Swetlana Sacharowa

Es gibt in Russland manchmal zu viel Freiheit in der Kunst.

Primaballerina Swetlana Sacharowa über ihre Arbeit am Bolshoi Theater, körperliche Anstrengung, Tradition und neues Repertoire, und ihre Zeit als Abgeordnete der Duma

Frau Sacharowa, Sie sind mit dem Geiger Vadim Repin verheiratet – wie bekommen Sie Ballett, Musik und Familie unter einen Hut?
Swetlana Sacharowa: Wissen Sie, darüber denke ich kaum nach. Wir leben so und machen uns keinen Kopf, wie man das alles schaffen kann. Wir helfen uns gegenseitig, meine Mutter hilft sehr viel. Für mich ist dieses Leben sehr normal.

Aber schaffen Sie es, sich bei Auftritten zu besuchen?
Sacharowa: Natürlich. Gerade war hier in Berlin ein Konzert meines Mannes in der Philharmonie, da sind wir alle hingegangen. Und morgen kommt die Familie in meine Aufführung an der Deutschen Oper.

Kritisieren Sie sich auch mal gegenseitig?
Sacharowa: Nein, nie. Wie sollte ich denn seine Aufführung kritisieren? Wir können manche Nuancen besprechen, aber es geht nicht bis zur Kritik, was mir gefallen, oder nicht gefallen hat. Ich mische mich in seine Arbeit nicht ein, er ist ein Profi, ein großer Musiker. Genauso mischt er sich in meine Arbeit nicht ein. Wir wissen es ja beide selbst, wenn etwas bei einer eigenen Aufführung nicht gut war. Eher ist es umgekehrt, dass wir uns gegenseitig unterstützen und inspirieren.

Stimmt es, dass Sie im Sommer 2010 eine Tournee mit der Begründung absagten, Sie hätten eine Hüftverletzung, wobei Sie in Wahrheit schwanger waren?
Sacharowa: (lacht) Ja, ich habe das so gesagt. Die Situation war, dass wir zu einem Gastspiel in London eingeladen waren. Zu der Zeit, als ich erfuhr, dass wir ein Kind kriegen, habe ich mich physisch nicht gut gefühlt, weshalb ich kurzfristig abgesagt habe. Viele andere Ballerinas tanzen ja noch lange zu Beginn einer Schwangerschaft, aber ich habe mich entschieden, sofort zu pausieren. Der Ballettdirektion des Bolschoi habe ich den wahren Grund erklärt, ich habe sie aber auch darum gebeten, sollte jemand auf der Pressekonferenz nach dem Grund meiner Absage fragen, das mit der Verletzung zu erwähnen. Das ist halt eine sehr persönliche Angelegenheit und ich wollte nicht, dass irgendjemand diese Sache in den Medien ausbreitet.

Spielte auch die Angst eine Rolle, dass die Schwangerschaft Ihre Karriere gefährden könnte?
Sacharowa: Also, es ist heute nicht mehr so etwas Besonderes, wenn eine Ballerina in Mutterschaft geht. Bei früheren Generationen war das noch anders, Maja Plissezkaja und Galina Ulanowa hatten keine Kinder. Da gab es noch ein anderes Verständnis, ich erinnere mich sogar, dass Ulanowa einmal erwähnte, dass ihre Mutter zu ihr sagte: „Wenn du Primaballerina werden willst, darfst du keine Kinder zur Welt bringen.“ Warum man das so gesehen hat, weiß ich nicht. Heute ist das normal, viele meiner Kolleginnen haben schon zwei Kinder.

Wann hat sich dieses Verständnis geändert?
Sacharowa: Weiß ich nicht. Die Welt hat sich insgesamt verändert.

Mit dem Ende der Sowjetunion hat es nichts zu tun?
Sacharowa: Nein, das glaube ich nicht. Heute ist es einfach normal. Natürlich ist es auch ein großes Risiko für eine Ballerina, die für ein Jahr oder sogar mehr die Arbeit und die Karriere liegen lässt, und danach wieder wie bei Null anfängt. Die Muskeln müssen wieder aufgebaut werden usw. die Zeit des körperlichen Wiederaufbaus ist sehr anstrengend.

