Herr Bode, gerade hat Ihre Organisation Foodwatch wieder den „Goldenen Windbeutel“ verliehen. Sind bei den Nominierten eigentlich auch Produkte dabei, die Sie persönlich aus dem Supermarkt gefischt haben?
Bode: Es kommt schon manchmal vor, dass ich im Supermarkt vor einem Regal stehe und mir ein Produkt komisch vorkommt. Das bringe ich dann mit ins Büro – doch meistens haben meine Mitarbeiter das dann schon längst entdeckt. Wir bekommen auch viele Vorschläge für den „Goldenen Windbeutel“ von Verbrauchern zugeschickt.
Sie verleihen den Negativ-Preis für die „dreisteste Werbelüge“. Wo liegen für Sie die Ursachen für die Verbrauchertäuschung?
Bode: Der Anreiz zum Täuschen ist sehr groß, weil die Gesetze uns Verbraucher nicht ausreichend schützen und Sie als Verbraucher die Qualität eines Produktes nicht selber erfassen können. Sie können zum Beispiel ein Öko-Ei nicht von einem herkömmlichen unterscheiden. Und bei verarbeiteten Lebensmitteln wissen Sie noch weniger. Deshalb muss Transparenz von außen per Gesetz hergestellt werden. Doch der Verbraucher kann es am Ende nicht überprüfen. Lebensmittel sind ein sogenanntes „Vertrauensgut“ – deshalb muss der Gesetzgeber uns vor diesen Werbelügen schützen – denn noch sind sie legal.
Und hinter der Schummelei steckt rein finanzielles Kalkül der Hersteller?
Bode: Ja. Aber man könnte die Gesetze auch so gestalten, dass gar kein Anreiz besteht, zu schummeln. Nehmen wir den Pferdefleischskandal: Der Einzelhandel hat die Lasagne verkauft und konnte sich später darauf berufen, dass er nichts gewusst hat. Weil es für ihn keine gesetzliche Pflicht gibt, den Inhalt seiner Eigenmarken zu prüfen. Da ist die Gesetzeslücke ganz offensichtlich. Es ist bewusste, vom Staat geduldete Verbrauchertäuschung.
Ist in Anbetracht dessen der „mündige Verbraucher“ eine Illusion?
Bode: Dieser Begriff ist politisch umkämpft. Der „mündige Verbraucher“ ist das Leitbild des Verbrauchers in der EU und beruht auf der Rechtsprechung des EuGH: Die besagt, dass der Verbraucher bestimmte Pflichten hat, sich zu informieren. Er ist nicht mehr das schutzlose Wesen, sondern er hat eine Eigenverantwortung. Gestritten wird aber darüber, wie viel und welche Informationen der Verbraucher braucht.
Wir bei Foodwatch sind der Meinung, dass der Verbraucher ausreichend Informationen bekommen muss, um die Qualität von Produkten unterscheiden und sich schützen zu können. Die Industrie sagt natürlich: Es stehen doch alle Zutaten drauf. Aber nicht mal das stimmt in vielen Fällen.
Das Chlorhühnchen ist eine große Nebelkerze.
Ein Instrument wäre die Lebensmittelampel gewesen, die in Deutschland aber am Widerstand der Politik gescheitert ist.
Bode: Die Zustimmung der Bevölkerung für die Ampel war sehr groß. Doch da sind besonders diejenigen Lebensmittelkonzerne dagegen, die viel mit Fett, Zucker und Salz arbeiten und mit verarbeiteten Lebensmitteln viel verdienen. Wenn die Ampel kommen würde, ginge es wirklich ums Eingemachte. Da steht dann die ganze Industrie der verarbeiteten Lebensmittel auf dem Prüfstand. Alles, was als Geschmacksstoff in Frage kommt – zu viel Fett, Salz oder Zucker – würde dann wahrscheinlich reduziert werden.
Sie erwähnen die Zustimmung durch die Bevölkerung. Aber lässt man sich nicht als Verbraucher gerne mal über den zu hohen Zucker- oder Fettgehalt hinwegtäuschen?
Bode: Einige lassen sich gerne täuschen, andere nicht – das ist aber irrelevant. Das Lebensmittelrecht hat den Auftrag, die Leute vor Täuschung zu schützen, und das bedeutet gleichzeitig, ihre Gesundheit zu schützen.
Wer sich täuschen lassen will, der kann natürlich kaufen was er will, die Ampel spricht ja keine Verbote aus. Doch die Argumentation ‚Verbraucher wollen betrogen werden finde ich abseitig. Die meisten Menschen wollen nicht betrogen werden. Sonst hätten wir nicht die 80 Prozent Zustimmung für die Ampel.
