Herr Brussig, Sie wurden hier in Sydney als "ostdeutscher Autor aus Ostberlin" vorgestellt. Empfinden Sie es als Stigmatisierung, immer und überall der Ost-Autor zu sein, oder ist es ein sinnvolles Attribut?
Naja, wie bezeichne ich mich denn selber? Ich bezeichne mich als deutschen Autor mit ostdeutscher Herkunft. Insofern ist diese Beschreibung, dass ich in Ostberlin geboren bin, eine Präzisierung und das ist ja nicht verkehrt, solange ich zu deutschen gegenwärtigen Themen gefragt werde und übrigens glaube ich, das wird nie enden, der Wunsch, jemanden in eine Schublade zu stecken oder ihm ein Etikett zu verpassen, der ist einfach stärker oder beharrlicher als alles, was ich dagegen tun könnte und deshalb leiste ich da auch keinen Widerstand.
Also ist es auch in Ordnung. Bei einem Autor aus Hamburg, z. B. würde man diese Spezifizierung ja nicht vornehmen. Er wäre ein Autor aus Deutschland und nicht aus Westdeutschland.
Ja, das ist wahr. Immerhin habe ich es selbst in der Hand, wie ich schreibe. Es gibt aber auch typisch westdeutsche Bücher, die nur in Westdeutschland spielen und die können nur von westdeutschen Autoren geschrieben worden sein. Die würden "westdeutsch" auch nicht als Beleidigung empfinden. Gerade weil der Osten, was seine Deutung angeht, so umkämpft ist, sticht er auch heraus. "Ostdeutsch" wird immer als etwas Gestriges, Zurückgebliebenes verwendet.
Auch Vergangenes?
Das Buch, mit dem ich hier in Sydney bin, ist ja auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Fühlen sie sich geehrt, als der Repräsentant der deutschen Gegenwartsliteratur hierher nach Sydney eingeladen worden zu sein, sind Sie für eine gesamtdeutsche junge Autorengeneration hier?
Ich habe mich gefreut über die Einladung und es ist natürlich eine Ehre, an diesem Festival teilzunehmen. Und da muss man jetzt gar nicht nur von den Deutschen reden, aus Europa sind da tatsächlich nicht viele. Man kann auch sagen, es schmeichelt meiner Eitelkeit. Aber ich habe mich hier ja die ganze Zeit über nicht staatstragend aufgeführt. Ich weiß, dass es hier um mehr geht als dass ich das erste Mal in Australien bin und auch nicht nur um mich, sondern auch um die Wahrnehmung der deutschen Literatur. Insofern bin ich stellvertretend für andere hier bin, die das auch nicht schlechter könnten.
Sehen Sie sich hier in erster Linie als Deutscher oder als Europäer im Verhältnis zu Australien?
Schon eher als Deutscher, denn Europäer sind ja kaum dabei, abgesehen von den Engländern und Iren. Nein, es ist ja noch nicht mal so, dass man eine europäische, nicht Englisch sprachige Fraktion ausmachen könnte, deshalb wohl als Deutscher. Und wie oft ich auf Günther Grass oder Bernhard Schlink hier angesprochen wurde und eben nicht auf andere europäische Autoren.
Waren es immer Grass oder Schlink, auf die man Sie angesprochen hat, oder war man auch an jüngeren deutschen Autoren interessiert?
Ja, es gab auch andere. Aber von den Jüngeren hatte man hier noch nichts gehört, glaube ich. Bei meiner Lesung habe ich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich viel getan hat in den letzten zehn Jahren und es interessant ist, da mal hin zu sehen.
Aber das Goethe Institut war auch eher an Günther Grass oder Ihnen interessiert und nicht am literarischen Nachwuchs.
Das Festival wollte natürlich Günther Grass, aber der konnte oder wollte nicht, weil es ja auch eine lange und strapaziöse Reise ist. Und da hat man sich beim Goethe Institut Gedanken gemacht, wer könnte das denn noch machen und da ist man dann auf mich gekommen.
