Herr Giegold, viele Kommentatoren stellen angesichts der Krise in der Ukraine ein Erstarken von Protektionismus und Nationalstaaterei in der EU fest. Keine gute Zeit für die anstehenden Europawahlen, oder?
Sven Giegold: Im Gegenteil: Die EU stand seit der Euro-Krise unter starker Spannung. Nun haben wir eine gemeinsame Reaktion der Europäer auf die Ukraine-Krise gesehen. Das hat die europäischen Staaten wieder zusammengeschweißt.
Die Autoren der entsprechenden Kommentare und Analysen zum Thema liegen also falsch?
Giegold: Nicht ganz. Denn es ist ja korrekt, dass die europäische Einigung in den vergangenen Jahren auf eine harte Probe gestellt wurde. Die Krise in der Ukraine hat nicht nur die Notwendigkeit einer stärkeren europäischen Einigung zunächst demonstriert, sondern diese Einigung auch gleich erzeugt.
Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass sich keines der wirklich großen Probleme ohne europäische Einigung lösen lässt: ob das der Klimaschutz ist, die Stabilität der Finanzmärkte oder ein gerechtes Steuersystem ohne Steueroasen. Das geht nur über europäische Kooperation.
Ein großes Thema ist seit einiger Zeit das geplante Freihandelsabkommen mit den USA, das „Transatlantic Trade and Investment Partnership“, kurz TTIP. Können Sie uns erklären, warum dieses Abkommen größtenteils hinter verschlossenen Türen verhandelt wird?
Giegold: Die Bundesregierung klagt selbst über die Geheimhaltung, tut aber nichts dagegen. Deshalb haben wir Grünen das Mandat auf Deutsch für die Bürgerinnen und Bürger im Internet zugänglich gemacht. Andere wichtige Verhandlungsdokumente sind vollständig geheim. Darunter die Forderungen der Amerikaner zur Schwächung europäischer Standards: Hier geht es um die Interessen von Großkonzernen, die durch Gesundheits- und Umweltstandards ihre Gewinne bedroht sehen, statt um Anliegen von Verbraucherinnen und Verbrauchern. Vor allem die geplante Konzernjustiz, also das neue Klagerecht für Investoren, würde unsere Demokratie einmauern.
Sie und die anderen grüne Spitzenkandidaten für die Europawahl, die die Leitlinien für die Verhandlungen des Abkommens trotz Geheimhaltungsverpflichtung veröffentlicht haben, kritisieren, dass durch die Pläne nationale Eigenheiten in Frage gestellt werden…
Giegold: Der zentrale Grund, warum wir Grünen das Abkommen kritisieren, ist nicht, dass dadurch nationale Regeln untergraben werden. Sondern weil das Abkommen unmöglich macht, dass wir als Europäer gemeinsam kontrollieren können, wie unser Binnenmarkt aussehen soll. Wenn wir in Zukunft, sobald wir ökologische oder soziale Standards in der Produktion oder beim Verbraucherschutz erhöhen wollen, uns immer erst mit Amerika abstimmen müssen, ohne dass wir ein transatlantisches Parlament haben, dann motten wir unsere europäische Demokratie ein.
Was ist die Alternative?
Giegold: Meiner Ansicht nach müsste zu globalen Regeln in sensiblen Produktstandards auch eine globale Demokratie gehören. In Europa sind wir dabei, eine gemeinsame Demokratie zu erschaffen – weil sie zu einem gemeinsamen europäischen Markt gehört. Dieses parallele Bauen von Markt und Demokratie – beides wird letztlich durch das Abkommen gefährdet.
Spiegel Online zitiert Ihre Stellungnahme zu dem Abkommen insbesondere so: „Es ist unklar, inwieweit Themen wie Buchpreisbindung, der ermäßigte Mehrwertsteuersatz auf Kulturgüter oder öffentliche Förderung für Theater, Museen und Bibliotheken nicht doch betroffen sein könnten.“
Giegold: Die Gefährdung deutscher Besonderheiten ist ein Nebeneffekt und nicht das Kernproblem an dem Abkommen. Mit der Webseite, auf der wir – also die grünen Spitzenkandidatinnen für die Europawahl, Rebecca Harms, Ska Keller und ich – die Pläne für das Abkommen veröffentlicht haben und die auch die von Ihnen zitierte Kritik an den Plänen enthält, stellen wir die Beschränkung der Europäischen Demokratie in den Mittelpunkt.