Wie haben Sie persönlich dieses Risiko empfunden?
Sacharowa: Ich habe daran nicht gedacht. Ich war sehr glücklich, mein erster Gedanke war: Das ist etwas so Besonderes, ein Geschenk. Und ich dachte: Ich bin so müde nach all den Jahren, nun kann ich mich endlich etwas ausruhen.

So lange haben Sie sich aber gar nicht ausgeruht, sechs Monate nach der Geburt waren sie schon wieder auf der Bühne.
Sacharowa: Nein, schon nach drei Monaten. Aber da war es dann insgesamt schon ein Jahr, das ich ausgesetzt hatte, eben weil ich früh in den Schwangerschaftsurlaub gegangen bin. Es gibt Kolleginnen, die noch im vierten oder fünftem Monat auf die Bühne gehen. Ich habe mich nur ausgeruht, und mich dabei sehr wohl gefühlt (lacht). Ich wollte nicht arbeiten. Als Anna dann auf der Welt war, bin ich nach einem Monat wieder im Ballettsaal gewesen, ich war auch schon wieder sehr dünn, nur die Muskeln waren noch schwach. Aber zwei Monate später war ich wieder in Form. Und als Anna drei Monate alt war, bin ich in London schon wieder auf der Bühne gewesen. Die Kolleginnen die mich damals gesehen haben, konnten es gar nicht glauben. Aber ich hatte auch ein Verlangen, auf die Bühne zurückzukehren.

Hat sich für Sie durch die Schwangerschaft denn gedanklich etwas verändert? Sie tanzen ja viele Frauenrollen, die zum Beispiel unglücklich sind…
Sacharowa: Eine Schwangerschaft verändert alles. Das Verhältnis zu anderen Menschen, dein Inneres, die Erkenntnis, die Perspektive auf Dinge. Du schaust mit anderen Augen auf die Dinge, du fühlst anders. Erst dachte ich, das sei nur bei mir so, dann habe ich Interviews mit Schauspielerinnen und Sängerinnen gelesen, mit Frauen, die im künstlerischen Bereich arbeiten – und die auch gesagt haben, dass sich dadurch alles ändert.
Du fühlst dich einfach anders, du achtest weniger auf irgendwelche Kleinigkeiten, die dich früher vielleicht aufgeregt haben, die siehst du dann gar nicht mehr. Du nimmst die Welt anders wahr.

Sie haben mal in einem Interview über die Anstrengungen auf der Bühne gesprochen, dass es nach zehn Aufführungen „die Hölle“ sei und dass man die drei Stunden auf der Bühne „überleben“ muss. Sind diese drei Stunden so eine Last?
Sacharowa: Wissen Sie, eine Aufführung geht ja in etwa drei Stunden. Und in dieser gesamten Zeit muss ich angespannt sein. Die Muskeln und der Körper müssen immer warm, immer bereit sein um springen, sich drehen und tanzen zu können. Das ist immer eine große Anspannung, sowohl physisch als auch emotional. Man muss immer in der Rolle sein, voller Konzentration, den gesamten Körper mobilisieren – deswegen fühle ich mich nach einer Aufführung mehrere Tage sehr schlecht. Und wenn wir eine Tournee haben, mit neun bis zehn Aufführungen pro Monat, mit fünf verschiedenen Inszenierungen, wo man sich jeden Tag umstellen muss, das ist auf jeden Fall eine große Belastung für den Organismus, physisch und emotional.

Was hilft Ihnen in den Tagen danach?
Sacharowa: Nur die Zeit. Da kann man nichts machen. Man braucht ein paar Tage, um wieder in seinen normalen Zustand und zu sich zu kommen. Manchmal hilft sogar das Ausruhen nicht (lacht).

Wenn man nun sagt: Einen Tag geht es mir gut, danach drei Tage schlecht – ist es das trotzdem wert?
Sacharowa: Ja. Das ist eben mein Leben, so hat es sich nun mal ergeben.