Treffen Verbraucher bessere Kaufentscheidungen wenn Lebensmittel transparenter gekennzeichnet sind?
Bode: Ja, was die Ampel anbelangt, gibt es in England Untersuchungen von der FSA (Food Standards Agency), die signifikant belegen, dass die transparente Kennzeichnung wirkt. Da hat sich bei den Verbrauchern eine Änderung des Kaufverhaltens ergeben und auch die Hersteller haben Dinge geändert. Die Verbraucherentscheidungen werden auf einer transparenteren Basis gefällt, man kann rationaler entscheiden und wird nicht in die Irre geführt. Erst wenn man vollumfassend transparent informiert wird, sind „mündige“ Entscheidungen überhaupt möglich.
Führen Sie den Kampf gegen die großen Konzerne hauptsächlich über die Medien, oder gibt es auch direkte Gespräche mit Wirtschaftsvertretern bzw. Lobbyisten?
Bode: Wir reden schon mit denen. Aber die haben auch ihre eigenen Interessen. Niemand von denen wird sich freiwillig ändern, wenn er dadurch einen Nachteil hat. Einzelne Konzerne sind in der Regel gesprächsbereiter als die Verbände, manche Firmen kommen auch auf uns zu, die wollen ja auch wissen, was los ist. Wir versuchen sie dann zu überzeugen, sich selber für gesetzliche Änderungen einzusetzen, doch das ist schwer, schließlich sind die ja in ihren Verbänden drin.
Im privaten Gespräch erfahren Sie von Lebensmittel-Managern aber schon hin und wieder, dass die auch nicht gut finden, was zum Beispiel legalen Etikettenschwindel oder Nährwertkennzeichnung anbelangt. Abends, nach dem dritten Rotweinglas, weinen die Ihnen etwas vor und sagen: Ich will auch nicht, dass unsere Kinder dick werden.
Sie setzen sich bei Foodwatch auch mit dem Freihandelsabkommen TTIP auseinander. Wovon gehen dort Ihrer Meinung nach die größten Gefahren aus?
Bode: Wir sehen die Gefahr weniger darin, dass jetzt das Chlorhühnchen kommt oder das Hormonfleisch, sondern darin, dass durch das Abkommen möglicherweise verhindert wird, dass die Standards in der Lebensmittelherstellung verbessert werden. Angenommen, die EU möchte eines Tages die Nahrungsmittelampel einführen, dann könnten im Abkommen festgelegte Transparenzstandards zum Problem werden, amerikanische Konzerne könnten dann die Europäische Kommission vor einem Schiedsgericht verklagen. Wir befürchten also, dass verhindert wird, dass sich die Standards verbessern. Die Politik sagt zwar immer, unsere Standards sind sehr gut, und sie werden nicht gesenkt – aber wir sind der Meinung, dass sie eben nicht so gut sind.
Wie schätzen Sie die deutsche bzw. die europäische Verhandlungsseite ein?
Bode: Das Problem ist, dass wir keine zuverlässigen Informationen über die Verhandlungspositionen haben, die werden ja nicht öffentlich gemacht. Wir wissen allerdings, dass im Verhandlungsmandat für die Kommission der Grundsatz des „Vorsorgeprinzips“ aufgeweicht worden ist. Die Gefahr, dass dort etwas schiefgeht ist sehr, sehr groß. Auch wenn man akzeptiert, dass Konzerne Staaten vor privaten Schiedsgerichten verklagen können, bedroht das die Unabhängigkeit unserer Demokratie. Das Abkommen ist ein großangelegter Versuch, zukünftige Regulierungen zu verhindern – darin sehen wir die eigentliche Gefahr.
Wie kam es dazu, dass insbesondere die „Chlorhühnchen“ zu einem Schlagwort in der Debatte wurden? Laut Bundesinstitut für Risikobewertung sind diese ja gesundheitlich unbedenklich.
Bode: Es geht nicht um das Chlorhühnchen! Das ist eine große Nebelkerze, die gerne von Befürwortern des Abkommens verwendet wird. Die Politik hat das geschickt aufgegriffen, in dem sie sagt: Das Chlorhühnchen wird nicht kommen. Sie will damit sagen: Unsere Standards werden nicht abgesenkt. Der politische Trick ist, eine Nicht-Verschlechterung als Erfolg zu verkaufen, um Verbesserungen in der Zukunft zu vermeiden. Und da fallen die meisten drauf rein.
In Ihren Büchern wird die USA häufig als Negativbeispiel aufgeführt, gerade was den Konsum von Zucker anbelangt. Befürchten Sie hierzulande eine Amerikanisierung, also, dass noch mehr Zucker in den deutschen Produkten landet?
