Sir Neville Marriner

…andere machen Kreuzworträtsel.

Sir Neville Marriner über die Academy of St. Martin in the Fields, Demokratie im Orchester, die Gunst der Plattenfirmen und die Funktion des Dirigenten

Sir Neville Marriner

© Konzertdirektion Schmid

Sir Neville Marriner, Sie haben vor 50 Jahren die Academy of St. Martin in the Fields gegründet. Stimmt es, dass die ersten Proben bei Ihnen zu Hause stattgefunden haben?
Marriner: Ja, wobei das ehrlich gesagt keine richtigen Proben waren, weil wir ja gar keine Konzerte geben wollten. Wir haben einfach nur zum Vergnügen gespielt. Wir hatten alle unsere verschiedenen Orchester-Jobs – ich spielte Geige im London Symphony Orchestra – und wollten privat ein anderes Repertoire spielen, mit ein bisschen mehr eigener, individueller Verantwortung. Ein gutes Dutzend Musiker hat sich also zwei, drei Mal pro Woche in meinem Haus getroffen und gespielt, nur aus Spaß. So ging das etwa zwei Jahre.

Und dann wollten Sie doch in die Öffentlichkeit?
Marriner: Unser Cembalist John Churchill war damals Organist in der Kirche St. Martin in the Fields und er fragte irgendwann: „Warum machen wir nicht ein Konzert in St. Martin? Irgendjemand wird nach den Gottesdiensten schon noch in der Kirche sein und zuhören“ (lacht). Also haben wir uns von ihm zu zwei, drei Konzerten überreden lassen. Zufälliger Weise hat uns dort dann eine Frau gehört, die gerade ein Pariser Verlagshaus gekauft hatte, Louise Dyer. Sie wollte, dass wir Einiges an Musik für sie aufnehmen und so hat eigentlich alles begonnen. Wir haben erste Aufnahmen für ihr Label L’Oiseau Lyre gemacht, kurz darauf zeigte Decca Interesse – und sobald die Platten um die Welt gingen wurden wir auch überallhin eingeladen.

Haben Sie mit dem Ensemble damals bestimmte musikalische Ziele verbunden?
Marriner: Uns hat vor allem die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts interessiert. Mit dem Musikwissenschaftler Thurston Dart haben wir gemeinsam einen praxisnahen Ansatz zur Interpretation Alter Musik entwickelt. Wir haben uns auf eine historische Spielweise eingelassen, die Musik aber gleichzeitig mit unseren Stradivaris, Guarneris etc. aufgeführt, anstatt historische Instrumente zu benutzen. Das war immer die Philosophie: Auf der einen Seite die Konventionen Alter Musik einzuhalten, aber auf der anderen Seite den eigenen Orchesterstil zu bewahren.

Und Demokratie? Besonders in der Anfangszeit soll es ja sehr demokratisch zugegangen sein.
Marriner: Die Academy ist auch heute noch sehr demokratisch. Die Musiker sind völlig frei, ihre Fragen zu stellen, Anmerkungen zu machen usw. Das ist schon etwas anders als bei einem großen Sinfonie-Orchester. Dort verhalten sich die Musiker gegenüber dem Dirigenten respektvoller, was den Umgang mit ihnen aber auch etwas schwieriger macht.
Ich bin mit den demokratischen Idealen bei uns eigentlich sehr zufrieden. Natürlich muss am Ende jemand eine Entscheidung fällen und das bin in der Regel ich. Aber es kommen so viele verschiedene Ideen zusammen, da mangelt es nicht an Auswahl.

Am Anfang stand vor dem Orchester kein Dirigent.
Marriner: Nein, ich bin nur gelegentlich aufgestanden und habe meinen Geigenbogen geschwungen. Aber dann kamen die vielen Aufnahmen und die Plattenfirmen wollten immer mehr größer besetztes Repertoire von uns, erst Mozart, dann Haydn, Beethoven, Schubert, Schumann, Dvořák. Da wurde es irgendwann unmöglich, den ganzen Apparat vom Platz des Konzertmeisters aus zu kontrollieren. Also musste ich aufstehen und den Taktstock in die Hand nehmen.
Es kommt aber auch heute noch vor, dass die Academy ohne Dirigenten auftritt. Dann übernimmt entweder unser Konzertmeister Kenneth Sillito die Leitung, oder Solisten wie Julia Fischer oder Joshua Bell dirigieren das ganze Programm von ihrem Platz aus. Für Kammerorchester gibt es so viel Repertoire, das man ohne Dirigenten aufführen kann.