Wenn Sie eine berühmte Ballerina des 19. oder 20. Jahrhunderts sein könnten, für wen würden Sie sich entscheiden? Marie Taglioni, Carlotta Grisi oder Fanny Elßler, Tamara Karsawina oder Margot Fonteyn?
Sacharowa: Wissen Sie, das ist eine völlig andere Generation. Die haben ganz anders getanzt und ich denke, man sollte sich nicht an etwas orientieren, was schon so lange zurück liegt sondern sich weiterentwickeln. Man sollte nur daran denken, es interessant zu machen. Ich wollte nie jemandem ähnlich sein, ich suche immer meinen eigenen Stil – ich würde es eher vorziehen, dass andere mir ähnlich sein wollen.(lacht)
Ich hatte nie Idole, auch keine Ballerina, der ich ähnlich sein wollte. Wobei diese Ballerinen viel für die Ballettgeschichte getan haben.Doch das ist die Vergangenheit. Die muss man kennen, die darf man nicht vergessen, aber man muss auch immer nach vorne gucken.

Haben Sie aber zumindest eine Präferenz, für eher das 19. Jahrhunderts oder das 20. Jahrhundert?
Sacharowa: Das ist für mich schwer zu sagen. Wenn ich im 19. Jahrhundert gelebt hätte und wüsste, wie die Menschen sich damals gefühlt haben, dann könnte ich es vielleicht mit heute vergleichen. Für uns Tänzer sind es heute bessere Bedingungen, angefangen beim Material, aus denen die Kostüme gefertigt werden bis hin zum Ballettboden.
Ich liebe klassische Ballette wie sie noch Marius Petipa konzipiert hat. Das ist eine Klassik, die er begründet hat, und die immer interessant ist. Heute tanzen wir sie etwas zeitgenössischer.
Es gibt beim Ballett Elemente, die heute schon etwas veraltet sind, Pantomine zum Beispiel, die verschwindet heute. Aber die Klassik bleibt für mich Klassik, das ist für die Ewigkeit.
Für mich ist es heute auch interessant mit neuen Choreografen zu arbeiten, Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts sind großartige Ballette entstanden. Und das, was wirklich interessant und großartig ist, wird bleiben.

Was ist Ihnen wichtiger, die Tradition zu bewahren oder neues Repertoire zu schaffen?
Sacharowa: Ich habe da keine Priorität. Natürlich ist es mir sehr wichtig, die Tradition zu erhalten, aber hinzu kommt, dass ich schon das gesamte klassische Repertoire getanzt habe, in verschiedenen Fassungen und Interpretationen. Ich will immer, dass man das klassische Repertoire möglichst oft aufführt, aber gleichzeitig ist für mich heute das Moderne interessant, mit jungen, lebenden Choreografen zu arbeiten, so eine Zusammenarbeit ist immer kreativ und interessant.

Ist es beim Ballett also ähnlich wie mit der Klassik, wo bestimmte große Komponisten immer weiter gespielt werden?
Sacharowa: Ja, für die Leute wird es immer interessant sein Tschaikowsky zu hören, das ist für die Leute unentbehrlich, die richtig klassische Musik, Prokofjew und all die alten klassischen Werke. Und gleichzeitig ist es interessant, zeitgenössische Musik zu hören, zu beobachten, was heute ein Komponist oder ein Choreograf denkt, wie er seine Gefühle artikuliert, seine persönliche Welt.

Sie haben in den letzten Jahren zum Beispiel die moderne Choreografie „Revelation“ getanzt.
Sacharowa: Ja, ich hatte das einmal auf einer Gala-Veranstaltung gesehen. Zuerst hörte ich dieses Musikstück aus „Schindlers Liste“ und dann wollte ich wissen, wer dazu tanzt. Und das war die Choreografin selbst, die dieses Stück für sich geschrieben hat. Wir haben sie dann in das Bolschoi Theater eingeladen und sie hat diese Choreografie für mich gemacht.