Wie gefällt Ihnen Australien, die Mentalität, die Kultur der Australier? Sie haben zwar nur einen knappen Eindruck in der kurzen Zeit bekommen, aber genau der interessiert mich.
Ich hätte nicht gedacht, dass Australien so schön und so anmutig ist. Ich hatte ein schroffes Land erwartet, aber nicht damit gerechnet, so schöne, sanfte und anheimelnde Gegenden vorzufinden. Die Australier finde ich sehr, sehr freundlich. Ja, Freundlichkeit ist das, was mir dazu einfällt und dann gibt es hier ein sehr gutes Essen, das hätte ich jetzt auch nicht so erwartet. Ich habe noch nie so gutes Fleisch gegessen wie hier in Australien. Aber interessant ist vor allem, dass Deutschland immer von "multikulturell" spricht, aber für Australien war es der Gründungsgedanke, eine Zuwanderungsnation zu sein. Dieses Land besteht aus Zuwanderern und ihren Nachkommen und ich glaube wirklich, dass Australien ein Zukunftsmodell ist. Als ich in Melbourne ankam, gab es am zweiten Tag eine Parade zum 100. Jahrestag der Federation und da waren alle Volksgruppen vertreten und jeder konnte sich mit seiner Zugehörigkeit einreihen. Es gab 100 Abteilungen für 100 Jahre. Kroaten, Schwule, Krankenschwestern und Hip Hop Typen und alle haben bei der Parade mitge-macht, jeder hatte so seine Sektion, das war ein schönes Bild. Diese Vielfalt und das Nebeneinander bestehen können und sich so auch gelten lassen können, das hat mir gut gefallen. Ich habe auch überlegt, wann wird Jugoslawien oder Serbien soweit sein, dass es so eine Parade geben wird. Das wird bestimmt noch vierzig oder fünfzig Jahre dauern.
Waren bei der Parade auch Aborigines vertreten?
Ja, natürlich.
Könnten Sie sich vorstellen, von Ihren Erfahrungen und Erlebnissen hier etwas in ihre nächsten Texte eingehen zu lassen? Fühlen Sie sich zu neuen Stoffen und Themen inspiriert?
Es ist insofern inspirierend, als dass die familiären Konstellationen, die durch die Zuwanderung entstehen, ein unglaubliches Reservoir bilden. Die Leute, die in vierter oder fünfter Generation der z.B. aus England Eingewanderten und noch immer von England als "home" reden: das ist interessant. Ich habe einen Deutschen kennen gelernt, der ist seit zwölf Jahren hier, der konnte sich jahrelang nicht entscheiden, ob er Australier oder Deutscher sein will, und der kann sich jetzt für seine Söhne schon nicht mehr vorstellen, dass die zurück nach Deutschland gehen. Er ist durch die Söhne Australier geworden. Das finde ich spannend, da ist eine echte Fundgrube. Durch die Zuwanderung gibt es soviel Bewegung, die immer wieder aufgefrischt wird, das ist eine ganz eigene Welt und eigene Atmosphäre. Ich habe jetzt zwar keine konkreten Pläne, aber das finde ich inspirierend.
Nur ein kleiner Exkurs. Man kann hier in Australien von keiner "Leitkultur" sprechen, wie man das ja gerade gern in Deutschland macht. Es gibt zwar die englischen Traditionen, die auch noch in vielfältiger Weise zu finden sind, aber es ist eine multikulturelle Gesellschaft, in der sich so viele Kulturen gleichzeitig ausbreiten. Was meinen Sie dazu?
Ich glaube, das hat auch damit zu tun, dass es so etwas hier gar nicht gegeben hat. Die einzige Leitkultur, die es mal gab, ist die der Aborigines und die ist gewaltsam zerstört worden. Danach hat es keine ausgeprägte Dominanz gegeben und deshalb muss sich hier auch keiner angegriffen fühlen. Also der Ruf nach der deutschen Leitkultur entsteht ja erst da, wo sie in Frage gestellt wird. Hier ist eine ganz andere Atmosphäre, es ist eine modernere Gesellschft und die hat auch Zukunft. Und die Leute werden es in Deutschland auch lesen und Deutschland immer noch für das Größte halten, aber es gibt auch andere schöne Länder als Deutschland, in die es sich lohnt, auszuwandern.
