Frau Rebholz, es sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Drogen und Aids zusammen. Wird das Thema in Deutschland unterschätzt?
Solveig Rebholz: Suizid ist nach wie vor ein Tabu-Thema, über das Gesellschaft und Politik nicht gern und dementsprechend leider auch nicht viel sprechen. Hinzu kommt, dass es gerade für die Presse ein sehr heikles Thema ist.
Sie meinen den so genannten „Werther-Effekt“, also Nachahmungsfälle nach Suizidfällen von Prominenten, über die Medien ausführlich berichtet haben.
Rebholz: Genau. Hier gilt es, die richtige Form der Berichterstattung zu finden. Es gab zum Beispiel einen spürbaren Anstieg der Suizide nach der Selbsttötung des Fußballers Robert Enke. Löblich ist da eine Berichterstattung, in der Medien bewusst Hilfsangebote unter die Artikel schreiben. Zum Beispiel wie jüngst nach den beiden Suiziden von zwei bekannten Managern in der Schweiz. Es gibt von der Deutschen Gesellschaft zur Suizidprävention ein Infoblatt für die Presse, wie man in solchen Fällen berichten sollte. Dadurch kann es wiederum zum „Papageno-Effekt“ kommen…
…benannt nach der Figur aus Mozarts „Zauberflöte“.
Rebholz: Papageno wollte nicht mehr leben, weil sich Papagena nicht für ihn interessierte. Dann kam jemand, der ihm andere Wege aufzeigte und der ihn so vor dem Suizid bewahrte. Natürlich wünschen wir uns, dass die Presse über das Thema berichtet, aber in einer positiven und aufklärerischen Form! Man kann auch Menschen zeigen, dass es andere Möglichkeiten und Hilfsangebote gibt, so könnten Menschenleben gerettet werden. Denn für Suizid gibt es keine Warntafeln, wie zum Beispiel die Warnschilder vor Unfällen auf der Autobahn. Dabei ist es besonders für Jugendliche ein sehr wichtiges Thema.
Inwiefern?
Rebholz: Für Männer bis 25 ist es zum Beispiel die zweithäufigste Todesursache. Viele Jugendliche, wenn nicht alle, denken im Zuge ihrer Pubertät über das Thema Sterben nach. In dieser Altersgruppe geht es stark um Autonomie. Man will sich von den Eltern lösen, selber über das Leben entscheiden. Daher sind Suizidgedanken in dieser Lebensphase auch nichts Krankhaftes, sondern normal. Die einen denken nur über Tod, Sterben und Endlichkeit nach – die anderen verfolgen allerdings den Suizid fest mit einem Plan. Diesen Menschen muss geholfen werden. Doch mit den regulären Hilfsangeboten wird die junge Altersgruppe wenig erreicht.
Wir würden nie sagen: ‚Selbstmord ist Sünde!’ Wir versuchen stattdessen, die anderen Optionen aufzuzeigen.
Sie arbeiten für die Online-Beratungsstelle U25, bei der sich Jugendliche anonym anmelden und beraten lassen können. Was können Sie bei U25 den Teenagern geben, was eine psychotherapeutische Ausbildung nicht leisten kann?
Rebholz: Bei uns sitzt jemand, der gleich alt und damit in einer ähnlichen Lebenssituation ist. Das spricht die Jugendlichen an. Sie möchten bewusst erst mal nicht mit einem Profi sprechen, sondern mit jemandem auf Augenhöhe. Jemand, der weiß, was es bedeutet, im Abi-Stress zu sein oder Ärger mit der Familie zu haben. Die meisten Suizide passieren übrigens nicht in den Herbst- und Wintermonaten, wie man annehmen könnte, sondern im Frühjahr, wenn Prüfungen sind.
Das Peer-Konzept spricht Jugendliche außerdem sehr gut an, weil sie ja auch in der Peer-Group am meisten Vertrauen aufbauen. Laut Studien sind Gleichaltrige für sie die wichtigste Bezugsgruppe. Wir sehen uns daher auch in dieser Brückenfunktion: als erste Anlaufstelle für die Jugendlichen. Viele Jugendliche unter 25 sind noch nie in einer Beratungsstelle aufgetaucht. Über unser Internetangebot erreichen wir sie nun.