Wie haben die Zuschauer im Bolschoi reagiert?
Sacharowa: Das Stück wird überall sehr gut aufgenommen, jeder hat dazu seine eigenen Assoziationen. Es gibt ja keinen konkreten Inhalt und ich finde es schön, wenn jeder Zuschauer dazu seine eigene Geschichte im Kopf hat. Selbst ich denke mir für die Aufführungen immer wieder eine neue Geschichte und Stimmung aus, für die Figur, die ich tanze.

Das heißt, für Modernes ist im Bolschoi Theater auch Platz?
Sacharowa: Warum nicht? Es kommt drauf an… Mit Alexei Ratmansky haben wir schon viel im Bolschoi gemacht. Wenn es aber kleine Nummern wie zum Beispiel „Revelation“ sind, dafür finden im Bolschoi sehr selten Ballettabende statt, wo man sie zeigen könnte, im Bolschoi werden hauptsächlich große Ballette aufgeführt. Das heißt, wenn es ein abendfüllendes zeitgenössisches Ballett ist, tanzen wir das im Bolschoi, wenn es nur kleine Nummern sind, dann führen wir das auf Tourneen auf, in Europa und weltweit.

Was schätzen Sie besonders an der Arbeit Ratmanskys?
Sacharowa: Er ist ein sehr musikalischer Choreograf, er ist immer vorbereitet, wenn wir etwas proben. Er weiß immer ganz genau, was er sehen möchte. Er bereitet sich vor und zur Probe ist das Material fertig, einen Schritt zu viel nach rechts oder links duldet er dann nicht. Es wird nur so getanzt, wie er es sagt.
Bei vielen anderen Choreografen ist es so: Du kommst zur Probe und sie wissen noch gar nichts, sie fangen dann erst an, sich etwas auszudenken, abhängig von deinen Möglichkeiten…
Ratmansky, wenn er zur Probe kommt, weiß immer schon genau, was er will.

Was machen Sie, wenn ein Choreograf unvorbereitet ist?
Sacharowa: Das ist der Normalfall, dass der Choreograf erst anfängt, sich etwas auszudenken und zu komponieren sobald die Probe anfängt.

Zitiert

Das Theater sollte immer eine abstrakte Kunst sein, nicht echt und realistisch. Auf der Bühne sollte es immer Schönheit geben.

Swetlana Sacharowa

Denken Sie dann auch häufig Dinge aus?
Sacharowa: Nein, ich mische mich da nie ein. Ich wiederhole nur das, was der Choreograf sehen will.

Haben Sie da gar kein Bedürfnis…
Sacharowa: Nein. Sicher, wenn etwas für mich ungeeignet ist, dann muss ich natürlich dem Choreografen sagen, dass es mir nicht gefällt. Aber das ist selten. Ich will immer verstehen, was der Choreograf sehen will. Deswegen wiederhole ich immer, was er will und halte den Mund. Danach wird man dann schon verstehen, ob es gut oder schlecht ist. Erst einmal muss ich ausführen, was der Choreograf sich ausdenkt.

Nun gibt es zahlreiche Schauspieler, die nach ihrem x-ten Film sagen: Ich will auch mal Regie führen.
Sacharowa: Ich habe dafür leider keine Begabung, ich kann nicht selbst inszenieren. Ich bin Ausführende, keine Choreografin. Ich würde das sehr gerne, aber dafür braucht man ein bestimmtes Talent.

2013 wird Wayne McGregor und wird am Bolschoi Strawinkys „Le sacre du printemps inszenieren. Wird man Sie darin sehen?
Sacharowa: Nein.

Haben Sie „Sacre“ schon mal getanzt?
Sacharowa: Nein, noch nicht. Ich habe von Strawinsky bislang nur „Appolo“ in der Choreographie von Balanchine getanzt.

Aber könnten Sie die unterschiedlichen Qualitäten der Musik Tschaikowskys und Strawinskys für die Bewegung auf der Bühne beschreiben, vergleichen?
Sacharowa: Nein, ich bin ja keine Musikerin. Wie soll ich da Nuancen beschreiben?

Vielleicht es zum Beispiel schwieriger, zu Strawinsky zu tanzen?
Sacharowa: Das weiß ich nicht, das hängt von der Choreografie ab.