Haben Sie selbst schon mal mit dem Gedanken gespielt, auszuwandern?
Also, den Auswanderungsgedanken hatte ich noch nicht, aber ich kann mir gut vorstellen, in einem wärmeren Land zu überwintern, denn Berlin ist da ziemlich ungemütlich oder ich kann mir auch vorstellen, dass ich eine Zeit lang woanders hingehe, weil ich es da interessant finde und weil ich was sehen will von der Welt und Neues erleben will. Aber das ist mir auch aufgefallen, dass viele, obwohl es ihnen in Australien besser gefällt und sie hier leben, sie doch immer sagen, dass sie ihre Heimat vermissen. Das waren Inder, Deutsche, Schotten.
Ja, das ist ja auch fern ab von der Welt hier. Rein geografisch gesehen. Aber dazu komme ich später noch.
Und das ist jetzt etwas, was ich nicht verstehe, es ist fern ab von der Welt und warum bitte sehr, gibt es keinen australischen Journalisten, der sich für mich interessierte? Ich meine nicht für das deutsche "Separatisten-Programm". Diesbezüglich habe ich sie auch nicht verstanden, da habe ich Australien anders wahrgenommen, als es mir geschildert wurde. Man hat mir erzählt, die leben alle an der Küste und halten immer Ausschau nach dem nächsten Schiff, das in den Hafen einfährt und was es wohl mitbringt von der Welt. Das wäre in Deutschland bestimmt nicht passiert, wenn ein ausländischer Autor kommt, dass man dem so mit Desinteresse begegnen würde.
Fühlen Sie sich da wenig wahrgenommen?
Ja, von der Presse her ist das echt enttäuschend.
Haben Sie schon an anderen internationalen Literatur-Festivals teilgenommen?
Nein, das habe ich in der Form noch nicht erlebt. Ich habe Buchmessen -auch außerhalb Deutschlands- besucht. Aber an so ein richtiges Lese-Festival, das über den Rahmen einer Lesung hinaus ging, kann ich mich nicht erinnern.
Sind Sie daran interessiert, einen australischen Verlag zu finden oder ist das nicht mehr nötig? Haben Sie eigentlich außer einem englischen auch einen amerikanischen Verlag?
Ja, es gibt auch einen amerikanischen. Es ist eine Frage des Vertriebs und der englische Verlag hat den Weltvertrieb und der amerikanische darf nur USA und Kanada beliefern.
Welchen Eindruck haben Sie vom "Writers‘ Festival"? Ist es international, kosmopolitisch, weltoffen, oder ist es trotz seiner europäischen und amerikanischen Gäste ein rein australisches Event?
Der Großteil der Autoren ist australisch und auch die Wahrnehmung ist sehr auf sie ausgerichtet, aber die australischen Autoren sind ja selbst viel in der Welt unterwegs und schreiben wohl am wenigsten über Australien, insofern ist das thematisch keine australische Nabelschau. Aber die australischen Autoren stehen schon im Mittelpunkt, ohne dass Australien in ihren Werken zentral ist. Ich habe z.B. eine australische Autorin kennen gelernt, die in Schottland lebt, Meaghan Delahunt, die über Trotzkis letzten Lebensjahre in den 40er Jahren in Mexiko geschrieben hat.
Wie bekannt ist Ihnen die australische Literatur, vor allem die zeitgenössische? Haben Sie sich damit vorher schon mal befasst?
Nein, überhaupt nicht. Es hat in den 70er Jahren mal einen australischen Literatur-Nobelpreisträger gegeben, wissen Sie, wie der heißt?
Hm, war das nicht Thomas Keneally, der über Schindlers Liste geschrieben hat? (Anm. Schoppe: Es war Patrick White, der 1973 den Nobelpreis erhalten hat.)
