Ein Anruf bei Sol Gabetta, morgens um 09:30 Uhr.
Guten Morgen Frau Gabetta, haben Sie heute schon gespielt?
Gabetta: Ja, ich habe heute schon ziemlich früh angefangen. Ich werde sowieso immer sehr früh wach.
Wann fangen Sie denn normalerweise an?
Gabetta: 8 Uhr ist eine gute Zeit.
Brauchen Sie am Morgen nicht eine gewisse Zeit, um ‚warm’ zu werden?
Gabetta: Man braucht ein bisschen, damit die Finger warm werden, aber das geht relativ schnell. Ich mache morgens sowieso ziemlich viel Technik, spiele viel Tonleitern um einfach reinzukommen. Ähnlich, wie es die Sänger mit ihrer Stimme machen.
Und wie lange spielen Sie?
Gabetta: Das ist sehr unterschiedlich, manchmal bis abends um neun. Allerdings, wenn ich Leuten erzähle, dass ich bisweilen acht Stunden am Tag spiele, dann sind die immer sehr erstaunt. Dabei ist es doch nicht ungewöhnlich. Schließlich arbeiten viele Menschen acht Stunden am Tag und das Cellospielen ist eben mein Beruf. Es kommen natürlich noch Dinge hinzu: das Partiturenlesen, man analysiert neue Stücke, hört sich Aufnahmen oder andere Werke des gleichen Komponisten an. Dieser Beruf ist ja irgendwo auch ein lebenslanges Studium.
Was war die längste Pause, die Sie vom Instrument genommen haben?
Gabetta: Vielleicht zwei Tage, nicht mehr.
Aus Angst, dass man zu sehr aus dem Spielen rauskommt?
Gabetta: Nein, ich habe da keine Angst. Es ist ja auch schön, Ferien zu haben. Vielmehr kann es ganz gut sein für die Kreativität und befreit den Kopf, wenn man einmal eine Auszeit vom Instrument nimmt und etwas anderes als Noten sieht. Das bringt auf jeden Fall sehr viel.
Man muss aber immer den Konzertplan im Auge haben: ich kann nicht eine Woche lang pausieren und danach sofort wieder auf die Bühne gehen. Wenn man sich eine Woche frei nehmen will, dann sollte man schon mindestens zwei Wochen frei haben, damit man vor dem nächsten Konzert noch genügend Zeit zum Wiedereinstieg hat.
In Ihrem Lebenslauf finden sich viele Länder, ihr Heimatland Argentinien, Spanien, Deutschland, die Schweiz – wie hilfreich ist es für eine Musiker-Karriere, Weltbürger zu sein?
Gabetta: Ich denke, dass mir das bestimmt viele Türen geöffnet hat. Aber ich habe das nicht bewusst so gemacht. Es hat sich einfach so ergeben, dass ich von Land zu Land gezogen bin. Von Argentinien aus bin ich zuerst zum Studium bei Ivan Monighetti nach Madrid gegangen. Anschließend zog es mich erst nach Basel und danach wollte ich unbedingt bei David Geringas mein Studium weiterführen, weshalb ich fast fünf Jahre in Berlin verbracht habe.
Europa ist für die Klassik eben ein sehr wichtiger Ort. Und ich finde, wenn man sich professionell mit klassischer Musik beschäftigt, dann ist es unverzichtbar, überhaupt mal in Europa gewesen zu sein.
Sie leben heute in der Schweiz…
Gabetta: Ja, ich bin dann wieder zurück in die Schweiz, weil dieses Land mich sehr unterstützt, mir sehr viele Türen geöffnet hat. Und in der Zwischenzeit ist es für mich ein Zuhause geworden, ich habe hier ein Haus gekauft, mein eigenes Festival gegründet und ich unterrichte hier.
Inwiefern ist denn das Kennenlernen verschiedener Länder und Kulturen wichtig für das Musizieren?
Gabetta: Es ist schon wichtig, schließlich ist die Musik selbst eine internationale Sprache. Und wenn man zum Beispiel mit einem Orchester zusammen spielt, oder bei einem Festival mit anderen Musikern zusammenkommt – die kommen alle aus verschiedenen Ländern. Als Musiker ist man ständig damit konfrontiert, mit unterschiedlichen Nationalitäten und deren Kulturen zu tun zu haben. Da bringt es natürlich viel, wenn man selbst schon in verschiedenen Ländern gewesen ist. Sicherlich beeinflusst das auch mein Musizieren. Ich glaube sowieso, dass alles, was man erlebt und sieht, sehr viel Einfluss auf die Persönlichkeit eines Musikers und auf sein Musizieren hat.