Bode: Nein, das glaube ich nicht. Aber es wird, wenn das Abkommen zustande kommt, für die Politik schwieriger, vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, etwa gegen die Zunahme von Diabetes bei Kindern. Es wird dann schwieriger, die Lebensmittelindustrie einzugrenzen und zu regulieren, das geht von transparenter Kennzeichnung zum Beispiel über den Einsatz von Gentechnik bis hin zu Werbeverboten für Kinder usw.
Wie sähe nach einem TTIP-Abschluss das Worst-case-Szenario im Supermarkt aus?
Bode: Das Worst-case-Szenario wäre, dass es dabei bleibt, dass sich die Verhältnisse betreffend Transparenz und Gesundheit im Supermarkt weiter verschlechtern.
Sie engangieren sich seit vielen Jahren für Umwelt- und Verbraucherschutz. Wurde Ihnen schon mal ein politisches Amt angetragen?
Bode: Nur von Seiten der Medien. Es gibt vor Wahlen ja oft Spekulationen über Kabinette, da wurde ich schon mal als Minister für Verbraucherschutz nominiert.
Und das wäre nichts für Sie?
Bode: Nein. Zum einen läuft eine politische Karriere in Deutschland ja immer über eine Parteikarriere. Zum anderen glaube ich, dass ich mit meiner Arbeit bei Foodwatch mehr tun kann für die Veränderung der Verhältnisse. Das geht nur sehr langsam, aber wir können doch verschiedene Dinge anschieben.
Als Politiker hat man den Nachteil, dass man Kompromisse machen muss, man muss auf seine Partei achten, auf die Interessengruppen, auf Ministerkollegen – das ist ein richtig mühsames Geschäft. Wir reden ja auch mit Politikern und sehen, in welchem engen Netz die arbeiten müssen und wie wenig Spielraum die haben.
Ist es nach wie vor Ihre Überzeugung, dass die Generalüberholung der Demokratie nur von außen und nicht von innen möglich ist?
Bode: Das glaube ich ganz bestimmt, das kann nur durch Druck von außen kommen. Die Parlamentarier beispielsweise beschneiden nicht selber ihre Rechte, was die Nebeneinkünfte anbelangt. Von selbst hätten Sie das nicht offengelegt, da war die Kritik von außen entscheidend.
Ich glaube generell, dass man sich nicht durch Erkenntnis ändert, sondern durch Ereignisse und Druck von außen.
Gehen Sie auf Demonstrationen?
Bode: Ich gehe auf meine eigenen. Wir gehören ja zu denen, die Druck machen.
Haben Sie bei Ihrer früheren Tätigkeit als Chef von Greenpeace mehr Zeit am Schreibtisch oder draußen verbracht?
Bode: Die meiste Zeit war ich im Büro beschäftigt, das ist bei Foodwatch genauso. Allerdings komme ich hier mehr zum fachlichen Arbeiten, das ist immer der Vorteil einer kleinen Organisation.
Wie erleben Sie als Kampagnenmacher den Wandel der Medien?
Bode: Da hat sich sehr vieles grundlegend geändert. Die Techniken, der Umgang mit den Journalisten… Es ist heute sehr schwer, Inhalte zu vermitteln, die etwas komplexer sind. Das hängt auch damit zusammen, dass die Medienvertreter unter einem extremen Produktionsdruck stehen und sich nicht in die Themen durch Recherche einarbeiten können. Oft wird nur noch wiedergegeben, was die einzelnen sagen, ohne dass man es prüft oder sich zu einer Beurteilung durchringt. Es ist sehr schnelllebig geworden und je seriöser Sie arbeiten, desto schwieriger wird es, Gehör zu finden.
Doch wenn Sie den „Goldenen Windbeutel“ verleihen haben Sie stets die Aufmerksamkeit der Medien.
Bode: Der Windbeutel hat einen hohen symbolischen Wert: Das Produkt wird zurückgebracht zur Firma, „return to sender“. Für die Firmen ist es sehr unangenehm, damit in der Öffentlichkeit zu stehen. Wir wissen, dass einige Firmen richtig nervös sind, bevor die Nominierungen veröffentlicht werden.
Und es hat auch eine politische Wirkung: Die Plattform „Klarheit und Wahrheit“ (lebensmittelklarheit.de) der Bundesregierung ist entstanden, es gibt eine Reform der Lebensmittelbuch-Kommission, die diese absurden Produktbezeichnungen beschließt – da haben wir mit dem Windbeutel politisch etwas in die Wege geleitet.