Ach, der ist Australier? Ich war überzeugt, das wäre ein amerikanischer Autor. Das ist ja was sehr Schönes, dass die australische Literatur so in einem Weltkanon aufgehen kann. Die Frage ist aber, ist es dann noch australische Literatur, wenn man sie als solche nicht mehr erkennt? Sie ist eigentlich nicht präsent, zumindest nicht in Deutschland, ich wüßte keinen einzigen Autor. Da gibt es die Songlines, Traumpfade von Bruce Chatwin, der war aber kein Australier, der war Brite, und schreibt nur über Australien.
Gab es Gelegenheiten, sich mit anderen Autoren auszutauschen?
Ja, die hat es gegeben. Ich war nur zeitlich ein wenig begrenzt. Aber es hat Kontakte gegeben und ich fand es wirklich interessant, dass die australischen Autoren, anders als viele deutsche, in der Lage sind zu sagen, woran sie arbeiten oder wovon ihr Buch handelt. In Deutschland tut man immer so, als hätte man gerade den Zauberberg ausgeworfen oder arbeitet dran und tut immer so cool. Ich war aber auch sehr damit beschäftigt, meine eigenen Dinge zu erledigen und wollte auch was von Sydney sehen, so dass nicht viel Zeit blieb.
Also hat es Sie auch nicht so interessiert?
Nein, das kann ich so nicht sagen. Ich wollte gestern auch zu anderen Veranstaltungen gehen, war aber selbst sehr eingespannt, dass das leider nicht möglich war. Ich habe auch zwei Tage in Varuna, in diesem "Writers house" in den Blue Mountains in der Nähe von Sydney zugebracht und da habe ich auch ein paar Autoren kennen gelernt und es war auch mal ein bißchen mehr Zeit, sich darauf einzulassen.
Sind Sie da auf einen Autor gestoßen, den Sie sehr schätzen und mit dessen Werk Sie sich gern befassen würden?
Ehrlich gesagt, nein, aber das hat auch mit der Vielfalt an Angeboten zu tun. Ich will aber nicht ausschließen, dass hier viel Interessantes passiert, das bestimmt ins Deutsche übersetzt wird.
Das ist bisher aber kaum vorgekommen.
Moment mal, vielleicht wissen wir das nur nicht. Ich bin mir sicher, dass das passieren wird. Das Trotzki-Buch von Meaghan Delahunt, das ist ja nicht nur Trotzki, sondern auch Frida Kahlo, das wird bestimmt ins Deutsche übersetzt. Aber das ist nicht das, was man von australischer Literatur erwartet.
Was waren denn Ihre Erwartungen an die australische Literatur?
Ich habe erwartet, dass ich die australische Spezifik stärker erlebe. Ich könnte jetzt auch ganz platt sagen, ich habe einfach mehr Kängeruhs erwartet. Diese familiären Konstellationen, von denen ich am Anfang gesprochen habe, dass die mit einer Selbstverständlichkeit hingenommen werden, dass die in der erzählerischen Konstellation eine Rolle spielen, habe ich nicht ein einziges Mal gehört, jedenfalls nicht so, dass es mir ins Auge gesprungen wäre, das hat mich überrascht. Also, das Zerfließen von Australien in die Welt, das habe ich so nicht erwartet, und das würde ich wahrscheinlich auch anders machen. Ich würde niemals ein ortloser Schriftsteller werden wollen. Das war auch meine erste Frage an Meaghan, warum sie ihren Debut-Roman über so etwas schreibt? Sie hatte einen plausiblen Grund, sie war mal Trotzkistin.
Ist das ein Grund, warum Sie in Berlin leben, damit Sie eher an den Menschen dran sind, über die Sie schreiben? Müssen sie am Ort des Geschehens sein?
Weshalb ich in Berlin lebe, hat andere Gründe, z.B. den, dass es meine Heimatstadt ist. Und dass Berlin bei mir immer wieder vorkommt, liegt einfach daran, dass ich mich da auskenne. Und Meaghan kennt sich im Mexiko der 40er Jahren bestimmt nicht aus, und trotzdem schreibt sie darüber, das finde ich erstaunlich.
