicht zurückverfolgen lassen. Wenn ich auf Veranstaltungen bin, steht der Staat zu 100 Prozent hinter mir und denjenigen, die mich im Moment schützen, bin ich dafür dankbar. Aber die können das auch nur bis zu einem gewissen Grad. Was dann im Hintergrund tatsächlich passiert und recherchiert wird, weiß ich nicht. Ich vermute, dass es zu wenig ist. Ich weiß auch nicht, wer dafür zuständig ist und ob deren Experten es so schlimm finden, was die Islamisten machen, oder ob sie es gewöhnlich finden.
Wo in Ihrem persönlichen Leben fängt Religion an und wo hört sie auf? Wie stark praktizieren Sie Ihren Glauben?
Ateş: Religion bedeutet ja die Institutionalisierung von Glauben, also eine Moschee, eine Moscheegemeinde, ein Vorsteher, ein Imam, der Muezzin und das Gebet fünf Mal am Tag. Doch davon bin ich keine Anhängerin. Ich bin nicht Mitglied einer Gemeinde, weil der Islam so liberal, wie ich ihn lebe, in keiner Berliner Moscheegemeinde praktiziert wird. Ich möchte nicht mit Kopftuch beten, also kann ich nicht in die Moschee gehen und am Gebet teilnehmen. Ich lasse mich nicht von Männern getrennt in einen Raum pferchen, der total unattraktiv ist und mich als Frau zum Menschen zweiter Klasse degradiert. Deshalb ist diese Form der Religionsausübung für mich nicht akzeptabel.
Ich glaube aber mit jeder Zelle meines Körpers an eine höhere Macht und daran, dass diese höhere Macht Gott ist, dass es einen Gott gibt für uns, für alle monotheistischen Religionen. Diese Überzeugung hat sich auch dadurch verstärkt, dass ich ein Nahtoderlebnis hatte als ich angeschossen wurde. Damals war ich 21, das heißt ich lebe jetzt schon 29 Jahre länger als ich fast gelebt hätte. Und in diesen 29 Jahren hat sich mein Glaube immer mehr gefestigt und mir auch geholfen.
Aber ist das, was Sie beschreiben, der muslimische Glaube? Müssen Sie es Islam nennen?
Ateş: Ja, ich muss das Islam nennen, weil ich daran glaube, dass jeder Mensch auf dieser Welt in ein System hineingeboren ist und in diesem System eine Aufgabe hat. Ich könnte ja sagen ich konvertiere jetzt zum Christentum oder zum Judentum, aber das mache ich nicht. Weil ich glaube, dass es einen Sinn hat, dass eine Frau wie ich genau in diesen Glauben hineingeboren wurde. Ich habe in diesem Glauben eine Aufgabe und diese trage ich auch.
Worin besteht diese Aufgabe?
Ateş: In der Reformierung des Islams, im Leben eines modernen Islams, als Vorbild. Wäre ich vor 200 Jahren in das Christentum hineingeboren worden, hätte ich das nicht anders gemacht.
Also treten Sie letztlich aus religiöser Überzeugung für die Rechte muslimischer Frauen ein?
Ateş: Nein, ich setze mich für die Menschenrechte und für die Gleichberechtigung der Frauen ein. Das sehe ich als meine Aufgabe, in der islamischen Gemeinschaft den Blick dafür zu ändern und Reformen zu betreiben, damit wir in die gleiche Richtung gehen wie die jüdischen und christlichen Gemeinden, damit die Gleichberechtigung der Geschlechter auch in der Religion und im Glauben vorangetrieben wird. Wobei es auch bei den orthodoxen Juden und den Katholiken noch nicht viel besser ist, als bei den Muslimen. Wir haben noch keine Päpstin.
Wir hatten zumindest schon eine EKD-Ratsvorsitzende…
Ateş: Ja, das ist schon geschafft. Aber das ist auch mühselige Arbeit von Frauen und Männern gewesen, diese Veränderungen in Gang zu setzen.
Könnten Sie uns einen guten Witz über den Islam oder Mohammed erzählen?
Ateş: Also…nein. Es gibt viele, ich bin nur keine gute Witze-Erzählerin. Ich müsste jetzt meinen Bruder anrufen, der könnte Ihnen ad hoc welche erzählen. Und dann lachen wir uns auch halb scheckig darüber. Muslime erzählen viele Witze. Nicht über Mohammed, über den auch, aber vor allem über Imame und über Hodschas. Das denkt man gar nicht, aber da gibt es tatsächlich sehr viele Witze, die auch genauso sexistisch und unter der Gürtellinie sind wie teilweise in anderen Sprachen und Religionen. Herrenwitze eben. Sehr sexualisiert.
Also, man darf Witze machen?
Ateş: Ja, untereinander machen auch Muslime Witze. Glauben Sie mir, in den Cafés, bei den Männerzusammenkünften, bei Frauenzusammenkünften, wir lachen uns scheckig über die Kopftuchfrauen und über die Hodschas.
