Herr Hannawald, freuen Sie sich auf die anstehenden Olympischen Winterspiele in Sotschi?
Sven Hannawald: Auf jeden Fall, vor allem seit die Deutschen im Sommer an Fahrt aufgenommen haben. Man sieht, dass die Formkurve nach oben geht, so hoffe ich natürlich auf gute Ergebnisse bei den Winterspielen. Auf Mannschaftsmedaillen und eine Einzelmedaille – so wie es unter dem Skisprungtrainer Reinhard Heß immer unser Ziel war. Das wäre schön.
Es werden die bislang wärmsten Winterspiele in der Olympischen Geschichte – braucht man als Skispringer gar nicht den ‚richtigen‘ Winter?
Hannawald: Ein Beispiel ist Kuusamo (finnischer Austragungsort des Weltcup-Auftaktes im Skispringen). Dort hätte ich überhaupt nicht hinfahren müssen, die zu kalten Temperaturen waren nichts für mich. Wenn der Körper zu kalt ist, macht es keinen Sinn. Aufwärmen bringt auch nichts, denn dann bleibt keine Energie für den Absprung. Plusgrade wie in Sotschi sind für den Körper und das eigene Gefühl gut, dagegen jedoch sind die stabilen Windverhältnisse schwieriger. Das heißt, auch hier gilt wie so oft im Leben: Alles hat zwei Seiten.
Schauen Sie sich eigentlich die stundenlange Eröffnungszeremonie der Olympiade an, wenn sämtliche National-Teams ins Stadion einziehen?
Hannawald: Ich bin keiner, der sich die Eröffnungsfeier anschaut. Meine Mutter ist hingegen eine große Liebhaberin solcher Inszenierungen, sie saugt durch solche Zeremonien die Stimmung auf. Als aktiver Sportler genießt man Siegerehrungen, aber die Eröffnungsfeier ist mir zu lang. Die Sportler müssen übrigens auch nicht von Anbeginn dabei sein: wir sind immer eine halbe Stunde vor dem Einlauf hingefahren worden und danach ging es gleich wieder zurück ins Quartier. Den Einlauf an sich habe ich aber genossen, also mein Land repräsentieren zu dürfen. Doch für die komplette Eröffnungsfeier bekommt man keine Medaille – im Kopf ist man da schon bei den Wettkämpfen.
Als aktiver Sportler genießt man Siegerehrungen, aber die Eröffnungsfeier ist mir zu lang.
Können Sie heute befreit vor dem Fernseher sitzen und Skispringen schauen?
Hannawald: Nach Beendigung meiner Karriere war es mir nicht möglich, Skispringen anzuschauen, zu der Zeit wusste ich mit mir selbst nichts anzufangen, mir fehlte eine Aufgabe. Als ich dann den Motorsport entdeckte war dieses beklemmende Gefühl weg, von da an konnte ich über die Vergangenheit sprechen. Vorher war es schwierig über das Vergangene, die spannenden und tollen Erlebnisse, zu sprechen ohne etwas Neues in Aussicht zu haben. Jetzt ist das Thema Skispringen abgeschlossen und verarbeitet, daher kann ich mir die jetzigen aktiven Sportler mit Freude ansehen. Ich interessiere mich für ihre neuen Techniken und dafür, wie sich die Materialien verändert haben.
Sie haben über Ihre aktive Zeit das Buch „Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben“ geschrieben, in dem es auch um Ihre eigene Burnout-Erfahrung geht. Was hat Sie dazu motiviert?
Hannawald: Nachdem es mir einigermaßen besser ging, habe ich bemerkt, dass Menschen auf meine Auftritte in Sendungen zum Thema Burnout oder Depression reagieren. Ich habe viele Zuschriften und Feedback bekommen: Zum einen waren die Zuschauer froh, dass ich so offen darüber spreche, manche fanden sich in meinen Äußerungen und Empfinden wider, andere haben in der Familie oder im Freundeskreis Burnout-Erkrankte. So habe ich festgestellt, dass mein Erlebtes anderen helfen kann.
Hat Sie das Buch auch Überwindung gekostet? Dass Sie Ihre Skisprung-Karriere beendeten liegt ja bereits über acht Jahre zuück.
Hannawald: Natürlich kann man so ein Buch nicht von heute auf morgen schreiben. Es braucht Zeit, viel Zeit. Vor zwei Jahren war ich noch nicht so gefestigt wie heute, da hätte meine Stimmung wieder kippen können. Heute ist das nicht mehr der Fall. Durch kompetente Therapeuten und die passende Therapie habe ich meine Krankheit überwunden. Vielleicht ist das auch ein Grund für das Buch, dass meine „Reise“ bis zur richtigen Diagnose meiner Krankheit eine Odyssee war.