Ist das ein australischer Trend? Die Tatsache, dass die australischen Autoren über alles, aber nicht über Australien schreiben, dass ihre Texte sich thematisch in die ganze Welt streuen?
Dazu kenne ich mich zu wenig aus, aber mir ist das einfach aufgefallen. Ich habe auch in Varuna mal einige Autoren gefragt, woran sie gerade arbeiten. Da war einer, der schrieb ein Buch über eine Figur, die über 100 Jahre alt ist, also eine echte literarische Erfindung, die kannte alle großen Autoren des vergangenen Jahrhunderts wie Joyce, Kafka, Brecht und Hemingway. Die Figur ist immer der erste Leser oder die erste Leserin ihrer Manuskripte. Kein australisches Thema. Dann die "Trotzki Geschichte" – kein australisches Thema. Eine andere Autorin schrieb ein Buch, das in einem Arbeitslager in Indonesien spielt, weil ihr Vater wohl dort gewesen war, aber ich hatte das Gefühl, das sollte auch keine Familien-Saga werden. Der einzige australische Stoff, von dem ich gehört habe, der sollte ein Unterhaltungsroman werden, ein Krimi, der hier in Sydney an der Küste spielt. Ich kann mich nicht hinstellen und die Trends ausrufen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass die Autoren das aus Langeweile schreiben. In Deutschland entstehen viele Bücher aus Langeweile, das scheint mir hier anders zu sein, nur bei dem Buch über die großen Schriftsteller des 20. Jahrhundert, das klingt so nach Protz und "Ich kenne sie alle!" Und dann hatte er sie noch nicht mal wirklich gelesen.
Meinen Sie, dass es so etwas wie nationale Trends gibt, dass es immer wieder Themen gibt, über die man sich speziell in Deutschland äußert oder in Australien, können Sie so etwas festmachen? Oder gibt es die gar nicht, weil jeder Autor seinen eigenen Horizont hat?
Die Frage ist, welche Gemeinschaften entstehen. Man kann von einer deutschen Gemeinschaft sprechen, dann wird es auch deutsche Themen oder deutsche Romane geben. Man kann aber auch über die Gemeinschaft der Menschen sprechen, die sich nach einer Romanze sehnen, dann redet man über den Liebesroman, nicht über einen deutschen, französischen oder schwedischen Roman, sondern über einen Liebesroman, genauso wie von einem Künstlerroman.
Oder sind es mittlerweile globale Trends? Egal, wo auf der Welt, in der westlichen Welt zumindest, beschäftigen sich Autoren mit ähnlichen Themen, die zeitbedingt oder zeitabhängig sind.
Ja, das ganz sicher. Es gibt schon Bücher, von denen alle sagen, das musst Du gelesen haben. Wie Elementarteilchen. Das ist ein wichtiges Buch, das in Deutschland gerade in der Diskussion ist und auch in Frankreich war. Gut, die Rezensenten haben es gelesen und besprochen, aber es ist noch nichts an dessen Stelle getreten, was den nächsten Trend einleitet. Die Frage ist aber auch, sind es thematische Trends oder literarische. Der wichtigste Trend in Deutschland – den gibt es seit ein paar Jahren und der hält noch immer an – ist die Rückbesinnung und die Orientierung aufs Publikum. Das Interesse, eine große und rege Leserschaft zu haben.
Mein Eindruck ist, dass sich die australischen Autoren zurzeit vorwiegend mit Themen wie "Identität" und "Entwurzelung" und dergleichen beschäftigen. Und das sind ja auch Ihre Themen, oder? Die Identitätslosigkeit der Ostdeutschen nach der Wende und das daraus resultierende Gefühl der Entwurzelung, das bei vielen eingesetzt hat.
Ja, vor allem in meinem Theaterstück, der Heimsuchung.
Könnten Sie sich vorstellen, dass ein australischer Regisseur Ihr Theaterstück Heimsuchung nimmt und auf die Verhältnisse zwischen Aborigines und dem modernen Australien überträgt?