Die Pläne für das Abkommen sehen ein Streitbeilegungsverfahren vor, das Konzernen faktisch die Möglichkeit geben wird, gegen höhere soziale und ökologische Regeln zu klagen. Dagegen wenden wir uns grundsätzlich.
Parteipolitik ist ein liebloses Geschäft.
Sie sehen den Einfluss der EU-Demokratie bedroht. Die wird allerdings ohnehin häufig als Scheindemokratie wahrgenommen, deren Einfluss auf die Bürger letztlich gering ist.
Giegold: Ich halte den Begriff der Scheindemokratie für falsch. Ich habe in den vergangenen Jahren als Abgeordneter im Europaparlament gesehen, wie viel Einfluss die Mehrheitsverhältnisse im Parlament haben. Momentan ist die Mehrheit im Parlament liberal-konservativ und an vielen Stellen sind wir mit einer besseren Finanzmarktregulierung, mit besserem Verbraucherschutz, oder mehr Umweltschutz genau an dieser liberal-konservativen Mehrheit gescheitert. Insofern wird der Wille der Bürger in Brüssel sehr wohl in Politik übersetzt. Was auch bedeutet, dass die kommende Europawahl einen großen Einfluss darauf hat, wie Europa in den kommenden fünf Jahren ausgestaltet wird. Das lässt sich auch daran ablesen, dass hochbezahlte Lobbyisten das Parlament geradezu belagern. Das würden die doch nicht machen, wenn dort keine Entscheidungen von Tragweite gefällt würden.
Vielleicht werden die Lobbyisten genau dafür bezahlt – den Einfluss Brüssels zu lähmen, um ihren eigenen auf nationaler Ebene zu sichern.
Giegold: Es ist im Gegenteil so, dass die Kontrolle durch die Medien und kritische Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene sehr viel besser funktioniert und dadurch natürlich auch die Arbeit von Lobbyisten unter stärkerer Beobachtung steht. Wenn Sie die Wichtigkeit der Entscheidungen auf EU-Ebene ins Verhältnis setzen zum Platz, den EU-Politiker in Talkshows, in Nachrichtensendungen und in den Zeitungen eingeräumt bekommen, dann ist dieser Platz im Vergleich zu dem, der den Politikern der nationalen Demokratien eingeräumt wird, sehr gering. Dem entspricht, dass alle großen Organisationen – Kirchen, Sozialverbände, Gewerkschaften und so weiter – weitestgehend nationale Veranstaltungen sind. Genauso also, wie sich die deutsche Demokratie im 19. Jahrhundert nur mühsam aus der Kleinstaaterei heraus entwickelt hat, so entwickelt sich auch die EU-Demokratie nur mühsam aus der Nationalstaaterei heraus.
Sie meinen, die Europäische Union befindet sich in einer Phase, die mit der deutschen Romantik vergleichbar ist?
Giegold: Die aktuelle Situation der EU ist mit jener Deutschlands vor 200 Jahren durchaus vergleichbar. Denken sie an die Zollunion, die in Deutschland damals geschaffen wurde oder an den Wiener Kongress, der vor rund zwei Jahrhunderten den Weg zur deutschen Einigung gebahnt hat. In dieser Zeit haben sich die Bürger in verschiedenen Teilen Deutschlands mündlich kaum verständigen können. Die Dialekte waren so unterschiedlich – ich glaube, das war aus Sicht der Bürger damals nicht viel anders, als wenn heute ein Niederländer versucht, einen Deutschen zu verstehen oder wenn ein Deutscher versucht einen Franzosen zu verstehen. Auch heute wird immer wieder gesagt: Eine europäische Demokratie kann nicht funktionieren, weil es keine gemeinsame Sprache gibt. Dem würde ich aber widersprechen. Die Massenmedien, die es heute gibt und damals nicht gab, müssten die europäische Demokratie nur besser vermitteln als bisher. Dann würde auch eine europäische Einigung irgendwann selbstverständlich sein. So, wie heute auch die deutsche Einigung für alle selbstverständlich ist. Nur ohne dass der Weg dahin durch Weltkriege führt. Außerdem entwickelt sich „schlechtes Englisch“ längst zu einer gemeinsamen Verkehrssprache.