Ihre Krankheit wurde 2004 festgestellt, als das gesellschaftliche Bewusstsein für die Krankheit Burnout noch kaum vorhanden war…
Hannawald: Ja, es gab nur den „Fall“ Sebastian Deißler, das war es aber auch schon. Heute sieht man, welche Veränderung die Gesellschaft durchlaufen hat. Kenntnisse und Wahrnehmung über Burn-out sind vorhanden, es wird darüber gesprochen. Mein größtes Problem in der akuten Phase war die Unwissenheit, ich wusste lediglich, dass etwas mit mir nicht stimmt – aber eben nicht den Grund und die Ursache. Mit dem heutigen allgemeinen gesellschaftlichen Wissen, wäre mir Einiges erspart geblieben.
Welcher Arzt stellte dann die Diagnose Burnout?
Hannawald: Das war ein Arzt für Psychosomatik, zu dem ich glücklicherweise über ein paar Ecken den Kontakt fand. Er konnte mir nach einer halben Stunde Gespräch mitteilen, dass ich wahrscheinlich Burnout habe und riet mir, mich in eine Klinik zu begeben. Das war für mich ein sehr erlösendes Gespräch, weil mir endlich jemand sagen konnte, warum ich mich so müde und ausgelaugt fühle. Die anderen Ärzte konnten nach vielen Untersuchungen keinen Grund feststellen, formal haben sie keinen Fehler gemacht. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass einer von ihnen in diese Richtung gedacht hätte. Letztlich blieb nur der Arzt für Psychosomatik übrig, der dann die richtige Diagnose stellte.
Wie schwer war es für Sie als Profisportler mit einer psychischen Erkrankung an die Öffentlichkeit zu treten?
Hannawald: Verschleiern hätte nichts gebracht, es ging mir einzig und allein darum wieder gesund zu werden. Ich bin generell von meiner Persönlichkeit her kein Typ der rumdruckst, ich möchte authentisch sein. So konnten auch keine Gerüchte aufkommen.
Hängt Ihr Burnout mit Ihrem überragenden Sieg 2002 bei der Vierschanzentournee zusammen? Sie hatten alles erreicht, es gab kein schneller, höher, weiter mehr?
Hannawald: Der Sieg hat gewiss einen Teil dazu beigetragen. Bis heute bin ich der einzige Skispringer, der alle vier Teilwettbewerbe der Vierschanzentournee gewonnen hat – diese Leistung hat mich damals enorm viel Energie gekostet. Die damit verbundenen außerordentlichen Anstrengungen habe ich erst danach bemerkt. Ich musste intensiver psychisch und physisch arbeiten als sonst. Jeder Erfolg – sei er noch so schön – fordert seinen Tribut. So hat meine Leistung sicherlich auch zum Burnout beigetragen.
Auf welche weiteren Faktoren führen Sie Ihr Burnout zurück?
Hannawald: Einen wichtigen Part hatte das jahrelange Hungern. Hungern war für mich der Schlüssel zum Erfolg. Alle anderen Wege hatte ich ausprobiert, das Herunterhungern auf ein bestimmtes Gewicht brachte sofort den Erfolg mit sich. Mein Körper musste jahrelang funktionieren, obwohl ich ihm alle Reserven genommen habe. In der Klinik wurde meine Biografie aufgearbeitet, wir stellten fest, dass es für mich auch nicht unbedingt förderlich war, mit einem halben Jahr weg von meinen Eltern und in eine Krippe zu kommen. Auf der anderen Seite bin ich ein überzeugter Perfektionist, selbst bei hundertprozentigen Erfolgen grüble ich noch nach. Anstatt einfach zu feiern und abzuschalten. Es kommen also mehrere Faktoren zusammen.
In Ihrer aktiven Zeit war Ihr niedrigstes Gewicht 64 Kilo. Waren Sie magersüchtig?
Hannawald: Nein. Obwohl man es beim Betrachten alter Fotos glauben könnte. Es war ein schmaler Grat, ständige ärztliche Kontrollen haben wohl Schlimmeres verhindert.
Was verleiht Ihrem Leben momentan Sinn?
Hannawald: Momentan lebe ich das Leben, welches ich jahrelang nicht leben konnte. Ich genieße das Zusammensein mit meiner Freundin Alena, ich genieße unseren Hund. In meiner aktiven Zeit hätte mich diese Verbindlichkeit überfordert. Mein Körper und mein Innerstes signalisieren mir diese Zeit auszukosten und aufzusaugen. Beruflich gibt es aktuelle Gespräche mit dem DSV über die Nachwuchsarbeit.
