Shahrbanoo Sadat

Die letzten 20 Jahre waren nicht umsonst.

Die afghanische Regisseurin Shahrbanoo Sadat spricht im Interview über ihre Lebenssituation nach dem Abzug der westlichen Truppen, die Schere im Kopf des afghanischen Publikums, das Selbstbewusstsein afghanischer Frauen und ihren Film „Kabul Kinderheim“, der gerade in den Kinos gestartet ist.

Shahrbanoo Sadat

©Abdul Twebti

Shahrbanoo Sadat, Sie lebten bis vor kurzem in Kabul. Wie hat sich Ihre persönliche Situation in den letzten Monaten verändert?

Shahrbanoo Sadat: Am 24. August war ich das letzte Mal in Kabul. Dann wurde ich nach Frankreich evakuiert und ging von da aus nach Hamburg. Hier lebe ich mit meinen Eltern in einem Wohnheim, in dem auch zwei meiner Schwestern wohnen. Wir reden miteinander über unsere Heimat und ich stehe im ständigen Kontakt zu meiner Familie und Freunden in Kabul. In gewisser Weise lebe ich also immer noch dort.

Ihr Film „Kabul Kinderheim“ erzählt eine Geschichte aus der Zeit nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan, Anfang der 1990er Jahre. Wie kam es zu diesem Projekt?

Sadat: Ich arbeite an einer Reihe von fünf Filmen, die auf Tagebuchaufzeichnungen meines Freundes Anwar Hashimi basieren. Es sind etwa 800 Seiten. Den ersten Film „Wolf and Sheep“ habe ich 2016 fertiggestellt, „Kabul Kinderheim“ feierte seine Premiere 2019 in Cannes. Seit drei Jahren arbeite ich am dritten Film und wir drehen ihn wahrscheinlich nächstes Jahr.

Was hat Ihnen an den Aufzeichnungen von Anwar Hashimi so gefallen?

Sadat: Er erzählt sehr offen aus seinem Leben. Gleichzeitig bekommt man einen guten Eindruck von den letzten 40 Jahren afghanischer Geschichte. Ich wusste vorher gar nicht, dass vor 30 Jahren Afghanistan kein islamisches Land war. Mich auf diese Weise mit der afghanischen Geschichte auseinanderzusetzen, war an sich schon interessant. Die Zeit, in der „Kabul Kinderheim“ spielt, weist zudem viele Parallelen zur Gegenwart auf. Ich muss nur die sowjetische Invasion gegen die amerikanische austauschen und die Mudschaheddin gegen die Taliban. Sehr viele Dinge spielen sich heute genauso ab, wie damals.

Zitiert

Das Bild des afghanischen Publikums vom eigenen Land ist durch die Klischees der internationalen Filme geprägt.

Shahrbanoo Sadat

In einer Szene Ihres Films wird einem Jungen sein neues Zimmer im Kinderheim zugewiesen. Der Stubenälteste behandelt ihn wie einen Leibeigenen. Das Leben des Jungen ändert sich von einem Moment auf den anderen radikal. Auch das wirkt wie eine Metapher auf die jüngste Entwicklung in Afghanistan.

Sadat: Exakt. Für mich ist das Kinderheim an sich ein Symbol für das ganze Land. Es gibt dort Kinder aus allen Teilen des Landes, mit verschiedenen Hintergründen, Religionen und Geschichten. Sie alle werden in diesem Heim Teil der idealistischen Vision des Sozialismus und Kommunismus, dass alle Menschen gleich sein sollen. Das zu realisieren war allerdings in der afghanischen, multiethnischen Gesellschaft nicht möglich.

Die Kinder im Heim wachsen ohne ihre Eltern auf, sind also in gewisser Weise von ihrer eigenen Geschichte abgeschnitten. Haben Sie Vorbilder in der afghanischen Geschichte, mit der sie sich verbunden fühlen, die als Orientierung für die Zukunft dienen könnten?

Sadat: Ich suche mir nicht nur die guten Momente heraus, um sie wieder erstehen zu lassen. Ich beschäftige mich auch mit den Schattenseiten, um aus ihnen zu lernen und um dieses Wissen mit dem afghanischen, aber auch mit dem internationalen Publikum zu teilen. Man weiß viel zu wenig über das wahre Afghanistan. Geschichten über Politik, über Krieg, Gewalt und Tod sind weit verbreitet. Aber von dem Alltag der ganz normalen Bevölkerung erfährt man nichts. Ich bin von der afghanischen Geschichte auch fasziniert, weil man das Gefühl bekommt, dass sich die Geschichte immer wieder wiederholt. Vor allem, wenn man sich in die letzten 100 Jahre vertieft. Es gab immer wieder dunkle Zeiten, auf die eine bessere Zeit folgte, bis die nächste dunkle Zeit kam. Obwohl sich die jeweiligen Herrscher sehr voneinander unterschieden, haben sie immer wieder die gleichen Fehler gemacht. Wir lernen nicht aus unserer Geschichte, weil wir sie gar nicht kennen. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass wir keine eigene Filmindustrie haben. Auch eine Gemeinschaft gleichgesinnter Filmemacher existiert nicht.