Hören Sie Tschaikowsky zuhause?
Sacharowa: Nein, darauf verzichte ich ganz bewusst. Es gibt ja immer so viel Musik überall, auch dadurch dass mein Mann Musiker ist. Sicher, es ist interessant, sich manchmal bestimmte Interpreten anzuhören, aber es ist nicht so, dass bei uns zuhause ständig Musik läuft.

Wenn man in Russland in Theateraufführungen oder Konzerte besucht, fällt auf, dass die auftretenden russischen Künstler und Interpreten im Programmheft immer so ein „Nationalpreisträger“ vorangestellt bekommen…
Sacharowa: Das ist ein Titel, den die Regierung verleiht, das gibt es nur in Russland, nirgendwo anders. Das stammt noch aus der Sowjetzeit und hieß damals „Volkskünstler der Sowjetunion“. Heute heißt es „Volkskünstler der Russischen Föderation“. Das ist aber nur ein Titel, finanziell hat der für uns Künstler keinerlei Auswirkung (lacht). Ich denke ohnehin, die richtigen Künstler sind auch so ‚Volkskünstler‘, wenn die Menschen sie lieben. Dafür ist der Titel nicht notwendig. Aber das ist halt so eine Tradition.

Sie haben mal einen Preis von Putin überreicht bekommen – hat er ein Faible für das Ballett?
Sacharowa: Das müssten Sie ihn selbst fragen. In jedem Fall scheint mir, dass er Interesse an den Künsten hat und sie unterstützt. Wenn er Präsident ist, merkt man das sehr deutlich, man spürt, dass der Staatschef sich für Kunst interessiert und nicht nur für Politik.

Woran merkt man das? Besucht er häufig Aufführungen?
Sacharowa: Nein, so oft nicht. Aber man sieht oft im Fernsehen, dass er bei bestimmten Veranstaltungen ist, die mit der Kunst zu tun haben. Er versammelt Künstler-Persönlichkeiten und unterhält sich mit ihnen, er fragt, welche Probleme es gibt.

Als Sie von 2007 bis 2011 in der Duma saßen, welchen Eindruck hatten Sie da, welche Rolle Kultur in Russland spielt?
Sacharowa: Nicht nur als ich in der Duma saß, sondern immer schon habe ich gemerkt: Wenn es um Finanzierung geht, wird am wenigsten an die Kultur gedacht. Aber, wenn dann irgendein Feiertag kommt, wenn irgendwelche wichtigen Gäste ins Bolschoi kommen, sollen sie auf jeden Fall sie etwas Großes, Schönes sehen – in dem Moment erinnern sich die Leute dann an die Rolle der Kultur.
Aber ansonsten gibt es nur wenig Hilfe, besonders außerhalb der beiden Großstädte. In Moskau und St.Petersburg geht es mehr oder weniger, das weiß man. Aber wenn man etwas weiter rausfährt, wird es fürchterlich. In den kleinen Städten gibt es sehr wenig Geld, und es hängt viel vom jeweiligen Bürgermeister oder Gouverneur ab: interessiert er sich für Kultur oder nicht. Und wenn nicht, ist die Situation für die Künstler sehr schlecht. Alles hängt von der Person ab, die die Stadt oder die Region regiert.

Haben Sie darauf Einfluss nehmen können, als Mitglied der Duma?
Sacharowa: Nein. Ich wollte das, aber ich konnte es nicht. Eine einzige Person kann da nichts ausrichten, das habe ich in der Zeit gelernt.

Können Sie ein Beispiel nennen, woran Sie gescheitert sind?
Sacharowa: Nein. Es gibt viele Dinge, die ich gemacht habe, die auch dem ein oder anderem geholfen haben. Aber das war nicht einfach.

Und deshalb haben Sie das Mandat aufgegeben?
Sacharowa: Nicht deswegen, sondern ich will mich heute vollständig dem Tanz widmen.