Welche Maßnahmen haben zu Ihrer Genesung beigetragen?
Hannawald: Zeit. Schon in der Klinik habe ich daran gearbeitet schnell wieder gesund zu werden, wieder zu funktionieren. Das war ein Trugschluss, wer sich selbst mit seiner Genesung unter Druck setzt, braucht doppelt oder gar dreifach so lang. Ich musste lernen loszulassen, die Genesung meinem Körper und meiner Psyche zu überlassen.
Schließen Sie einen Rückfall aus?
Hannawald: Auf jeden Fall. Ich bin sehr sensibilisiert, was mir gut tut und was nicht. Ich lote genau aus, was und wie viel ich mir selbst zumuten kann. Früher habe ich mir alles aufgeladen und mich selbst überfordert. Das gibt es in meinem Leben nicht mehr.
Welche Rolle spielte Ihre Medienpräsenz als Spitzensportler? War die auch eine Belastung?
Hannawald: Meine Devise ist nach wie vor, sehr wenig über mich selbst nachzulesen. So vermeide ich, in eine andere Welt abzutauchen. Ich habe zwar viele Interviews, aber diese autorisiere ich konsequent. Wird man in einer Sportart erfolgreich ist es klar, dass die Medien etwas von einem wollen, man kann nicht öffentlich sein und die Medien komplett außen vor lassen. Ich habe mich für den Mittelweg entschieden, ein Arrangement mit dem ich zufrieden bin und die Medien anscheinend auch.
Und Sie haben die Berichterstattung über sich nicht als großen Druck empfunden?
Hannawald: Nein. Druck wird meiner Meinung nach besonders intensiv empfunden, wenn dieser von einem Tag auf den anderen kommt, wenn man plötzlich ohne Vorlauf zum Star gemacht wird. Bei mir war es ja anders, ich habe mich an den medialen Druck, an das mediale Interesse an meiner Person gewöhnen können.
Bei mir kam der Druck nicht von außen, sondern von innen. Ich habe mich selbst durch meine extrem perfektionistische Art selbst unter Druck gesetzt. Bei meinem neuen Hobby – dem Autorennen – kam diese Eigenschaft wieder zum Vorschein. Ich wollte alles hundertprozentig machen, ich muss mich also immer selbst wieder erden und ausbremsen.
Seit 2010 sind Sie begeisterter Motorsportler. Ist das ein Ausgleich weil Sie nicht mehr Skispringen?
Hannawald: Der Motorsport nimmt mir die Adrenalinsucht ab. Die erste Zeit nach Beendigung des Skispringens war ich wie erlöst, der Druck war weg, ich musste keine Leistung mehr bringen, keinen Konkurrenzkampf aushalten. Der Alltag wurde mir aber schnell langweilig, so kam ich zum Motorsport. Er gleicht mich aus. Skispringen und Motorsport sind beides absolute Risikosportarten, die einen gewissen Kick vermitteln. Vielleicht ist meine Sucht nach Adrenalin genetisch bedingt und deshalb habe ich gerade beim Motorsport einen passenden Ersatz gefunden.
2002, zu Ihrer aktiven Zeit, erlebte das Skispringen einen richtigen Boom. Können Sie sich einen ähnlichen Hype heute erneut vorstellen?
Hannawald: Ich denke nicht. Erstmals bin ich froh, dass die Deutschen wieder auf einem guten Weg sind. Trotzdem kann ich mir einen weiteren Hype nicht vorstellen. Die Öffentlich-Rechtlichen betreiben keinen solchen Aufbau für diese Sportart, wie es seinerzeit RTL betrieben hat. Vor mir gab es viele erfolgreiche Vierschanzentourneesieger, es gab Rekordspringer wie einen Jens Weissflog, der viermal die Tournee gewonnen hat. Diese Erfolge müssen medial dargestellt werden, um einen Hype zu entfachen.
Skispringen hat viele treue Fans, häufig bleiben sie uns Jahrzehnte treu. Es folgen junge Fans nach, die sich mit einem Andreas Wellinger oder Richard Freitag identifizieren, aber der breite gesellschaftliche Ansturm auf diese Sportart wird ausbleiben. Dazu muss ein Sender Stimmung machen, muss richtig anfeuern und die Sportart in viele Nachrichtensendungen bringen, damit die Öffentlichkeit davon Kenntnis nimmt und sich für den Ausgang der Wettkämpfe interessiert. Das ist bei den Öffentlich-Rechtlichen leider nicht der Fall.