Herr Mucha, ist es Ihnen wichtig, ob die Menschen vor Ihrer Kamera die Wahrheit sagen?
Stanislaw Mucha: Ich bin schon interessiert an der Wahrheit, aber nicht unbedingt an dem Bild, das die Menschen über sich selbst haben. Wenn wir verunsichert oder überrascht werden, senden wir etwa aus, das wahrscheinlich am ehesten die wahre Wahrheit über uns Preis gibt. Diese Wahrheit, die in einer persönlichen Begegnung steckt, interessiert mich. Die kann überzeugend, unterhaltsam oder wahrhaftig sein. Aber wenn jemand anderes da mit Mikro und Kamera aufkreuzt und die selben Menschen befragt, wird er wieder eine andere Wahrheit zu Gesicht bekommen.
Die Menschen, die in Ihren Filmen zu Wort kommen, haben oft etwas Originelles, manchmal Verschrobenes an sich. Das ist zum Markenzeichen Ihrer Filme geworden.
Mucha: Das Erstaunliche ist, dass die Menschen eigentlich gar nicht so originell oder spannend sind. Manchmal reduzieren wir ein Interview im Film auf eine einzige Minute. Aber genau diese Minute kann sehr unterhaltsam sein. Ich weiß dann nicht, wann derjenige geboren wurde, mit wem er verheiratet ist oder welche Speisen er liebt. Trotzdem erfahre ich in diesem Moment wahnsinnig viel von diesem Menschen. Er schenkt dir sehr viel, allein durch seinen Blick in die Kamera. Mich hat das immer wieder wahnsinnig zertrümmelt, wie manche Menschen da geguckt haben.
Mit „zertrümmelt“ meinen Sie „heftig berührt“?
Mucha: Berührt, ja, emotional berührt. Du kommst abends ins Hotel und dann hast du diesen Blick nach wie vor in dir gespeichert, ohne dass du das willst. Du hast soviel erlebt an so einem Drehtag aber trotzdem ist da dieser eine Blick, zum Beispiel von dem einen Kind – du weißt auch nicht warum. Diese Begegnung war nur spontan, zwischen Angel und Tür. Und trotzdem ist da plötzlich das Gefühl: Wow! Das berührt mich, das zersetzt mich regelrecht.
In Ihrem neuen Film „Tristia – Eine Schwarzmeer-Odysse“ gibt es allerdings nicht nur berührende Blicke. Von einem Mann werden Sie geradezu begeistert mit dem Hitlergruß empfangen. Kam das häufiger vor?
Mucha: Ja, vor allem in den ultranationalistisch geprägten Ländern, wie Abchasien ist uns das immer wieder auf der Straße begegnet. Du weißt überhaupt nicht, wie du da reagieren sollst. Du bist paralysiert. Ich kann sehr viel vertragen, aber das…
Haben Sie auch mal geantwortet: „Hallo, ich bin Pole“?
Mucha: Nein. Die wussten ausserdem, dass ich Pole bin, zumindest bei dem Interview, das im Film zu sehen ist. Aber das war denen egal. „Mit der Kamera? Das sind keine Polen. Das können nur Deutsche sein.“ (Lacht)
Etliche Kids in unserem Film sind heute nicht mehr am Leben.
Eine andere Szene zeigt einen Straßenhändler, der mit Nazi-Devotionalien handelt. Zu Ihnen sagt er fast entschuldigend: Das ist nur geschäftlich gemeint.
Mucha: Das sind Ausreden. Politisch korrekt will man auch dort sein und trotzdem: Er würde da nicht 300 Dollar für irgendeinen Kitsch mit Hakenkreuz verlangen, wenn es dafür keine Nachfrage gäbe. So wie dort auch deutsche Schäferhunde im Angebot sind, weil dafür ein Markt existiert. Toppen kannst du das nur mit einem Bären. Aber so ein Bär ist eine richtige Rarität.
Haben die Menschen immer gewusst, dass sie gefilmt werden?
Mucha: Ja. Ich halte auch nichts von der versteckten Kamera. An den Grenzen haben wir auch ein paar mal versteckt gefilmt, aber das Material ist rausgeflogen. Ich hatte das Gefühl, es geht hier gar nicht um die Grenzen. Wer hätte auch ahnen können, dass die sich so schnell ändern würden. (lacht) Aber ich dachte: Wie wäre es, wenn die Welt keine Grenzübergänge hätte, nur Sprachbarrieren? Das entsprach auch eher unserem Gefühl: Zack, plötzlich ist man in Russland. Dass dazwischen Stunden der Erniedrigung bei 40 Grad Sonne waren, das vergisst man dann ganz schnell.