Die Berater werden sechs Monate lang ausgebildet. Ist man dann schon genügend vorbereitet?
Rebholz: Die Erfahrung zeigt, dass das ausreicht. Wir haben die Ausbildung in den letzten Jahren sogar noch ausgebaut. Es geht auch nicht darum, viel Theorie zu lernen, sondern darum zu lernen, sich anzubieten. Es ist eine Beziehung, die da entsteht. Und da ist vor allem wichtig, dass da jemand sitzt, der offen, interessiert ist und zuhören kann. Und der Erfolg gibt uns Recht: Die Erstanfragen steigen von Jahr zu Jahr, mittlerweile haben wir 2.000 Erstkontakte pro Jahr. Die Anfragen reichen vom einmaligen Kontakt bis hin zum Fall, der sich über Jahre hinzieht. Der Regelfall ist aber ein halbes bis dreiviertel Jahr.
Sie haben vor acht Jahren Ihre Ausbildung zur Peer-Beraterin gemacht. Haben sich die Sorgen der Teenager verändert?
Rebholz: Die Sorgen sind nach wie vor die gleichen. Das Spektrum ist sehr breit. Es gibt ganz viele, die einfach überfordert sind von ihrem ganzen Leben. Die auch so eine Art Sinnlosigkeit empfinden. Warum soll ich am Leben bleiben? Wer bin ich? Wo will ich hin im Leben? Wo ist mein Platz in der Welt? Dann gibt es viele Probleme mit der Familie, mit dem sozialen Umfeld. Viele kämpfen auch mit Problemen wie einer Essstörung oder sexueller Gewalt, oder sie werden gemobbt. Oft sind es sogar ganz viele Probleme auf einmal, die auf Jugendliche einströmen und diese Überforderung hervorrufen. Das hat sich wenig geändert. Hinzu ist allerdings in den letzten Jahren das Cybermobbing gekommen. Das gab es vor zehn Jahren in der Form noch nicht.
Und es gibt im Internet so genannte „Selbstmordforen“, in denen sich Jugendliche zum Sterben verabreden.
Rebholz: Um diese Foren wird viel Wirbel gemacht. Vielleicht ist es auch ein Stück weit Inszenierung, was da stattfindet. Ein Hilfeschrei. Das möchte ich nicht wegreden, dennoch messe ich den Foren einen eher geringen Einfluss bei. Oft haben sie sogar einen präventiven Charakter, weil Jugendliche dort mit anderen in Beziehungen treten. Und das wiederum kann sie am Ende vor dem Suizid bewahren.
Was waren die extremsten Fälle, in denen Sie an Ihre Grenze gekommen sind?
Rebholz: Das ist immer dann, wenn es um massive Gewalterfahrungen geht. Da gibt es Klienten, die von Beginn ihres Lebens an misshandelt wurden. Das ist immer schwer zu ertragen. Gleiches gilt für sexuelle Gewalt an Kindern. Letztlich ist aber immer jeder Fall berührend oder bewegend, weil da immer ein Mensch sitzt, der um Hilfe bittet.
Gab es dann auch Fälle, in denen Sie die große Todessehnsucht nachvollziehen konnten?
Rebholz: Sogar recht häufig. Wenn ich mich wirklich in die Person hineinversetze, verstehe ich schon, warum derjenige keinen anderen Ausweg sieht. Aber das Wichtige ist, dass wir den Blick von außen reinbringen und sagen: ‚Diesen Weg gibt’s und den nehmen wir dir auch nicht weg!’ Wir würden zum Beispiel nie sagen: ‚Das ist Sünde!’ oder ‚Das darf man nicht!’ Wir versuchen stattdessen, die anderen Optionen aufzuzeigen. Die Entscheidung liegt dann immer bei dem Jugendlichen selbst. Das hilft auch den Peers in ihrer Arbeit: Sie müssen nicht die Verantwortung für das Leben eines anderen übernehmen. Sie bieten sich lediglich an und zeigen Optionen auf.