Was sind für Sie die größten Unterschiede zwischen Argentinien und Ihrer jetzigen Heimat in Europa?
Gabetta: Ein Unterschied ist auf jeden Fall, dass in Europa die Mischung der Kulturen viel ausgeprägter ist. Zum Beispiel wo ich wohne, in der Schweiz, bin ich fünf Kilometer von der deutschen und fünf Kilometer von der französischen Grenze entfernt. In Argentinien dagegen kann man 1200 Kilometer weit fahren und die Leute sprechen immer noch Spanisch. Der Kulturwechsel ist dort einfach nicht so groß.
Außerdem ist das Kulturleben in Argentinien sehr zentralisiert. Hier hat man überall in den großen Städten ein musikalisches Zentrum, sei es in Wien, Berlin, München usw. In Argentinien passiert aber fast alles in Buenos Aires. Entweder man ist in Buenos Aires oder in der Provinz.
Und Ihre Geburtsstadt Córdoba?
Gabetta: Das ist die zweitgrößte Stadt Argentiniens, da gibt es natürlich auch ein Kulturleben. Trotzdem musste ich oft mit dem Cello in die Hauptstadt fahren. Wenn man in Argentinien als Musiker etwas werden will, kommt man an Buenos Aires nicht vorbei, denn dort bewegt sich die musikalische Welt.
Über südamerikanische Interpreten wird hierzulande oft geschrieben, sie hätten viel Temperament, heißes Blut usw. – können Sie das nachvollziehen?
Gabetta: Ja, das kann ich verstehen. Es stimmt ja auch, ich habe Temperament! Wobei ich sagen muss, dass eine meiner besten Freundinnen, die Geigerin Patricia Kopatchinskaja, die aus Moldawien kommt, auch wahnsinnig viel Temperament hat.
Natürlich ist man gewohnt, dass die Menschen aus Südamerika ein bisschen lockerer und offener sind. Vielleicht liegt das auch daran, dass das Wetter dort anders ist, es ist viel wärmer und der Tag viel länger hell. Das macht viel aus. Trotzdem kann man auch im kalten Norden Menschen treffen, die unglaublich nett und offen sind. Man sollte das vielleicht nicht zu sehr pauschalisieren.
Welche Rolle spielt eigentlich Schönheit bei Ihrem Beruf?
Gabetta: Tja, das wird man oft gefragt: ob man als Musikerin mehr Chancen hat, wenn man eine junge, hübsche Frau ist. Viele Kolleginnen sagen dann, dass sei Quatsch, sie wollen nur ihre Musik machen und es sei ihnen egal, ob sie hübsch sind oder nicht. Aber ich finde, man muss einfach einsehen, dass diese Welt nicht gerecht ist. Nicht alle sind reich, nicht alle sind arm, es gibt hübsche und weniger hübsche Menschen, der eine hat mehr Talent als der andere…
Und ich merke es an mir: Wenn ich in ein Konzert gehe, finde ich es selbst angenehmer, wenn eine schöne Person auf der Bühne steht. Das gehört einfach dazu, schließlich sind wir auf der Bühne. Ich kann es auch ganz gut verstehen, wenn sich jemand in Hélène Grimaud verliebt oder in Anna Netrebko – die sind einfach hübsch. Trotzdem bedeutet das nicht, dass es nicht auch wahnsinnig gute Musikerinnen und Musiker gibt, die vielleicht weniger hübsch sind aber trotzdem sehr viel zu sagen haben mit ihrer Musik. Und eigentlich geht es gar nicht um äußere Schönheit…
…sondern?
Gabetta: Sondern um Ausstrahlung. Der Körper, die Haare, die Augen, das alles ist nur die Fassade. Die Begeisterung des Publikums gegenüber einem Musiker hat mit dessen Persönlichkeit, seinem Musizieren und der Art und Weise zu tun, wie er mit dem Instrument umgeht.
Wie würden Sie denn Ausstrahlung definieren?
Gabetta: Das ist schwer zu sagen. Mit Ausstrahlung funktioniert der Kontakt zwischen Musiker und Publikum einfach viel besser und viel schneller. Während des Musizierens passiert irgendetwas, wobei man das Gefühl hat „Wow – das ist unglaublich!“
Kann man Ausstrahlung lernen?