Sie erwähnten, dass einige Anliegen der Grünen an der liberal-konservativen Mehrheit im EU-Parlament gescheitert sind. Würden Sie dies auch dem Lobbyismus ankreiden, zum Beispiel in Bezug auf Fracking?
Giegold: Nein. Ich denke nicht, dass Liberale oder Konservative per se anfälliger für Lobbyismus sind als Abgeordnete anderer politischer Strömungen. Davon abgesehen werden die wichtigsten Fragen, die mit Rohstoffextraktion und damit auch mit Fracking zu tun haben, nach wie vor national entschieden. Was wir auf europäischer Ebene nicht durchsetzen konnten, sind strengere ökologische Standards für diese Verfahren.
Nun sind Sie erst seit 2008 Mitglied der Grünen. Bekannt wurden Sie durch ihr Engagement als Aktivist bei den Globalisierungskritikern von Attac. Braucht es nun eine Partei oder eine Bürgerrechtsbewegung, um politisch Einfluss zu nehmen?
Giegold: Ich denke, dass es immer beides braucht. Große Veränderungen durchsetzen – das kann kein gewählter Abgeordneter allein. Sie brauchen immer ausreichend Unterstützung aus der Bevölkerung und die drückt sich vor allem in einer aktiven kritischen Bürgergesellschaft aus.
Dennoch unterscheidet sich die tägliche Arbeit eines Abgeordneten von der in einer Bürgerinitiative. Als Sie von Attac in die damals schon etablierte Grüne Partei wechselten – welche Opfer mussten Sie da bringen?
Giegold: Im EU-Parlament zu arbeiten ist wirklich alles, nur kein Opfer. Ich empfinde es vielmehr als großes Geschenk, an der europäischen Idee mit anderen wirken zu können und tue das wirklich sehr gern. Aber ich habe natürlich Dinge über den Politikbetrieb gelernt, die ich vorher einfach nicht wusste.
Zum Beispiel?
Giegold: Ich sage es mal etwas pathetisch: Parteipolitik ist ein liebloses Geschäft. Jedenfalls im Vergleich zur Arbeit in einer Bürgerinitiative. Weil durch den Wahlmechanismus die Konkurrenz viel stärker im Vordergrund steht als das Miteinander. Zudem muss ich als Parteipolitiker mein Handeln immer den Wählern gegenüber rechtfertigen. Das muss eine Bürgerinitiative nicht, dort steht das gemeinsame Ziel im Vordergrund.
Gibt es das nicht auch innerhalb einer Partei?
Giegold: Klar: Auch die Grünen haben gemeinsame Ziele. Die zudem sicher stärker ausgeprägt sind als etwa bei den konservativen Parteien. Dort beobachte ich tatsächlich ganz besonders wenige gemeinsame Leitlinien. Das heißt: Im Vergleich zu CDU und CSU ist es bei den Grünen noch sehr angenehm. Dennoch: Die Parteipolitik ist durch Konkurrenz geprägt und daraus folgen Untugenden, die die Arbeit unnötig erschweren. Beispielsweise wird innerhalb der Partei nicht offen darüber gesprochen, was einen aneinander nervt oder stört. Weil man auf den anderen morgen vielleicht angewiesen ist. Oder es werden Dinge in den Medien lanciert, ohne dass dies vorher abgesprochen wurde. Zum Beispiel, weil dadurch der eigene Name in der Presse häufiger genannt wird. Solche Untugenden kannte ich von Attac nicht.
Braucht es eine neue politische Ethik?
Giegold: Ich finde zumindest die Frage nach Ethik in der Politik sehr viel interessanter als früher. Weil ich ihre Defizite kennengelernt habe und natürlich auch, weil die Abwesenheit bestimmter Tugenden in der Parteipolitik viel stärkere Auswirkungen hat als in der Zivilgesellschaft.
Würden Sie den Schritt in eine Partei erneut gehen?
Giegold: Ja. Ich möchte teilhaben an der Macht, jene Ideen mit durchzusetzen, für die ich früher auf der Straße gestritten habe.
Wo haben Sie mehr erreicht – bei den Grünen oder bei Attac?
Giegold: Das ist im Wesentlichen dieselbe Frage wie zuvor auch.
Nicht ganz.