Ja, absolut. Er kann es auch so nehmen wie es ist, das wird vom Publikum schon verstanden werden. Das Thema ist Entwurzelung und das Gefühl, dass das Gerechtigkeitsempfinden Schaden genommen hat und all diese Dinge, das sind schon globale Empfindungen. Nur hier sind sie an einen konkreten Ort gelegt. Ich fände es sogar gar nicht gut, wenn der Regisseur es überträgt, das wird sich von ganz alleine mit inszenieren lassen.
Vor ein paar Jahren ist hier in Sydney Heiner Müllers Theaterstück Der Auftrag von einem aboriginen Regisseur, namens Mudrooroo, umgestaltet und inszeniert worden und von Aborigines gespielt. Könnten Sie sich das vorstellen? Gefiele Ihnen das, oder hätte das nichts mehr mit Ihrer Intention zu tun, wäre das zu weit weg von Ihren Ideen?
Nein, gar nicht. Im Gegenteil. Es würde mich sogar sehr interessieren. Es wäre spannend zu sehen, wie die Auseinandersetzung wäre. Mein Theaterstück wurde in Deutschland einmal gespielt und dann nicht wieder, weil ich gesagt habe, ich kann es in Deutschland nicht inszenieren lassen. Niemand befasst sich in Deutschland noch mit einem Stück. Es wird Theater gemacht, das sich nicht für Texte interessiert, sondern ein oberflächliches und Effekte erhaschendes Theater ist. Dafür habe ich das Stück nicht geschrieben. Wenn sich aber jemand inhaltlich damit auseinander setzt und diese Zustände auch bei Menschen erforschen will, die genauso fühlen und in einer ähnlichen Lage sind, auch trotz anderer äußerer Verhältnisse, dann interessiert mich das sehr.
Ihr Theaterstück hat mir gut gefallen, weil da die Absurdität der Dinge noch vielmehr zum Ausdruck kommt als vorher in den Romanen, es ist viel konzentrierter und atmospärischer. Es hat mich fast an Becketts Warten auf Godot erinnert.
Wirklich?
Ja. Das Stück beginnt ein wenig langsam, aber dann wird es so dicht und so absurd. Das hat mir gut gefallen.
Mir geht es eher anders. Die beiden letzten Szenen, die beiden Bilder, wo es plötzlich so aktionistisch wird, da hatte ich so meine Schwierigkeit. Die Leute so auf Augenhöhe zu beobachten, das ist so eine Sache, das sind ja keine Bühnenfiguren, das sind ja richtige Menschen.
Groteske, Satire, das Absurde: Sind das ihre Stilmittel?
Ja, das liegt mir und ich habe ein Gefühl dafür. Es macht Spass, diese Stilmittel in die Hand zu nehmen und damit zu spielen, aber genauso klar ist für mich auch, dass ich mich entwickeln will, dass ich im Rahmen meiner Mittel flexibler werde, dass ich nach neuen und weiteren Mitteln greifen werde. Ich kann mir nicht vorstellen, ein Buch zu schreiben, das an ein anderes von mir erinnert. Ich möchte zwar, dass man mich immer wieder erkennt, das schon, aber man soll nie das Gefühl haben, dass ich ein Buch schon mal geschrieben habe. Verstehen Sie sich als politischer Autor?
In dem Sinne, dass ich mich für die Zeit und die Welt interessiere. Wenn man den Begriff der "Zeitgenossenschaft" wörtlich nimmt, bin ich politisch.
Aber als Zeitgenosse schreiben Sie dann doch eher retrospektiv und nicht über aktuelle Themen?