Das heißt, es gab Schikanen an den Grenzen?
Mucha: Ja. So etwas ist schlecht zu ertragen. Aber dann schläfst du einmal aus und es ist wieder gut. Das im Film zu zeigen war nicht notwendig.
Ist Bestechung ein Kostenpunkt, den man beim Antrag auf Filmförderung einreichen muss?
Mucha: Einen bestimmten Posten muss man dafür einkalkulieren, ja.
Wieviel? 10 Prozent des Budgets?
Mucha: Nein, so schlimm ist das nicht. Aber wir hatten ein Budget von fast 600.000 Euro und da ist klar, dass ein gewisser Teil auch für bestimmte Geschenke, für Information, für Bestechung drauf geht. Das ist den Leuten bei der Filmförderung auch klar. Aber ich musste dann immer mit Zeugen einen Bericht schreiben. Je mehr du zahlst, desto länger ist der Bericht. Aber das ist eben die Realität. Wenn jemand so einen Film aus dieser Ecke sehen will, muss er damit rechnen, dass es da manchmal keine Quittung gibt, weil plötzlich ein Stempel fehlt oder die Tinte. (lacht)
Ihr Team bestand aus drei Leuten?
Mucha: Ton, Kamera und ich – wir drei waren das feste Team. An der jeweiligen Grenze haben wir den Fahrer, die Assistenten und die Übersetzer ausgetauscht. Die durften die Grenzen ja nicht überqueren. Auf der anderen Seite haben uns dann die neuen begrüßt. Jetzt, nach Ausbruch der Krise in der Ukraine, könnte man diese Reise gar nicht mehr machen, wir sind wirklich das einzige Filmteam der Welt, das das gepackt hat. Als wir uns der abachasisch-georgischen Grenze genähert haben, wurde uns gesagt: Die werden euch erschießen! Wir haben da auch Magnum-Fotografen getroffen, die natürlich genau auf so etwas scharf gewesen wären. Aber wir haben es geschafft.
Sie sind niemals beschossen worden?
Mucha: Nein. Es war ein paar Mal kurz davor, aber ich bin kein Selbstmörder oder Hallodri. Ich hatte immer das Gefühl, wir kriegen das hin. Wir packen das.
Wissen Sie schon bei den Dreharbeiten, welche Momente, welche Blicke, später im Film landen werden?
Mucha: Nicht unbedingt. Ob das Material lebt oder unterhält oder nicht, das kannst du erst im Schneideraum entscheiden, wenn du ein bisschen Abstand gewonnen hast. Vor allem bei so einer Reise, wie wie wir sie gemacht haben. Sieben Filme sind das eigentlich in einem. Schon nach 2000 Kilometer weiß man da nicht mehr, wo man am Anfang war. Ich wusste auch nicht, wo der Film beginnen sollte. Es gab zwar eine Art Drehbuch, soweit man das bei einem Dokumentarfilm so nennen kann. Aber das gab es nur, um die Leute vom der Glotze dafür zu begeistern…
Ihr Renommee und der Satz „Wir reisen einmal ums Schwarze Meer“ reichte nicht für eine Förderung?
Mucha: Das Problem war, dass viele bei der Filmförderung gar nicht wussten, dass es das Schwarze Meer gibt. Sieh haben geglaubt, dass ich mir das nur ausgedacht habe. Aber durch den Konflikt ist das natürlich jetzt anders geworden.
Das wirft ein trauriges Licht auf die Allgemeinbildung der Filmförderer.
Mucha: Es ist nicht an mir, das zu beurteilen, ich muss damit nur umgehen. Ich spreche hier aber nicht von Redakteuren bei den Fernsehsendern, sondern von Leuten, die bei den Filmförderungen in den Kommissionen saßen. Ich habe meine Idee so unterhaltsam präsentiert, dass sie dachten: Das kann man sich nur ausdenken. Es gibt Menschen, die einfach zu lange Spielfilme machen und vergessen, wie unterhaltsam die Wirklichkeit ist, dass die Wirklichkeit die besten Stoffe liefert.