Giegold: Also wenn Sie das in Gesetzen messen, habe ich natürlich bei den Grünen im Europaparlament ungleich mehr erreicht als während meiner politischen Arbeit zuvor. Wenn es aber darum geht, bestimmte Ideen überhaupt erst einmal hoffähig zu machen, welche dann später mächtig werden – dann hat sicherlich Attac mehr erreicht. Denn Attac hat bestimmte Forderungen popularisiert, die dann während der Finanzkrise, in diesem Moment des Kairos, ihre politische Umsetzung gesehen haben. Insofern lässt sich das eine nicht vom anderen trennen und auch schlecht vergleichen.
Waren Sie sozusagen zur richtigen Zeit am richtigen Ort um mit Attac-Inhalten auch parteipolitisch zu landen?
Giegold: Für mich war es jedenfalls ein Glücksfall, direkt nach der Krise im EU-Parlament gewesen zu sein. Denn die Liste der Erfolge, also dessen, was ich habe bewegen können, ist tatsächlich sehr lang. Wäre ich vor zehn Jahren im EU-Parlament gewesen, hätte ich vermutlich im Bereich der Finanzmärkte überhaupt nichts erreicht.
Sie sind mit machen Anliegen auch gescheitert.
Giegold: Ja, aber es ist doch völlig normal, dass die Welt nicht so ist, wie ich sie gerne hätte. Das ist ja auch Teil der Demokratie, dass nicht eine Person oder eine Partei alles durchsetzen kann. Deshalb haben sich manche meiner Vorhaben oder manche der Grünen eben nicht durchgesetzt.
Zum Beispiel Ihr Ziel aus Attac-Zeiten, Steueroasen trocken zu legen.
Giegold: Wobei ich finde, da sind wir gerade dabei, wirklich große Fortschritte machen. Vor allem in den vergangenen zwei Jahren ist dieses Ziel näher gerückt. Dank „Offshore-Leaks“ und auch dank kritischer Journalisten und Whistleblower hat sich da viel bewegt. Die Schweiz ist kurz davor, automatisch Steuer-Informationen mit anderen Ländern auszutauschen. Dadurch würde die wichtigste und renitenteste Steueroase für Privatpersonen transparent. Das ist ein gigantischer Fortschritt.
Im Vergleich zu wann?
Giegold: Ich weiß noch genau: Im Jahr 2001 war die Forderung nach einem automatischen Informationsaustausch zwischen Staaten sogar innerhalb von Attac umstritten, weil sie zu radikal war. Im Übrigen gibt es tatsächlich kaum eine Sache, an der ich bei Attac so viel gearbeitet habe wie an der Bekämpfung der Steueroasen. Und kaum eine Sache, von der jetzt so viel kurz vor der Realisierung steht. Ich hätte erwartet, dass Sie da jetzt mit einem anderen Beispiel kommen.
Welches hätte ich denn wählen können?
Giegold: Das Europaparlament war schwach bei der sozialen Ausgestaltung der Reformen in den Krisenländern. Dort wurden eben nicht die Reichen besteuert und die Ärmsten geschont. Sondern es wurde stattdessen umgekehrt der Reichtum gepflegt und die Kürzungen gegenüber den schwächsten durchgesetzt. Das ist wirklich bitter. Und das wiederholt sich in meinen Augen gerade in der Ukraine und das finde ich fürchterlich.
Inwiefern?
Giegold: Die Hilfen an die neue ukrainische Regierung sind an Auflagen geknüpft sind, die denen für Griechenland ähneln. Das finde ich vollständig bekloppt, dass da offensichtlich nichts dazugelernt wurde.
Letzte Frage: Es heißt, Sie sind begeisterter Liegefahrradfahrer…
Giegold: Ja, allerdings habe ich hier in Brüssel kein Liegerad mehr, denn die Stadt ist fahrradunfreundlich, unübersichtlich und recht hügelig. Für Bergstrecken ist ein Liegerad nicht besonders gut geeignet. Deshalb fahre ich jetzt ein ganz normales Tourenrad, wie jeder andere auch.
Mit oder ohne Helm?
Giegold: Meine Frau ist Ärztin. Die hat schon so viele Leute wieder zusammenflicken müssen, dass sie mich ohne Helm überhaupt nicht aufs Fahrrad lässt.