Frau Batson, auf der Berlinale lief gerade der Film „Who do you think I am“, in dem sich Ihre Schülerin Juliette Binoche eine 30 Jahre jüngere Netz-Identität zulegt. Wie stehen Sie zu den sozialen Medien als Möglichkeiten, sich selbst zu präsentieren?
Susan Batson: Im gewissen Rahmen kann das einen positiven Effekt haben, sich eine öffentliche Person zu kreieren, die den eigenen Bedürfnissen entspricht. Als Schauspieler sollte man sich davon aber komplett fernhalten, auch wenn ich weiß, dass das kaum möglich ist. Heutzutage müssen Schauspieler auf so etwas wie Instagram präsent sein, weil Casting-Agenten mittlerweile auch danach besetzen, wie viele Follower man im Internet hat. Schauspieler müssen lernen, damit umzugehen.
Ihr Lehrbuch trägt den Titel „Wahrhaftigkeit im Schauspiel“. Wann wurde Ihnen bewusst, dass Schauspielerei auch etwas mit der Suche nach Wahrheit zu tun hat?
Batson: Ich hatte einen Schauspiellehrer namens Herbert Berghof. Er hat uns gesagt, dass wir die Menschlichkeit der Rollen, die wir zu spielen haben, herausarbeiten müssen. Das hat mich zu der Frage geführt, was für ein Mensch ich selbst bin. Ich musste herausfinden, was mein innerstes Bedürfnis ist, wie meine öffentliche Persönlichkeit aussieht, hinter der ich dieses Bedürfnis verstecke, und welche Charakterschwäche zur Geltung kommt, wenn diese beiden Ebenen miteinander in Konflikt geraten. Nur wenn ein Schauspieler diese drei Dimensionen in sich findet und erforscht, kann er eine Rolle wirklich spielen, einem Text Leben einhauchen. Denn auch jede literarische Figur hat diese drei grundlegenden Dimensionen.
Es wäre wünschenswert, dass die Schauspielerei als Kunst ernst genommen wird.
Sie schreiben in dem Buch, dass „nur wenige Schauspieler die Fähigkeit haben, einen wirklich zu berühren“. Man hört doch aber sehr oft, dass sich Menschen von einem Film ‚emotional berührt‘ fühlen.
Batson: Vielleicht sind die dann auch berührt und es ist eher mein Problem, wenn es mir nicht so geht. Es gehört einfach viel dazu, um mich zu berühren und wenn es passiert, empfinde ich es als ein besonders starkes, tiefes Gefühl. Es gibt einige Schauspieler, die vom Publikum sehr geschätzt werden, mir aber nicht gefallen.
Zum Beispiel?
Batson: Meryl Streep erscheint mir als ein wenig zu künstlich. Ihre Arbeit ist technisch sehr gut, aber ihr fehlt meistens die Wahrhaftigkeit.
Sechs der zehn Oscar-nominierten Hauptdarsteller verkörpern reale Figuren. Wie ist es da mit der ‚Wahrhaftigkeit‘?
Batson: Ob eine Figur erfunden ist oder das Porträt einer historischen Persönlichkeit spielt für mich keine Rolle. Mir geht es immer um die Menschlichkeit einer Rolle.
Aber wie wahrhaftig kann zum Beispiel der nominierte Adam Driver in „BlacKkKlansman“ spielen, wo doch seine Rolle vom realen Vorbild in vielen Punkten abweicht?
Batson: Für mich als Schauspielerin galt immer die Regel: Meine Wahrheit mag in manchen Punkten von der des Regisseurs abweichen – aber am Ende hat der Regisseur das letzte Wort.
Außerdem: Wenn verschiedene Wissenschaftler eine historische Person beschreiben, kommt auch nicht immer dasselbe dabei heraus. Nehmen wir Abraham Lincoln, manche Biografen haben ihn als eher depressiv beschrieben, andere als besonders scharfsinnig und sensibel, wieder andere legen den Fokus auf seine möglicherweise verheimlichte Homosexualität. Wenn die Vision eines Regisseurs lautet: Abraham Lincoln war ein Rassist, dann muss ich als sein Schauspieler mit meinen Mitteln dieser Vision gerecht werden, auch wenn ich möglicherweise eine andere Sicht auf Lincoln habe.
„BlacKkKlansman“ ist auch als bester Film und Spike Lee als bester Regisseur im Rennen. Warum wurde aber Hauptdarsteller John David Washington übergangen?
Batson: Ich weiß nicht, was da passiert ist. In der Akademie sind viele alte Leute versammelt. (lacht) Die pflegen ihre alten Vorlieben und stimmen immer wieder für ähnliche Typen und Rollen ab. Ich hoffe, dass sich das mit dem demografischen Wandel ein wenig ändern wird. Es wäre wirklich wünschenswert, dass die Schauspielerei als Kunst anerkannt und ernst genommen wird. Dann würde die Akademie und auch das Publikum eher erkennen, ob eine Rolle von einer wahrhaftigen, inspirierenden Künstlerin, wie zum Beispiel Juliette Binoche, oder nur von einer Technikerin gespielt wird. Das macht einen großen Unterschied.
Für den Oscar als beste Hauptdarstellerin sind u.a. Yalitza Aparicio und Lady Gaga nominiert, die keine professionellen Schauspielerinnen sind.
Batson: Lady Gaga hat schon als Schülerin in Musicals gespielt und dann später mehrere Jahre Musik studiert. Sie ist eine Künstlerin, sie war auch stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort und es war abzusehen, dass sie diesen Weg gehen würde. Ich habe mit ihr an ihrer Rolle in „A Star is Born“ gearbeitet. Als sie zu mir kam, wusste sie schon Einiges über die Schauspielerei.