Auch die Anwohner des Schwarzen Meeres äußern in Ihrem Film nicht immer Verständnis für Ihr Projekt.
Mucha: Ja, sie haben gefragt: „Was macht ihr überhaupt?“ Wir haben gesagt: „Wir drehen einen Film über das Schwarze Meer.“ „Was macht ihr konkret?“ „Wir wollen einmal drum rum fahren.“ „Aha. Na und?“ (lacht) Da wurde mir auch die Absurdität dieser Idee bewusst. Kein Mensch am Schwarzen Meer würde wohl auf diese Idee kommen. Sie sind viel zu sehr beschäftigt mit den eigenen Problemen und den Spannungen, die da herrschen.
Gäbe es dort weniger Spannungen, wenn es die Grenzen nicht gäbe?
Mucha: Bestimmt. Aber es ist ja ein mehrfaches Grenzgebiet dort, nicht nur im politischen Sinne. Es gibt da diese Last der Antike, die auf die Gegenwart drückt. Sie ist dort wirklich spürbar.
Im Film wird diskutiert, ob die Königstochter Medea, die der Sage nach von der Ostküste des Schwarzen Meeres stammt…
Mucha: … eine Nutte war oder nicht, genau. Oder ob der Dichter Ovid, der an das Schwarze Meer verbannt worden war, einen rumänischen oder ukrainischen Pass hatte. (lacht) Aber unabhängig davon spürt man, dass die Menschen dort auf der Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei leben und auf der Grenze zwischen Asien und Europa. Andererseits macht das Meer irgendwie alle gleich. Die Grenzen existieren vor allem in den Köpfen der Menschen, weniger durch die Sprachen. Das Meer traktiert sie alle mit der gleichen Welle, ob der Strand dann jeweils voll Müll ist, oder nicht.
Es scheint dort an jeder Ecke Denkmäler für Ovid, Cäsar und Lenin zu geben, aber hat dieses Erbe wirklich noch etwas mit den Menschen von heute zu tun? Steckt den Leuten ihre Geschichte sozusagen in den Genen?
Mucha: Ich bin kein Anhänger von Gen-Theorien. Ich fühle mich wohler, wenn ich sage, dass das Verhältnis der Menschen zu ihrer Geschichte von Mythisierungen geprägt ist. Das heißt, auch Lenin wird dort mythisiert. Wenn du dort unterwegs bist, denkst du: Ovid, Lenin, Stalin – die gab’s gar nicht wirklich. Man hat nur gewaltige, mal tragische, mal lustigen Mythen um sie herum erfunden, damit es den Menschen in ihrem Leben ein bisschen besser geht, damit sie überhaupt etwas am Lagerfeuer zu erzählen haben. Das ist ein ganz archetypisches Ding.
Humor scheint dabei eine große Rolle zu spielen.
Mucha: Das ist eindeutig so. Auch in der Türkei ist der Humor ein sehr wesentliches Element, obwohl man vielleicht eher vermuten würde, dass dort die Leute vor allem religiös verankert sind. Und eigentlich pfeifen sie dort auf das Schwarze Meer, weil sie noch zwei andere haben, darunter das Mittelmeer. Das Schwarze Meer ist für sie eher eine Müllkippe, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber auch das wird eher mit Humor genommen, das habe ich auch versucht zu zeigen: Der Humor ist ein Schutzmechanismus, der den Menschen gewachsen ist, um mit der brutalen Wirklichkeit umzugehen, die natürlich auch vom Meer kommt.
Es fällt auch auf, wie gerade einige Ukrainer vor Ihrer Kamera für den damaligen, inzwischen abgesetzten Präsidenten Wiktor Janukowytsch nur Spott übrig haben, als wäre auch er bereits nur Teil einer absurden mythischen Erzählung.
Mucha: Ich glaube schon, dass die Politik in dem Leben der Menschen dort sehr präsent war. Nur die Politiker waren nicht präsent. So ist das eben mit den sogenannten einfachen Menschen: Sie kriegen Politiker nie zu Gesicht, können denen nicht mal die Hand schütteln. Aber die Folgen der Politik spüren sie am meisten. Daraus entsteht eine Spannung, die man im Film spüren kann, nicht nur bei den Szenen in der Ukraine, sondern in der ganzen Region.
Haben Sie geahnt, was auf die Ukraine zukommen wird?