Greenpeace-Aktivisten ketten sich bei Protestaktionen an – würde solch eine Aktion zu Foodwatch passen?
Bode: Das große Missverständnis ist, dass Anketten automatisch eine interessante Aktion ist. Und wo sollten wir uns anketten? An einem Supermarkt? – Das zieht nicht.
Es ist wichtig, Aktionen zu machen die etwas aussagen, die Aktion selber muss eine Botschaft sein. Nur wenn das Anketten auch symbolisch einen starken Wert hat, macht es Sinn.
Ist Ihnen die Radikalität aus Greenpeace-Zeiten denn ein Stückweit geblieben?
Bode: Das kann ich schlecht beantworten. Das Entscheidende ist doch: Regt man sich über Sachen auf? Und ich kann mich nach wie vor über Sachen aufregen. Für die Lebensmittelampel hatten wir eine Zustimmung von 80 Prozent, trotzdem wurde sie nicht eingeführt. Das regt mich auf und beschäftigt mich. Wie kann man diese scheinbare Verbrauchermacht umsetzen, auch in politisches Handeln? Da suchen wir jeden Tag nach irgendwelchen Mitteln.
Paul Watson, Ex-Greenpeace-Mitglied und Gründer der „Sea Shepherd Conservation Society“ erklärte uns, dass eine aufsehenerregende Kampagne auch auf das Medieninteresse an Skandalen und Prominenz reagieren müsste, weshalb er zum Beispiel Bo Derek für eine Aktion engagierte. Wie weit würden Sie für den Erfolg einer Kampagne gehen?
Bode: Die Frage kann man nicht generell beantworten. Sie müssen immer den Mittelweg finden, zwischen öffentlicher Aufmerksamkeit, Seriosität und Show. Wenn Sie dafür nicht das richtige Gefühl haben, kann eine Kampagne sehr schnell nach hinten losgehen. Und Sie müssen jedes Mal neu überlegen. Wenn es mit einem Promi-Koch oder einem Schauspieler einmal gut gegangen ist, kann es beim nächsten Mal schon in die Hose gehen.
Rein opportunistisch gesehen versuchen wir natürlich, so viel Wirkung wie möglich zu erzielen, aber das wird teuer erkauft, wenn wir dabei unsere Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzten. Eine große Effekthascherei nützt ihnen nichts, wenn sie dadurch nur einen kurzfristigen Erfolg erzielen.
Paul Watson sagte außerdem in unserem Gespräch: „Du musst auch bluffen wenn du klein bist, denn wir sind klein im Vergleich zu denen, gegen die wir kämpfen.“
Bode: Wenn Sie generell als kleine Organisation gegen relativ mächtige Wirtschaftsgruppen antreten, haben sie natürlich Mittel und Wege, die anders sind als die der großen. Sie versuchen, mit List, Intelligenz und Witz die eigenen Nachteile auszugleichen. Dazu kann natürlich auch gehören, dass Sie den Gegner mal in die Irre führen – wenn Sie es gut machen, kann das auch ein Lacher werden. Ich denke, da ist nichts Besonderes dabei, das würde jeder machen. Schließlich können Sie nicht davon ausgehen, dass Sie so viel Einfluss und Macht haben wie ein großer Industrieverband.
Wäre es für Sie nochmal möglich, falsche oder erhöhte Analyseergebnisse zu verbreiten, wenn es dem guten Zweck dienlich ist?
Bode: Es ist absolut ausgeschlossen für uns, mit falschen Tatsachen zu arbeiten. Wenn wir als Foodwatch falsche Analyseergebnisse publizieren würden – selbst wenn man damit vielleicht kurzfristig etwas erreichen kann – scheint mir das völlig abwegig, denn dann hätten wir das größte Glaubwürdigkeitsdilemma, das man sich überhaupt vorstellen kann. Die Leute erwarten von uns zurecht, dass sie von uns wahre Informationen bekommen und uns trauen können.
Eine Schlussfrage: Wo bewahren Sie das Bundesverdienstkreuz auf, das Sie 2001 verliehen bekommen haben?
Bode: In einer Glasvitrine im Wohnzimmer. Es liegt auf einem blauen Kissen und die Vitrine steht mitten im Zimmer, ich gehe jeden Tag daran vorbei und freue mich. – Das war jetzt ein Bluff.
Ich habe mich über die Verleihung tatsächlich sehr gefreut, denn es war eine Wertschätzung für eine Tätigkeit, die nicht immer unumstritten war. Da hat es mich gefreut, dass der deutsche Staat sich dazu durchgerungen hat. Und um Ihre Frage zu beantworten: Das Kreuz liegt in einer Schachtel in meiner Schreibtischschublade.