Gabetta: Nein, das kann man nicht. Das ist wie Talent, entweder man hat es, oder man hat es nicht. Ich unterrichte ja selbst und sehe dabei genau, dass ich zwar versuchen kann, meinen Schülern bestimmte Wege aufzuzeigen und ihre Qualitäten rauszuholen und zu fördern vermag. Aber jemandem zu sagen, wie er seine Ausstrahlung vergrößert, das geht nicht.
Würden Sie bei manchen Musikern auch von einer erotischen Ausstrahlung sprechen?
Gabetta: Es kommt immer darauf an, wie Sie einen Musiker anschauen und was für eine Erwartung Sie an ihn haben. Nur würde ich es falsch finden, wenn jemand erwartet, dass eine Musikerin wie ein Topmodel aus einem Modemagazin aussieht. Beim Musizieren geht es um andere Qualitäten.
Aber wenn man sich CD-Cover von Geigerinnen oder von Anna Netrebko anschaut scheint erotische Ausstrahlung zumindest für Plattenfirmen eine Rolle zu spielen.
Gabetta: Ja, das stimmt, aber das ist nur eine Frage der Vermarktung. Wenn ein Künstler sich so vermarkten lässt, ist es sein Problem. Ich für meinen Teil bin nicht dafür da, um halbnackt Fotos zu machen, nur damit anstatt 3000 plötzlich 6000 Leute meine CD kaufen.
Gibt es eine Erotik beim Musizieren? Zum Beispiel bei Tangos von Piazzolla?
Gabetta: Warum finden Sie diese Musik erotisch? Wenn ich einen Tango spiele, warum sollte das erotischer sein als wenn ich Volksmusik aus Rumänien oder Russland spiele? Mag sein, dass manche den Tango mit der Vorstellung einer dicht an den Körper des Mannes geschmiegten Tango-Tänzerin mit ganz kurzem Rock verbinden und dann das Gefühl haben, das sei erotische Musik. Aber erotisch musizieren? Ich kann etwas erotisch präsentieren, oder vulgär oder lustig, wie man will. Aber das kann ich mit einem Stück von Beethoven, Mozart oder Brahms doch genauso machen.
Ich sehe Tango auch nicht als erotisch an, eher provokativ, vielleicht auch verführerisch.
Tanzen Sie Tango?
Gabetta: Nein. Ich bin ja mit zehn Jahren, also noch in sehr jungen Jahren, aus Argentinien weggegangen und hatte nie die Gelegenheit, Tango zu lernen. Ich bin aber auch nicht der Tango-Typ. Weil ich finde, wenn man Tango tanzt, muss man sich mit dem ganzen Körper und Geist dieser Musik hingeben. Und das will ich nicht .
Dabei machen Sie das als Cellistin doch auch.
Gabetta: Ja, aber ich bin keine Tänzerin, sondern Musikerin. Der Musik kann ich mich ganz hingeben, allerdings nicht mit meinem Körper.
Aber der Körper spielt beim Musizieren eine große Rolle…
Gabetta: Auf jeden Fall. Wenn Sie so wollen tanze ich mit meinem Cello. Ich muss aber nicht mit einem Mann tanzen. Natürlich gehört mein Körper dazu und logischer Weise bekommt mein Körper diese Musik mit, diesen Schwung und diese Bewegung. Aber ich bin auf der Bühne vor allem am Musizieren, der Rest ist ein ganz kleiner Teil davon. Es kommt nur darauf an, wie ich musiziere und nicht darauf, wie ich mich bewege.
Übrigens spiele ich Tangos auch sehr gerne, ich liebe es, Piazzolla zu spielen, da fühle mich wie zu Hause und ganz in meinem Element.
Gibt es Unterschiede beim Spielen zwischen Interpreten und Interpretinnen?
Gabetta: Nein, das würde ich nicht sagen. Es kommt ganz darauf an, wie man als Mensch ist, so musiziert man auch. Musik zu machen ist ein Spiegel unserer Persönlichkeit. Aber da spielt das Geschlecht keine Rolle.
Vielleicht gehen Frauen und Männer am Anfang an eine Sache unterschiedlich heran. Trotzdem kommen sie am Ende am selben Punkt an. Und für den Zuhörer geht es letztendlich um das musikalische Endergebnis. Ich glaube nicht, dass man einen Unterschied zwischen dem Spiel einer Frau und dem eines Mannes hört, wenn man im Konzertsaal beim Hören die Augen schließt.