Mucha: Nein, nicht in diesem Maße. Dass es dort so explodieren würde, war nicht zu ahnen. Aber ich war erstaunt, dass auf der ganzen Reise niemand mit uns Ukrainisch gesprochen hat. Die Leute dort fanden, dass das eine komische Sprache ist, die vielleicht in Kiew, in der Westukraine und in den Waldkarparten gesprochen wird. Aber: „Wir sprechen russisch.“ Rein wirtschaftlich haben die Ukrainer die Krim sowieso eher abgeschrieben. Ich wehre mich auch nach wie vor gegen den Begriff der Separatisten. Mich würde interessieren: Wer hat sich das ausgedacht? Wer war der erste, der den Begriff genutzt hat? Denn so einfach ist die Lage dort nie gewesen und jetzt sowieso nicht. Schließlich wurden diese Leute zu Chruschtschows Zeit den Ukrainern mehr oder weniger geschenkt.
In Deutschland gibt es den Satz „Geschenk ist geschenkt. Wiederholen ist gestohlen“.
Mucha: Ja. Aber, mir geht es auch nicht darum, dass man andauernd die Grenzen hin und her schiebt. Das führt zu nichts. Das Interessante ist, dass das alles jetzt in einer Zeit geschieht, in der alles globaler wird, in der wir offener werden, zumindest theoretisch.
Meinen Sie, ohne die Erweiterungspläne der EU wäre Wladimir Putin die Krim egal gewesen?
Mucha: Nein, das glaube ich nicht. Ich habe mich ein bisschen mit dem Krieg in Abchasien und Georgien beschäftigt, mit der Rolle, die die Russen und die Amerikaner darin spielten. Wir haben das damals nicht mitbekommen, weil wir zu sehr mit dem Jugoslawien-Krieg beschäftigt waren, der zur gleichen Zeit stattfand. Für mich wurde klar, Putin wird sich nicht noch einmal so ans Bein pinkeln lassen, wie es die Russen damals bezeichnet haben. Das wird ihm nie wieder passieren.
Sie zeigen in Ihrem Film Interviews mit Angehörigen damals getöteter abchasischer Männer und wie sie heute als Helden verehrt werden, obwohl Abchasien immer noch zu Georgien gehört.
Mucha: Die Menschen dort leiden nach wie vor an diesem Krieg. Sie wissen bis heute nicht wirklich, warum es den Krieg überhaupt gab. Das ist so, als müsstest du damit leben, dass ein Mensch verschollen ist, der dir sehr nahe steht. Seit der Antike wollen die Menschen wissen, wo das Grab ihrer Nächsten liegt. Sie müssen trauern können. Aber hier stehen die Fragen: „Warum haben wir getötet?“ und „Warum wurde uns Leid angetan?“ wie Geister im Raum. Und die Menschen erzählen sich neue Mythen, um sich zu trösten.
Ihre Dreharbeiten zu „Tristia“ wurden vor dem Ausbruch der aktuellen Krise in der Ukraine beendet. Hat sie sich trotzdem noch auf Ihren Film ausgewirkt?
Mucha: Wir haben sehr lange an dem Film geschnitten und im letzten Jahr hat uns der Krieg dabei natürlich ständig begleitet. Wir haben auch noch Kontakt zu unseren Fahrern dort, zu den Leuten, bei denen wir gegessen und übernachtet haben. Und tatsächlich: Etliche Kids in unserem Film sind heute nicht mehr am Leben. Kurz vor der Premiere bei den Hofer Filmtagen habe ich einigen Leuten in der Ukraine Fotos geschickt, die ich ihnen versprochen hatte. Manche haben dann geantwortet, dass sie die Fotos nicht mehr haben möchten, andere haben sich besonders über die Bilder gefreut – aus dem selben Grund: Weil einige Leute auf den Fotos nicht mehr leben.
Die sind im Krieg gefallen?
Mucha: Das waren keine Kämpfer. Das nennt man dann wohl „Kollateralschaden“. Als im Mai letzten Jahres in Odessa Menschen in ein Haus getrieben und angezündet worden waren, sind auch einige von ihnen ums Leben gekommen. Man sitzt dann hier am Tisch zusammen, schneidet den Film, streitet sich und dann bekommst du so eine Nachricht. Das ist natürlich nicht so einfach.
Die Berichterstattung in den westlichen Medien über diesen Vorfall in Odessa wird im Internet scharf als tendenziös und irreführend kritisiert.