Wie würden Sie denn allgemein die Funktion eines Orchesterdirigenten zusammenfassen?
Marriner: Also, wenn das Orchester sehr großen Umfang annimmt, dann brauchen Sie ohne einen Dirigenten sehr viel mehr Probenzeit, eine Mahler-Sinfonie einzustudieren würde dann wahrscheinlich zwei Wochen dauern. In dem Fall macht einem der Dirigent das Leben einfacher.
Bei der Academy sehe ich meine Aufgabe darin, darauf zu achten, dass der Stil noch der gleiche ist, dass das Niveau stimmt, dass die Qualität des Personals sich nicht verschlechtert – deshalb komme ich auch heute immer wieder mit dem Orchester zusammen.

Sprich einerseits Organisation von Größe, andererseits Qualitätskontrolle – aber ist das nicht ein bisschen wenig angesichts des Starkults, der um so manchen Dirigenten betrieben wird?
Marriner: Natürlich haben bestimmte Dirigenten ihren ganz eigenen Stil entwickelt. Stokowski mit dem Philadelphia Orchestra, George Szell mit dem Cleveland Orchestra oder Karajan mit den Berliner Philharmonikern, die haben schon bestimmte Qualitäten und einen  individuellen, besonderen Klang entwickelt. Die Aufgabe des Dirigenten ist es, den Klang des Orchesters so gut wie möglich zu entwickeln. Nur, ob es dann am Ende sein Verdienst ist, oder der des Orchesters, das  kann man nie genau sagen.

Zitiert

Eine Mahler-Sinfonie einzustudieren, ohne Dirigenten - das würde wahrscheinlich zwei Wochen dauern.

Sir Neville Marriner

Wenn Sie im Radio ein Orchester hören, können Sie erraten, wer wen dirigiert?
Marriner: Das ist sehr schwierig. Aber Karajan mit den Berlinern, oder Bernstein mit den New Yorker Philharmonikern – ich denke, das hört man, das sind schon ganz besondere Verbindungen. Früher konnte man auch die russischen Orchester gut am Klang erkennen, auch die Dresdner Staatskapelle.

Und die Academy?
Marriner: Wenn ich dirigiert habe, dann erkenne ich das meistens. Allerdings bin ich dann oft enttäuscht. Wenn sie im Radio eine Aufnahme spielen, die ich schon lange vergessen habe, denke ich meistens: Das hätten wir besser machen sollen.

Nun ist die Academy im Radio nahezu überpräsent – wie kam es eigentlich dazu?
Marriner: Wir haben einfach Glück gehabt. Als wir angefangen haben, aufzunehmen, war ein Großteil des Repertoires noch nie eingespielt worden. Es gab keine Komplettaufnahme der Mozart- oder der Haydn-Sinfonien, von den Brandenburgischen Konzerte gab es gerade mal ein oder zwei Aufnahmen – und die Plattenfirmen wollten damals unbedingt einen großen Katalog aufbauen. Das ging soweit, dass wir ein Hornkonzert von Mozart in der gleichen Woche zwei Mal aufgenommen haben, erst für die EMI und dann für Philips.

Und welche Rolle spielte der Orchesterklang?
Marriner: Die Qualitäten, nach denen wir als Musiker gesucht haben, waren Vitalität und Transparenz im Klang, auch eine gewisse Sauberkeit. Das passte offenbar gut für die Mikrofone und genauso ins Radio.

Die Technologie hat sich in den fünf Jahrzehnten sehr verändert – hat es die Aufnahmen besser gemacht?
Marriner: Nein, ich denke nicht. Ich persönlich bin zum Beispiel noch ein großer Fan der LP, ich mag deren Tonqualität viel mehr. Aber auf der anderen Seite war es auch unser Glück, dass die CD kam, weil wir in dem Moment einen großen Teil unseres Repertoires, den wir bereits auf Vinyl veröffentlicht hatten, noch mal aufnehmen mussten. Ökonomisch war die CD gut für uns, künstlerisch gesehen bin ich mir da nicht so sicher.

Sie stehen mit 84 nach wie vor am Pult – woher nehmen Sie die Kraft?
Marriner: Ich habe eine einigermaßen gute Gesundheit und weil ich die letzten 60 Jahre ständig Konzert-Tourneen gemacht habe, ist das für mich inzwischen eine Art Gesundheitsprogramm geworden. Andere Leute lesen viel oder machen Kreuzworträtsel um sich geistig fit zu halten – bei mir ist es die ständige Beschäftigung mit Musik, die mich wach hält.

Der Geiger und Dirigent Neville Marriner (*1924) studierte am Royal College of Music in London und wurde später Mitglied des London Symphony Orchestra. 1959 gründete er mit einigen Kollegen die "Academy of St. Martin in the Fields", benannt nach mehr

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