Natürlich schreibe ich über aktuelle Themen, auch wenn es nicht so wirkt. Am kürzeren Ende der Sonnenallee ist ein DDR-Erinnerungsbuch. Es geht ums Erinnern, wie es heute stattfindet und Irritationen auslöst. Wie die DDR bewertet wird, das ist ein heutiges, übrigens sehr umkämpftes Thema. Und mit Heimsuchung bin ich doch nun wirklich auf der Höhe der Zeit, das ist doch eine aktuelle Konfliktlage. Als ich das Stück geschrieben habe, kam diese Strafanzeige der Berliner Hilfsorganisation "Help" gegen Leander Haußmann, wegen Beleidigung der Maueropfer. Genau darum geht es in diesem Stück. Keiner interessiert sich heute für die Opfer, und die bleiben sitzen auf ihren schlimmen Erfahrungen, schmoren im eigenen Saft und lassen keine Möglichkeit aus, sich unmöglich zu machen – sofern sie beschlossen haben, sich als "Opfer" zu definieren.
Hat sich das denn erledigt, wurde die Anzeige zurückgezogen?
Es hat eine Diskussion gegeben und "Help" hat errreicht, was sie wollten, nämlich dass über die Lage der Opfer gesprochen wird. Dann haben sie die Anzeige zurückgezogen.
In Ihrem Roman Helden wie wir heißt es am Anfang: "Das Ende der Geschichte […] das Ende der Moderne" ist erreicht.
Ja, am Anfang ironisiert er das. Anfang der 90er Jahre hat man sich doch in der Benennung des zu Ende Gegangenen fast überschlagen und es war immer wieder die Rede vom Ende der Moderne. Es war ein französischer Soziologe, der das "Ende der Moderne" ausgerufen hat. Das "Ende der Geschichte" hatte ein amerikanischer Historiker japanischer Abstammung ausgerufen, und das "Ende des kurzen 20. Jahrhunderts" ein amerikanischer Historiker.
Das habe ich ausnahmsweise ernst genommen. Wie sieht denn der historische Prozess der Moderne aus? Ich habe den Eindruck, Sie wollen politische Verhältnisse immer wieder ad absurdum führen und zeigen, dass es eigentlich keine Ordnung und keine Logik gibt, die man darin erkennen könnte?
Ich glaube auch, dass das das Wesen unserer Epoche ist, es geht weiter und wir wissen nur nicht, wohin. Man spricht über die Globalisierung, wie die Wirtschaft jetzt anfängt, die Politik zu bestimmen, aber auch da gibt es so starke Gegenbewegungen, dass man nicht sagen kann, diese Bewegung kommt später an ihr Ziel oder anders an ihr Ziel, anders als wir es geglaubt hätten. In Deutschland hat diese Diskussion um das Essen angefangen und ich finde es so wichtig, dass man sich überlegt, was auf den Teller soll. Das wird dazu führen, dass die Landwirtschaft komplett umgestaltet wird und sie in zwanzig Jahren nicht mehr mit der heutigen vergleichbar ist. Sie wird viel kleinteiliger sein. Diese Riesenbetriebe gehören der Vergangenheit an und das hätte vor drei Jahren keiner geglaubt.
Irgendwo in einem Interview haben Sie mal gesagt: "Die Welt ist so eingerichtet, dass sich letztlich alles ins Gerechte fügt." Sind Sie religiös oder ist das schicksalsgläubig?
Das ist einfach meine Überzeugung.
Verfassen Sie eigentlich auch lyrische Texte?
Nein, ganz am Anfang habe ich das mal versucht, es dann aber bald gelassen.
In welchem Genre fühlen sie sich am ehesten zu Hause, sind sie ein Romancier?
Ja, in erster Linie verstehe ich mich wohl als Romancier, weil ich das wohl auch am besten kann. Da weiß ich einigermaßen, wie ich da rangehen muß.
Welche Autoren zählen zu Ihren literarischen Vorbildern? In welcher literarischen Tradition fühlen Sie sich beheimatet?
Mein Vorbild ist eindeutig Erich Kästner. Bei Kästner habe ich begriffen, daß "moralisch sein" und "unterhaltend sein" in einem symbiotischen Verhältnis stehen. Ansonsten bin ich wohl von den amerikanischen jüdischen Autoren des 20. Jahrhunderts beeinflusst, wie Joseph Heller, J. D. Salinger, Philip Roth, aber auch von John Irving.
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