Die meisten sind nur der Ansicht, dass die Christen und Juden keine Witze über uns machen dürfen. Aber Muslime selber tun das und können auch über sich selbst lachen, wenngleich es nicht so verbreitet ist, wie bei den Juden. Bei den Salafisten und anderen orthodoxen allerdings gibt es das nicht.
Erst kürzlich wurde der Pianist Fazil Say in der Türkei wegen Blasphemie verurteilt, als er auf Twitter über einen Muezzin witzelte.
Ateş: Die Verurteilung Fazil Says ist unsäglich, da habe ich gedacht: typisch Erdogan, typisch seine Regierung. Das ist typisch für sehr viele Orthodoxe, die gerade nach außen hin überhaupt keinen Humor haben. Bei so etwas denke ich dann an die Juden, die so viel Selbstironie und Humor besitzen und über sich selbst lachen können. Da sind sie ein gutes Beispiel.
Insbesondere der Karikaturenstreit hat dafür gesorgt, dass hierzulande und in Europa Künstler mit dem Thema Islam vorsichtiger umgehen, Humoristen wie Bruno Jonas und Kaya Yanar verzichten generell auf das Thema.
Ateş: Das ist vorauseilender Gehorsam und Selbstzensur, das finde ich absolut falsch.
Dabei sagten Sie doch gerade, wir dürften keine Witze über den Islam machen.
Ateş: Nein, das war nicht meine persönliche Meinung, die ich wiedergegeben habe. Ich habe gar kein Problem damit, dass Sie Witze darüber machen.
Und wenn ein Comedian den Schluss zieht und das Thema ausspart…
Ateş: Dann ist das die absolut falsche Konsequenz. Es macht mich auch wütend und aggressiv, wenn Comedians sich so einschränken lassen. Je mehr sie das tun, desto mehr obsiegen diese Radikalen, die uns ihre Sicht der Welt aufdrücken wollen. „Hurra, wir kapitulieren.“ Henryk M. Broder hat vollkommen Recht mit seinem Buch.
Wir führten mit Broder auch ein Interview, in dem er über die Verweltlichung des Islams sprach. Welche Chancen sehen Sie dafür in den nächsten Jahren?
Ateş: Dass der Islam eine Säkularisierung durchmachen wird, das sehe ich schon. Ich sehe auch, dass Europa dabei eine wichtige Rolle spielt, dass die liberalen Muslime in Europa eine große Rolle spielen. Und davon gibt es ja viel mehr, als man sich das vorstellt. Ich denke auch, dass es eine ganz natürliche Entwicklung ist, dass der Islam sich immer mehr modernisiert, dass immer mehr Menschen begreifen: die Religion ist meine Privatsache, das ist etwas Intimes, Spirituelles, das muss ich nicht auf der Straße zur Schau stellen und ich muss vor allem daraus nicht Politik machen.
Genau das passiert aber derzeit in in Ägypten, wo nach der Revolution eine Verfassung verabschiedet wurde, welche sich auf die Scharia als wichtigste Rechtsgrundlage stützt. Ist das nicht ein Rückschritt?
Ateş: Natürlich, die Muslimbrüder, die der Westen dann auch noch als ‚gemäßigte Muslime‘ bezeichnet – das ist entgegen der Verweltlichung. Und die armen, eher ungebildeten Leute, die Angst vor einer Verwestlichung haben, wählen dann eher das Altbekannte, also die Muslimbrüder, die ihnen mit ihrer religiösen Haltung zusichern, dass sie sich für ihre Werte und für ihre Religion einsetzen werden. Anstatt dass sie die Demokraten wählen, von denen sie nicht wissen, was sie bringen werden. Dem einfachen Volk zu erklären „Wir sind für Freiheit und Demokratie“ ist schwer.
Warum?
Ateş: Weil sich die Menschen fragen: Was heißt Demokratie und Freiheit? Nackte Mädchen im Fernsehen? Oder freie Liebe? Sexualität vor der Ehe? So eine Vorstellung verbinden sie dann mit Freiheit und Demokratie. Und bis die Menschen in jedem Dorf, in jedem Winkel des Landes begriffen haben, dass das nicht richtig ist, dauert es einfach eine Weile – und dazu gehört politische Erziehung. Die Muslimbrüder haben es leichter, sie sind viele und sie sind gut organisiert. Deshalb ist der Rückschritt da, was nicht bedeutet, dass das tatsächlich eins zu eins den Wunsch der Bevölkerung wiedergibt. Das Volk wünscht sich nicht diese Radikalislamisierung.
Zum Schluss: Was, Frau Ateş ist typisch deutsch an Ihnen?
Ateş: Dass ich jetzt pünktlich zu meinem nächsten Termin komme (lacht).
Ist Pünktlichkeit keine türkische Eigenschaft?
Ateş: Doch, auch als Türkin schätze ich Pünktlichkeit und Verbindlichkeit. Aber als Türkin würde ich sagen: „Ok, wenn ich da jetzt 10 oder 15 Minuten später auftauche, ist das nicht so schlimm.“ Da bin ich relaxter, unter meinen türkischen Leuten. Doch die Person, die ich jetzt treffen werde, ist eine Deutsche. Da drängt es mich mehr, pünktlich zu sein. Das ist dann meine deutsche Ader.