Sie haben aber mal erwähnt, dass Sie nach Ihrer Ballett-Karriere vielleicht Politiker werden wollen.
Sacharowa: Wissen Sie, die Welt ändert sich. Das habe ich vielleicht vor zehn Jahren gesagt, weil ich mich dafür interessiert habe. Aber nachdem ich es kennen gelernt habe interessiert es mich heute nicht mehr so sehr. Die Kunst kommt für mich heute zuerst. Andererseits weiß man auch nicht, was die Zukunft bringt. Ich würde es jedenfalls vorziehen, wenn meine Zukunft mit der Kunst zu tun hat.

Gibt es denn ausreichend künstlerische Freiheit in Russland?
Sacharowa: Es gibt so viel Freiheit, dass ich manchmal den Eindruck habe, dass man sie ein bisschen im Zaum halten muss.

Sie meinen verringern?
Sacharowa: Ja, es gibt in Russland manchmal zu viel Freiheit in der Kunst. Ich kann Ihnen jetzt kein Beispiel nennen, aber ich sehe hin und wieder Premieren, bestimmte Inszenierungen, wo ich weiß: So etwas hätte man früher nicht akzeptiert, das hätte man nie auf der Bühne zeigen dürfen. Ich meine Dinge, die man sich vielleicht besser alleine zuhause anschaut, wenn es einen interessiert. Aber das geschieht nicht nur in Russland, vor allem in Europa ist es grauenvoll, was da zum Teil vor sich geht. Wenn in der Kunst, wenn auf der Bühne irgendsoein Exzess veranstaltet wird, das ist nicht nach meinem Geschmack. Auf der Bühne sollte es immer Schönheit geben. Und wenn so seltsame Inszenierungen zum Beispiel realistisch eine Vergewaltigung zeigen – dann kann ich das nicht verstehen. Es interessiert mich nicht.

Man merkt das, wenn man sich in Russland mit der älteren Generation unterhält, die Auffassung von der Kunst als Präsentation von Schönheit ist da weit verbreitet…
Sacharowa: Ich kann Ihnen auch erklären warum: Die Leute kommen ins Theater um sich zu erholen. Denn im Leben, auf der Welt gibt es so viel Gewalt, so viel Negatives und Probleme. Und wenn der Zuschauer ins Theater kommt, dann bin ich der Auffassung, dass er daran nicht denken soll. Er soll sich ausruhen, etwas Schönes sehen und mit einer positiven Stimmung rausgehen. Aber wenn sich auf der Bühne all das Negative fortsetzt, das Morden, die Gewalt…

Wobei ein Mord in Theaterstücken nichts Ungewöhnliches ist.
Sacharowa: Natürlich stirbt mal eine Figur, aber es ist die Frage: Wie zeigt man das? Und da denke ich, wird es heute oft viel zu echt dargestellt. Das Theater sollte immer eine abstrakte Kunst sein, nicht echt und realistisch ‚Bum-Bum‘. Im Kino von mir aus, du besorgst dir eine DVD und guckst dir an, was du willst. Aber das Theater sollte das Gute vermitteln, etwas Schönes, damit der Zuschauer nicht mit gesenktem Kopf sondern in guter Verfassung aus dem Theater kommt. Das ist zumindest meine Meinung, und deswegen sage ich, dass es im Moment zu viel künstlerische Freiheit gibt.

Als Madonna im Sommer 2012 in St.Petersburg auftrat, schrieb sie sich die Botschaft „Habt keine Angst“ (Don’t fear) auf den Rücken, gerichtet an das Publikum. Können Sie verstehen, warum?
Sacharowa: Nein.

Madonna steht zum Beispiel der Schwulen-Szene sehr nahe und wollte sie bei ihrem Konzert unterstützen…
Sacharowa: Ich habe gehört, dass sie jetzt deswegen in St.Petersburg angeklagt wird (lacht)

Richtig. In Europa steht man dem Thema Homosexualität ja etwas anders gegenüber.
Sachorawa: In Europa verhält man sich generell zu vielen Dingen anders. Diese ganze Kultur ist ja vor allem aus Europa zu uns gekommen. Zum Beispiel der Realismus, der auf der Bühne stattfindet.