Muss man dann eine hundertprozentige Lebensverfechterin sein, um bei U25 zu beraten?
Rebholz: Viele Menschen, die suizidal sind, haben einen Tunnelblick und denken, es würde gar keine andere Möglichkeit mehr geben als den Suizid. Diesen Blick zu weiten ist natürlich besser möglich, wenn ich als Berater gerade das Leben bejahe. Aber wir haben auch viele Peers, die selbst einmal in suizidalen Krisen waren. Das ist völlig in Ordnung und kann sogar auch von Vorteil sein. Sie wissen dann genau: Wie fühlt sich jemand? Und was hat mir damals geholfen, da rauszukommen? Es gibt überdies einen zweiwöchentlichen Austausch zwischen allen Peers, eine Art Supervision.
In Belgien hat vor Kurzem ein Fall von aktiver Sterbehilfe Schlagzeilen gemacht. Ein Arzt hat einem Transsexuellen geholfen, sich selbst umzubringen, als dieser mit dem Ergebnis einer Geschlechtsumwandlung nicht glücklich war. Daraus resultierend die Frage: Hat nicht jeder das Recht, selbst zu entscheiden, wann er sein Leben beenden möchte?
Rebholz: Grundsätzlich ja. Jeder Mensch kann diese Entscheidung für sich treffen – und wird diese Entscheidung auch treffen. Man kann niemanden dauerhaft abhalten, sich das Leben zu nehmen, wenn er das wirklich möchte. Ärzte können zwar jemanden in die Psychiatrie einweisen, aber er wird irgendwann entlassen und es wieder tun. Die Frage ist aber, wie frei ist dieser jemand in der Entscheidung, wenn er verzweifelt ist? Deswegen finden wir zum Beispiel auch das Wort „Freitod“ sehr unglücklich. Unserer Erfahrung nach ist man in dieser Situation nicht frei, weil es einem sehr schlecht geht und man verzweifelt ist. Viele Menschen sagen uns, dass sie nicht mehr leben wollen. Wenn wir dann konkreter nachfragen, heißt es oft, sie wollen so nicht mehr weiterleben. Sie möchten ein anderes Leben, wissen aber nicht, wie sie es erreichen können.
Und da setzen Sie dann an, um Alternativen aufzuzeigen.
Rebholz: Genau. Das ist unsere Aufgabe. Der Tod ist nicht unbedingt die Lösung der Probleme, sondern nur die Beendigung der Probleme. Aber vielleicht gibt es ja auch eine Lösung?! Wir haben also grundsätzlich schon eine akzeptierende Haltung dem suizidalen Menschen gegenüber, wir versuchen aber alles, mit dem anderen Menschen einen anderen Weg zu finden. Ob er ihn dann geht, ist seine Entscheidung.
Wie sollte man sich als Freund oder Verwandter verhalten, wenn man eine Suizidgefahr bemerkt?
Rebholz: Auf jeden Fall offen ansprechen! Natürlich nicht vor einer großen Gruppe, sondern in einem Vier-Augen-Gespräch. Wir raten immer, den Raum zu eröffnen, über dieses Thema zu sprechen. Denn das ist es, was oft fehlt, und weshalb sich Jugendliche an uns wenden. Sie glauben, mit niemanden in ihrem Umfeld sprechen zu können. Oder sie haben Angst, dann sofort in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Aber oft kann es schon helfen, darüber zu sprechen. Das nimmt den Druck aus der Sache.
Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten, aber aus Nachbarländern kommt das Thema zu uns, sei es aus der Schweiz, den Niederlanden oder aus Belgien. Wie sehen Sie das als Beraterin: Was halten Sie davon, dass Ärzte aktiv beim Sterben helfen dürfen?