Zudem scheint sie auch ein sehr offenes Verhältnis zu ihren traumatischen Erfahrungen und Krankheitsgeschichten zu haben, die sie immer wieder öffentlich thematisiert.
Batson: Das ist in der Tat so. Sie war auch bereit, mit mir ihre Rolle und deren innerstes Bedürfnis zu erarbeiten. Dem hat sie sich vorbehaltlos hingegeben, ohne sich jemals zu beklagen. Es war ein Vergnügen mit ihr zu arbeiten. Leider ist das, wofür ich ihr den Oscar geben würde, nicht im Film zu sehen. Es gibt zwei Szenen von ihr und Andrew Dice Clay, der ihren Vater spielt, die einem helfen, ihre Figur Ally zu verstehen, die es aber nicht in den Film geschafft haben.
Wie bewerten Sie, dass mit Yalitza Aparicio („Roma“) auch eine Laiendarstellerin Chancen auf den Oscar hat?
Batson: Ich habe bisher nur Trailer ihres Films gesehen, aber was ich dort sehen kann, ist ihre Wahrhaftigkeit. Ich weiß, dass ich ihr glaube, was ich da sehe. Und das ist das Wichtige.
Interessieren Sie sich eigentlich für die Oscar-Verleihung?
Batson: Ich hoffe einfach, dass Gaga gewinnt, weil ich weiß wie viel Arbeit sie in diese Rolle gesteckt hat. Aber wenn sie nicht gewinnt, wäre ich auch nicht überrascht.
Sie haben auch mit Nicole Kidman gearbeitet, die mit 51 Jahren noch immer sehr jung wirkt. Verschiedene Medien haben spekuliert, sie helfe mit Botox nach. Wie stehen Sie dazu?
Batson: Botox kritisiere ich sehr, mit Botox sieht man die Emotionen im Gesicht gar nicht mehr. Das ist ein absoluter Horror. Ich kann aber nicht bestätigen, dass Nicole irgendetwas hätte machen lassen. Ich höre das immer wieder: „Bitte, sag ihr, sie soll damit aufhören!“ Ihren engsten Mitarbeitern geht das genauso und ich habe einen von ihnen mal gefragt, woran das liegen könnte. Er meinte: Entweder sind die Leute eifersüchtig und können einfach nicht glauben, dass sie nichts machen lässt. Oder sie lesen zu viele Zeitschriften und verwechseln dann bearbeitete Fotos von ihr mit der Realität.
Und wie erleben Sie Kidman in der Realität?
Batson: Wenn Sie Nicole so nahe kommen würden wie ich, würden Sie auch sehen, dass sie nichts gemacht hat, außer sehr sehr gesund zu essen. So lange wie ich sie kenne, isst sie kein Junk-Food, kein Zucker. Und sie wurde von ihrem Vater zur Athletin trainiert, er wollte dass sie es als Schwimmerin bis zu den Olympischen Spielen schafft. Ihr würde auch heute niemals einfallen, mit dem Training aufzuhören. Sie meidet die Sonne, weil sie so eine empfindliche Haut hat. All das ist ihr extrem wichtig.
Ihre Kurse, die Sie an Ihrem Studio in New York und regelmäßig auf der ganzen Welt geben, sind für jeden offen, für Weltstars genauso, wie für interessierte Laien. Wenn man Ihr Buch liest, bekommt man den Eindruck, dass für Sie diese Arbeit auch eine soziale, gesellschaftliche Dimension hat.
Batson: Meine Mutter war Bürgerrechtsaktivistin. Ich habe von ihr gelernt, auch an unsere Gesellschaft und den Rest unserer Welt zu denken. Ich würde nicht sagen, dass ich das ununterbrochen tue, aber ich glaube daran, dass ich meinen Beitrag leisten, dass ich der Gesellschaft etwas geben muss. Das Bewusstsein, die Welt zu einem besseren Ort machen zu müssen, habe ich tatsächlich von ihr geerbt. Ich mache das auf etwas andere Weise, als sie es getan hat. Aber auch mir geht es um Veränderung.
Als Sie noch ein Kind waren, hat Ihnen Ihre Mutter einmal gesagt: Es tut mir leid, dass ich so wenig für dich da sein kann, aber ich muss dafür kämpfen, die Welt zu verändern. Daraufhin haben Sie begonnen, das, was Ihnen Ihre Mutter nicht geben konnte, in der Kunst zu suchen.
Batson: So ist es gewesen. Sie selbst war es auch, die mir vorgeschlagen hat, in die Kunst zu gehen und Schauspielerin zu werden. Meiner einen Schwester empfahl sie den Beruf der Krankenschwester, der anderen, sie solle Übersetzerin werden. Und sie hat bei uns allen recht behalten. Sie war sehr klug und unterstützend, was unseren beruflichen Werdegang betraf. Aber als jemand, die ich bei Problemen ins Vertrauen hätte ziehen können, war sie für mich genauso wenig da wie mein Vater.
Dafür hat sie ihre Kinder offenbar gut einschätzen können und ihnen das Selbstbewusstsein mitgegeben, ihre eigenen Wege zu gehen.
Batson: Ja, das stimmt. Sie hatte als Therapeutin eine gute Menschenkenntnis. Aber zu einer intimen, sehr persönlichen Beziehung war sie nicht in der Lage.
Lehnen Sie es deswegen ab, Ihr Coaching als Therapie zu bezeichnen?
Batson: (Lacht) Ich lehne das nicht wirklich ab. Aber ich befürchte immer, das Schauspieler meine Arbeit als Therapie begreifen. Es ist sehr wichtig, dass sie den Unterschied verstehen. Ich begleite sie in einem Prozess, den sie für ihre Kunst nutzen. Es geht nicht darum, den Schmerz zu überwinden, sondern mit ihm umzugehen.