Kann der denn im Bolschoi stattfinden?
Sacharowa: Das weiß ich nicht, Repertoire-Politik ist nicht meine Angelegenheit. Es gibt neue Operninszenierungen, die Skandale hervorrufen, worüber dann jeder spricht, auch im Bolschoi. Weil das aus Europa kommt. Wir sehen, was auf europäischen Bühnen gezeigt wird und so kommt das alles auch zu uns, nur etwas später. Es gibt das auch bei uns.
Ich will mich in die Repertoire-Politik nicht einmischen. Ich sage Ihnen nur meine persönliche Meinung dazu. Und ich als Zuschauerin möchte auf der Bühne Schönheit sehen, und keine Vergewaltigung. Aber wenn es eine Nachfrage danach gibt, wenn Leute das sehen wollen, dann wird es auch ein Angebot geben. Mir gefällt es nicht, deswegen gehe ich nicht in solche Aufführungen. Sie haben mich gefragt, ich habe geantwortet, aber nur für mich und für niemand anders.

Sie haben jetzt vom schlechten Einfluss Europas gesprochen – was gefällt Ihnen an Europa?
Sacharawa: Ich mag in Europa die Ordnung. Du kennst genau deine Rechte und die existierenden Gesetze funktionieren. Das ist für das Leben natürlich angenehm, alles ist klar und logisch. Es gibt viel was mir in Europa gefällt, wie die Leute miteinander kommunizieren und arbeiten, da ist alles klar, genau und eindeutig geregelt.

Ist die in Russland verbreitete Homophobie unter Tänzern ein Gesprächsthema?
Sacharowa: Entschuldigen Sie, aber über das Thema möchte ich nicht sprechen.

Sie werden in diesen Tagen im Westen vermutlich häufig auf Pussy Riot angesprochen.
Sacharowa: Nein, bisher hat mich danach niemand gefragt. Und Ihr Magazin heißt doch „tanz“, warum fragen Sie mich nach Dingen, mit denen ich mich nicht beschäftigen möchte?

Nun, Sie saßen in der Duma, Sie sind eine junge Mutter und die beiden inhaftierten Musikerinnen haben Kinder im Alter von vier und fünf Jahren. Was denken Sie darüber, dass diese Mütter für zwei Jahre in ein Straflager müssen?
Sacharowa: Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Ihrem Land Künstler einfach so in eine Kirche gehen können, und dort das machen, was Pussy Riot getan haben.

Man wird sie hierzulande zumindest nicht in ein Straflager stecken.
Sacharowa: Das wissen Sie nicht, weil es das in Ihrem Land noch nicht gegeben hat. Und wenn das in einem islamischen Land passiert wäre, dann wissen Sie, was man dort mit diesen Frauen gemacht hätte.

Das hat Medwedew so formuliert.
Sacharowa: Das sagt nicht nur Medwedew, das sagen alle und das verstehen alle. Ich will dieses Thema nicht erörtern, aber mich als religiöse orthodoxe Christin hat das auch beleidigt. Abgesehen von der Frage, ob man sie vielleicht zu hart behandelt hat, muss ich sagen: In unserer Religion wird mit so etwas sehr mild umgegangen, milder als zum Beispiel im Islam. Wenn das in einem muslimisch geprägten Land geschehen wäre, vielleicht noch an irgendeinem religiösen Feiertag, dann wäre nicht auszudenken, was mit diesen Frauen passiert wäre und wo sie jetzt wären.

Abschließend: Wir werden Sie in der Politik also nicht wieder sehen?
Sacharowa: In naher Zukunft nicht. Ich weiß es aber nicht, es kann sich immer etwas ändern, meine Haltung dazu kann sich ändern, vielleicht lerne ich bestimmte Leute kennen, wodurch sich meine Meinung ändert… Heute weiß ich, dass ich tanzen will, und das noch möglichst lange. Was danach kommt, weiß nur der liebe Gott .

Das Interview entstand im Oktober 2012 für die Zeitschrift „tanz“ und erscheint hier in ausführlicher Fassung.

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