Mucha: Der Berichterstattung über diesen Krieg glaube ich schon lange nicht mehr. Letzten Endes zeigt diese ganze ekelhafte Sache, wie uneinig, wie lahmarschig die Europäische Union handelt, wenn es brennt. Zur Verteidigung der EU muss man aber auch sagen: Es ist eine verdammt schwierige Situation. Wenn das ein Konflikt zwischen Russen und Polen wäre, könnte man das ja verstehen. Aber hier handelt es sich um einen Konflikt zwischen Brüdern.
Wie informieren Sie sich über die Tagespolitik?
Mucha: Ich lese nach Möglichkeit sehr unterschiedliche Zeitungen. Ich werde wie jeder durchschnittliche Mensch mit News bombardiert, aber mir ist wichtig, dass man versucht, einen Überblick zu behalten und sich ein Bild zu machen – zum Beispiel mit so einer Reise, wie wir sie gemacht haben. Daher ist mir auch klar, dass der nächste Konflikt wieder im Kaukasus aufflammen wird und der wird sehr sehr blutig. Für uns scheinen diese Konflikte immer wie aus heiterem Himmel zu kommen, aber das ist natürlich nicht der Fall.
Wenn Sie „uns“ sagen, meinen Sie die Menschen in Westeuropa?
Mucha: Ja. Und was gibt es da für blöde verlogene Sachen. Als der Konflikt angefangen hat, war ich an der Ostsee. Da stand im Schaufenster eines deutschen Restaurants: „Russen werden hier nicht bedient.“ Kommt dir das nicht bekannt vor? Was kann ein Russe dafür, der in Deutschland landet und einfach eine Currywurst oder eine Forelle essen will? Bei meinen Landsleuten in Polen gab es ähnliche Dinge. Ich verstehe das nicht. Vielleicht liegt das alles ja daran, dass es keinen guten fundierten Geschichtsunterricht gibt.
Glauben Sie, dass die Ukraine auf nicht absehbare Zeit ein Bürgerkriegsgebiet bleiben wird?
Mucha: Ja. Eine Einigung wird da sehr schwierig. Das sieht man in Abchasien und Georgien. Das sind auch Brüder, die Menschen sprechen ähnliche Sprachen. Und man hat auch nach 20 Jahren das Gefühl, dass da noch gestern Krieg geherrscht hat. Deren Parlament ist immer noch zerbombt. Das hat nichts mit Geld zu tun, sondern mit den Wunden, die den Menschen aufgerissen wurden. Alles was ihnen bleibt sind die Geschichten, die Mythen. Die werden immer wieder und wieder erzählt und fressen sich in die Psyche rein. Und so ähnlich wird es auch mit der Ukraine sein. Es ist ein gewaltiges, großes Land und auf Gedeih und Verderb mit Russland verbunden, weil Amerika denen kein Gas liefern wird. Und verdammt, die bräuchten alles, aber keine Waffen.
In Sotschi haben Sie einen LKW-Fahrer gefragt, wie es war, als das Olympische Komitee im Vorfeld der Olympischen Spiele 2014 nach Sotschi kam. Er antwortet: „Das kann ich vor der Kamera nicht sagen.“ Hat er Ihnen später mehr erzählt?
Mucha: Nee. Der war sehr schüchtern. Deshalb mochte ich ihn auch sehr. Es hat ihn viel gekostet, sich überhaupt filmen zu lassen. Er arbeitete übrigens in einer Affenstation in Adler, einer Stadt bei Sotschi. Dort werden seit Sowjetzeiten Affen geschult, um sie dann auf Expeditionen ins Weltall zu schicken.
Kehren die Affen zur Erde zurück?
Mucha: Das wird zumindest behauptet. (lacht) Ich glaube das allerdings nicht. Die haben da aber Vitrinen mit ausgestopften Affen, die Kopfhörer aufhaben und so, das hat schon etwas Perverses. Aber das Schwarzmeer-Klima ist ja tropisch und sehr gut für Affen. Die entwickeln dort ein wahnsinnig starkes Immunsystem. Wir haben dort auch Szenen gedreht, aber die sind nicht im Film gelandet. Das wäre eher ein eigener Film.
Was haben Sie noch alles aus dem Film herausgelassen?