Es gab bislang nur sehr wenig bekannte und international erfolgreiche Cellistinnen wie beispielsweise Jaqueline du Pré oder Natalia Gutman. Was ist der Grund dafür?
Gabetta: Es gab schon einige Cellistinnen, man sollte das nicht unterschätzen. Guilhermina Suggia zum Beispiel, die erste Frau von Pablo Casals, war selbst eine phänomenale Cellistin.
Ich glaube eher, dass es mit dem Cello so ist, wie in anderen Lebensbereichen auch: früher gab es überall weniger Frauen als heute, die Frau wurde grundsätzlich anders angesehen. Sie hatte sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern während der Mann gearbeitet hat und das Geld nach Hause brachte. Heute dagegen sind viel mehr Frauen selbst berufstätig und können Familie und Karriere verbinden.
Welche Rolle spielt denn die Körperkraft?
Gabetta: Natürlich sind Männer in der Regel kräftiger. Das kann beim Cellospielen auch von Vorteil sein. Viele empfinden das Cello als maskulin, dafür die Geige als femininer, weil sie einfach kleiner ist. Ich denke aber, das sind veraltete Bilder, die nicht mehr realistisch sind.
Die Cellistin Maria Kliegel hat in einem Interview gesagt, sie hätte in ihrer Karriere immer ein wenig besser sein müssen, als die Männer. Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht?
Gabetta: Meine männlichen Kollegen sagen genau das Gegenteil und meinen, sie hätten es viel schwerer als eine Frau. Ich sehe das so: was die Länge einer Karriere betrifft, hat es eine Frau schwerer als ein Mann. Am Anfang kann es sehr schnell gehen, aber ob sie weiter Erfolg hat, das ist dann die große Frage. Bei einem Mann ist das umgekehrt, der hat es am Anfang vielleicht schwerer als eine Frau. Wenn er es aber einmal geschafft hat, dann bleibt er meistens auch erfolgreich.
Sie haben bis zu Ihrem achten Lebensjahr auch Geige gespielt. Was hat letzten Endes den Ausschlag fürs Cello gegeben?
Gabetta: Das hatte damals einen ganz simplen Grund. Ein Kind übt ja bekanntlich nicht so gerne und Cello zu spielen ist mir eben wahnsinnig leicht gefallen. Ich konnte auf dem Cello viel einfacher das realisieren, was ich wollte.
Gab es Momente, wo Sie die Entscheidung bereut haben?
Gabetta: Nein. Manchmal habe ich zwar gedacht: Schade, dass ich nicht auch noch Geige spiele. Aber ich wollte nie Geige anstatt Cello spielen.
Aber ärgert man sich nicht manchmal über die Sperrigkeit des Instruments?
Gabetta: Ja, als ich gesehen habe, wie mein Bruder immer ganz schnell mit seiner Geige gereist ist und ich mit diesem Monster auf meinem Rücken… Vor kurzem habe ich in unserem Keller einen alten Cellokasten wiedergefunden, den ich benutzt habe, als ich neun Jahre alt war. Der ist so schwer, fast wie ein Sarg, schrecklich! Und ich bin damit immer hin und her gefahren. Heute ist das viel leichter, ich habe einen fantastischen Cellokasten gefunden, der mir das Reisen sehr erleichtert. Wobei es in manchen Situationen trotzdem noch kompliziert ist. Im Flugzeug muss ich immer zwei Tickets buchen, wenn im Zug nicht genug Platz ist, muss ich überlegen, ob ich in die 1. Klasse umsteige usw.
Aber das ist es natürlich wert. Das Cello ist so ein wunderbares Instrument. Und in einer Tonlage, die so nah an der menschlichen Stimme ist…
…was übrigens viele Musiker von ihrem Instrument behaupten.
Gabetta: Das mag sein. Ich versuche mir jedenfalls immer vorzustellen, dass ich mit dem Instrument singe. Das Cello und ich sind dann eins, wie eine Person. Wenn ich spiele, konzentriere ich mich nicht nur auf eine bestimmte Note oder einen Rhythmus. Sie sind nur die Säulen, auf deren Basis die Musik entsteht. Wenn man versucht, auf und mit dem Instrument zu singen, dann werden Noten und Rhythmus zu Musik. Dann gibt es nicht mehr viel nachzudenken, denn Singen ist so natürlich wie einatmen und ausatmen.
Summen Sie denn auch während Sie spielen?
Gabetta: Nein. Ich singe innerlich… mit der Seele!
Sie sind herzerfrischend, Frau Gabetta, und einfach wunderbar !!!