Rebholz: Ich bin auf jeden Fall skeptisch und auch nicht dafür, dass es in Deutschland eingeführt wird. Ich glaube, man muss vor allem Angebote schaffen, Hilfe zu bekommen. Wenn ich nur kurz mit jemandem ein Gespräch geführt habe, kann ich doch nicht entscheiden, ob derjenige wirklich keine andere Option hat oder nicht. Das sehe ich sehr kritisch!
Weil möglicherweise vorschnell über Tod und Leben entschieden wird?
Rebholz: Wenn das wirklich auf einem oder wenigen Gesprächen basiert, dann ja.
Sie haben Beratungsstellen in Freiburg, Berlin, Hamburg, Dresden und Gelsenkirchen. Was sprach dann dagegen, in noch mehr Städten Beratungsstellen aufzumachen?
Rebholz: Die Finanzierung. Es braucht ja eine hauptamtliche Kraft vor Ort. Die Caritas hat immerhin von drei geplanten auf vier erhöht. Wir müssen sehen, ob es in Zukunft noch mehr geben wird.
Sie erfüllen eine wichtige Beratungsfunktion, wie sieht es mit der Unterstützung von staatlicher Seite aus?
Rebholz: Als Online-Beratungsstelle fallen wir durchs übliche Raster der Förderung. Diese ist traditionell örtlich verankert. Im Internet gibt es jedoch die räumlichen Grenzen nicht, deshalb fühlt sich auch niemand für die Förderung zuständig. Von daher sind wir der Stadt und der Erzdiözese Freiburg außerordentlich dankbar, dass sie U25-Freiburg großzügig unterstützen.Meines Erachtens wird in Zukunft die Relevanz von Online-Beratung weiter steigen, da immer mehr Menschen sich ganz selbstverständlich im Internet bewegen und gerade hier die Anonymität und damit die niedrige Hemmschwelle für Beratung schätzen.
Und die Politik hat die Online-Beratungsarbeit noch immer nicht angemessen auf dem Schirm?
Rebholz: Offensichtlich nicht. Wir gucken immer wieder nach Förderungen von Stiftungen, denn es braucht definitiv mehr Beratungsstellen für die Peer-Beratung. Wir schaffen es nicht mehr, die hohen Anfragezahlen adäquat zu begleiten. Deswegen haben wir uns ja auch an die Caritas gewandt. Wir fragen auch immer bei Stiftungen an, weil wir auf Spenden angewiesen sind. Aber wir sind ja nicht die Einzigen, die bei Stiftungen anklopfen.
Selbstmorde von Prominenten bringen das Thema immer wieder in die Öffentlichkeit und entsprechend auch die Bereitschaft, sich um das Thema zu kümmern. Man denke an den Selbstmord von Gunter Sachs, der sich 2011 das Leben genommen hat aus Angst vor der von Ärzten prognostizierten Demenzerkrankung. Eine autonome Entscheidung; war sie aus Ihrer Sicht nachvollziehbar oder ist es ein schlechtes Vorbild gerade für junge Menschen, wenn jemand sein reiches Leben so beendet?
Rebholz: Solche prominenten Suizide lenken nur kurz die Aufmerksamkeit auf das Thema. Das hält aber erfahrungsgemäß nicht lang an. Ich mag mir im Fall von Gunter Sachs kein Urteil anmaßen. Niemand geht, glaube ich, leichtfertig aus seinem Leben. Ob ich das jetzt positiv oder negativ bewerte – darauf kommt es ja auch gar nicht an. Letztlich werde ich immer versuchen, mit der Person eine andere Möglichkeit zu finden.
Ich finde leben sehr toll bitte nehmt euch nicht das Leben lass treffen und einen Film im Kino treffen bitte bitte ich habe keine Freunde
Ich bekenne mich jetzt zu selbstmord
@Moritz, überlege es dir doch gerne nochmal. Vielleicht findest du bei der Beratungsstelle auch eine erste Hilfe. Alternativ kannst du die Telefonseelsorge kontaktieren, die sind auch immer für dich da. Du bist auf jeden Fall nicht alleine!
ich finde, das es ein sehr wichtiges thema ist,auf das hier sehr deutlich aufmerksam gemacht wird.