Mucha: Ich wusste zum Beispiel nicht, dass die beste Niere für eine Transplantation von Menschen aus dem Donau-Delta stammt. Egal, ob von der ukrainischen oder rumänischen Seite, Hauptsache: Donau-Delta. Und es gibt da wirklich ein Dorf, wo nicht ein Mensch zwei Nieren hat. (lacht)
Der Körper als Ware ist auch ein Thema, dass Sie im Film streifen. Für ganze Generationen junger Mädchen in der Region scheint eine große Zukunft nur in der Porno-Industrie, vielleicht noch in Casting-Shows möglich zu sein.
Mucha: Das sieht man vor allem in Rumänien, da ist es fast unerträglich, da scheint die Wirklichkeit aus den Scharnieren auszusteigen. Wir waren bei so einer Miss-Wahl, wo die ganze rumänische Unterwelt versammelt ist. Normalerweise kommt man da mit der Kamera gar nicht rein. Andererseits habe ich mich da sehr wohl gefühlt, wir wurden gut verpflegt. Mitten drin saß der Chef einer großen deutschen Klinik für plastische Chirurgie. Der hat mit mir geredet, nur filmen lassen wollte er sich nicht.
Was hätten Sie ihn vor der Kamera gefragt?
Mucha: Ach, den hätte ich ehrlich gesagt gar nicht interessant gefunden. Schließlich habe ich auf dem Klo einen Rumänen getroffen, der von unserem Film gehört hatte. Er sagte: „Die Idee ist so gut, die könnte von mir stammen.“ Er war erst zwei Tage zuvor aus dem Knast entlassen worden. Er schickte seine Kumpels los, die haben in irgendeinem Geschäft die Scheiben eingeschlagen und eine Ovid-Statue geklaut. Die er mir dann auf dem Klo verliehen, als Preis für das beste Konzept. Die steht jetzt auch bei mir auf dem Klo. Das passt.
Haben Sie ein persönliches Fazit aus Ihrer Reise um das Schwarze Meer gezogen?
Mucha: Ja, ich würde diese Reise nicht noch einmal machen, (lacht) selbst, wenn es möglich wäre. Und das zweite Fazit ist: Wenn man so eine Reise für einen Dokumentarfilm macht, dann ist das zwar manchmal nur schwer zu ertragen, aber man wird belohnt. Ich würde zum Beispiel Afrika mit einem Fahrrad umfahren, um daraus einen Film zu tun. Das hat auch mit dem großartigen Werner Herzog zu tun und seinem Film „Fitzcarraldo“. Man soll es sich eben nicht zu leicht machen.
Von Herzog stammt der Satz: „Alle wichtigen Wege im Leben sollte man zu Fuß gehen“.
Mucha: Ja, das unterschreibe ich sofort. Bei uns wurde das Team auf diese Weise zu einem Teil des Films. Die Dreharbeiten wurden zum Selbstversuch. Und das Interessante ist: Das strahlt auch auf das aus, was vor der Kamera passiert. Das ist eigentlich das, was Regie macht: Diese Anspannung herstellen. Besonders klasse finde ich, dass der Film mit all seinen Begegnungen nun vor allem auf einer sehr visuellen Ebene funktioniert. Er ist nicht so verquatsch oder verlabert. Er lässt viel Platz zum gucken, wie eine alte Postkarte vom Urlaub am Meer.
Ausgangspunkt Ihrer „Schwarzmeer-Odyssee“ soll ein spezieller Geruch gewesen sein.
Mucha: Ja, ich kann mich noch genau an den Geruch des Schlamms vom Schwarzen Meer erinnern. Meine Großmutter brachte ihn immer in Dosen von ihren Kur-Reisen mit. Das Zeug war schwarz wie eine Öl-Pest und roch nach dem Rost eines Schiffs, gemischt mit süßer Mäusepisse.
Sie wollten diesem Geruch aus Ihrer Kindheit nachspüren. Was würde Ihre Großmutter nun zu dem Film sagen?
Mucha: Sie wäre nicht so glücklich. Sie würde sagen: Man muss nicht über jeden Scheiß einen Film machen. Ich habe diesen Geruch auch nicht wiedergefunden.
Er ist auch ein Mythos?
Mucha: Ja, ich war dort, wo sie auch gewesen ist, aber auch das wurde aus dem Film herausgeschnitten. Andererseits: Meine Großmutter hatte viel Humor. Wahrscheinlich hätte ihr der Film trotzdem gefallen.