Wie sah Ihre Ausbildung zur Regisseurin aus?

Sadat: Das Ateliers Varan ist eine Institution in Paris, die in Ländern mit kaum vorhandener Filmindustrie dreimonatige Dokumentarfilm-Workshops gibt. Der Fokus liegt auf dem Direct cinema und dem Cinéma vérité. Ich habe daran 2010 teilgenommen, 2011 wurde ein weiterer Workshop begonnen, aber einer der Leiter wurde bei einem Selbstmordattentat getötet. Seitdem hat es keinen weiteren Workshop mehr gegeben.

In Ihrem Film bringt ein Junge einen anderen dazu, zum Islam zu konvertieren, im Tausch gegen einen Fußballsticker. So eine spielerische Szene ist ungewöhnlich. Wird aus westlicher Perspektive das Thema Islam zu einseitig beleuchtet, vielleicht sogar überschätzt?

Sadat: Ich mag Ihre Interpretation, obwohl diese Szene so nicht gemeint war. In der Tat ist das Bild von Afghanistan vor allem klischeebehaftet. Es wird von US-amerikanischen und anderen Filmen geprägt, die von Menschen stammen, die höchstens eine kurze Zeit in Afghanistan gelebt haben, wenn überhaupt. Auch wenn manche dieser Filme auf großen Festivals liefen und Erfolg hatten, als Teil des afghanischen Publikums habe ich sie oft als Beleidigung meiner Kultur und meiner Identität empfunden.

Sie wurden 1990 in Teheran geboren, als Tochter afghanischer Flüchtlinge.

Sadat: In den letzten 20 Jahren habe ich in Afghanistan gelebt. Und mein Leben war nicht so, wie es in diesen Filmen beschrieben wird. Natürlich kann man in einer freien Welt machen, was man will. Aber es ärgert mich, dass diese Filme zu einer Referenz für unser Land werden, nicht zuletzt auch weil junge afghanische Filmemacher sich dann oft an diesen klischeehaften Bildern orientieren, im Glauben, dass der Filmmarkt genau das verlangt. Sie haben wenig Selbstvertrauen und sind sich nicht bewusst, dass auch ihre eigenen Geschichten es wert sind, erzählt zu werden.

Szene aus „Kabul Kiniderheim“ © Virginie Surdej

Wie werden Ihre Filme vom afghanischen Publikum wahrgenommen? Das Internet dürfte mittlerweile eine Verbreitung der Filme erleichtern, oder?

Sadat: Ja, das Internet macht vieles einfacher. Aber da ich meine Filme auf dem europäischen Markt finanziere, besitze ich nicht das Copyright und kann sie nicht einfach auf Youtube stellen. „Wolf and Sheep“ wurde in Afghanistan nicht veröffentlicht. Aber als „Kabul Kinderheim“ fertiggestellt war, hatte eine Freundin von mir gerade auf dem Dach ihres Cafés in Kabul ein kleines Kino eingerichtet, mit etwa 90 Plätzen. Sie hat mich gefragt, ob sie zur Eröffnung „Kabul Kinderheim“ zeigen könnte. Und dann lief der Film in ihrem Kino fast vier Monate lang, nicht jeden Tag, aber immer an den Wochenenden.

Wie hat das Publikum reagiert?

Sadat: Der Film dauert 90 Minuten und wenn ich vor Ort war, sind die Leute weitere 90 Minuten geblieben und wir haben miteinander geredet. Mir wurde bewusst, dass nicht nur das internationale Publikum ein falsches Bild von Afghanistan hat. Auch das Bild des afghanischen Publikums vom eigenen Land ist durch die Klischees der internationalen Filme geprägt. Wenn die Jungs in meinem Film sich unterhalten, benutzen sie viele schmutzige Ausdrücke. Das hat viele im Publikum verstört. Dann habe ich gefragt: Sprechen wir selbst nicht so in unserem Alltag? Die Antwort war: Natürlich machen wir das. Aber ein Film sollte sauber sein, die afghanische Kultur feiern und sich auf das Gute konzentrieren. Ich entgegnete: Wir haben keine Zensur, wie im Iran und trotzdem haben wir diese Schere im Kopf.

Qodrat, der 15jährige Hauptprotagonist Ihres Films, lebt seine Gefühle für eine Mitschülerin in Bollywood-Fantasien aus…

Sadat: Auch hier hieß es immer wieder: Hätten Sie nicht afghanische Musik verwenden können? Aber ganze Generationen von Afghanen sind mit Bollywood-Filmen aufgewachsen. Die Bollywood-Kultur hat uns so geprägt, dass viele Menschen sogar Urdu sprechen. Wenn man die Straßen herunterging, hat man immer Musik aus alten Bollywood-Filmen gehört. Trotzdem hat diese Musik in meinem Film viele gestört. Ein anderer Vorwurf war, dass ich das ernste politische Anliegen meines Films durch Action-Szenen ruinieren würde. Das war auch eine interessante Erfahrung: Man erwartete von mir als Filmemacherin, mich politisch zu äußern; aber meine eigene Freiheit als Autorin spielte dabei überhaupt keine Rolle.

In Deutschland ist das Bollywood-Kino durch engagierte Filmverleiher und Festivals Ende der 1990er populär geworden. Ihr Film zeigt nun, dass man mit dem afghanischen Publikum unvermutete Gemeinsamkeiten hat.

Sadat: Ich habe neulich mit einem Journalisten aus Ostdeutschland gesprochen. Er erzählte mir von dem russischen Ferienlager, das einige Jungs in meinem Film besuchen: „Genauso haben die Ferien in meiner Kindheit ausgesehen, ich war auch und bin oft in solchen Ferienlagern gewesen.“ Abgesehen davon, dass wir aufgrund der Filmförderungsbestimmungen einige dieser Szenen tatsächlich in Deutschland gedreht haben, hat „Kabul Kinderheim“ ja eigentlich nichts mit Deutschland zu tun. Umso spannender ist, zu welchen Szenen die Menschen einen Bezug herstellen können.

Sie haben den Großteil Ihres Films in Tadschikistan gedreht, mit nicht-professionellen Schauspielern aus Afghanistan. In einer Szene besuchen die Kinder allerdings das Lenin-Mausoleum in Moskau. Wie haben Sie das gemacht?

Sadat: (Lacht) Das haben wir in Hamburg gedreht. Der Mann, der Lenins Leichnam gespielt hat, war der einzige professionelle Schauspieler in meinem Film. Ursprünglich wollten wir diese Szenen in Russland realisieren. Aber es war zu schwierig, dort rechtzeitig ein gutes Team zusammenzustellen. In dieser Phase entstand auch die Idee, selbst Bollywood-Szenen zu drehen und dann gefiel mir die Idee, die russischen Szenen in Deutschland zu drehen. Denn auch bei echten Bollywood-Filmen wird häufig in anderen Ländern gedreht, besonders gerne in der Schweiz. Die Landschaft dort passt zu dem oft sehr träumerischen Charakter dieser Filme.

Eine letzte Frage zur aktuellen Situation in Afghanistan. Hat sich in den letzten 20 Jahren in Afghanistan etwas zum Positiven verändert, das bleiben wird?

Sadat: Ja, absolut. Ich glaube, die Menschen vergessen oft, dass sich die Dinge immer sehr langsam verändern. Wenn man von 20 Jahren spricht, klingt das nach einer langen Zeit. Aber wenn man bedenkt, was das Land durchgemacht hat, ist das gar nicht so viel. Obwohl wir die korrupteste Regierung hatten und viele Chancen auf Veränderungen verpasst wurden, haben wir in den letzten 20 Jahren Fortschritte gemacht. Als ich nach Afghanistan kam, war ich elf und wusste nichts über das Land. Ich habe meine Karriere dort begonnen und selbst jetzt, wo ich nicht mehr in Afghanistan leben kann, trage ich die afghanische Kultur mit mir. Ich glaube, dass sich vor allem die afghanische Mittelschicht weiter verändern wird, vor allem die Frauen, die in Kabul, aber auch in anderen großen Städten leben. Und selbst auf dem Land – das Dorf, in das ich als Kind mit meiner Familie zog, war damals noch exakt so, wie es meine Eltern Jahrzehnte zuvor verlassen hatten. Aber als ich vor drei Monaten zum letzten mal dort war, hatte sich alles verändert. Die Menschen hatten Strom, Fernsehen, Internet und Smartphones.

Das klingt fast optimistisch, was die weitere Entwicklung angeht.

Satadt: Wenn ich versuche, eher das Gute zu sehen, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Taliban lange an der Macht bleiben werden. Mehr als 70% der afghanischen Bevölkerung sind junge Menschen unter 25 Jahren. Diese Generation hat eine Ahnung davon, wie das Leben außerhalb von Afghanistan ist. Wir sind nicht mehr in den Neunzigern, die Menschen haben sich geändert. Die Taliban sind Terroristen, unter ihrer sogenannten Regierung leben die Menschen in Angst. Aber ich glaube nicht, dass sie die Menschen total von der Außenwelt isolieren können. Die Taliban haben keine Ahnung, wie man ein Land regiert. Deshalb ist meine größte Angst, dass es zu einem Bürgerkrieg kommen wird. Aber auch der Widerstand hat sich in den letzten 20 Jahren geändert. Ich bekomme immer wieder Videos von Freunden aus Afghanistan geschickt, die sie mit ihren Smartphones gemacht haben und mich sehr berühren. Die Menschen dort geben nicht auf. Vor allem die Frauen versuchen wirklich, ins Gespräch zu kommen. Obwohl ich dort gelebt habe, kann ich es jetzt manchmal kaum glauben, wie mutig sie sind, dass sie es wagen, auf der Straße mit Taliban-Kämpfern zu sprechen. Wenn man die Sprache versteht und diese Videos sieht, dann versteht man, dass die letzten 20 Jahre nicht umsonst waren.

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