Thomas Wüppesahl

Wir brauchen wieder nachdenkliche Köpfe bei der Polizei.

Prozesse gegen brutale Polizisten werden in den meisten Fällen eingestellt oder enden mit Freisprüchen. Der Gründer der "Kritischen Polizisten" Thomas Wüppesahl spricht im Interview über Korpsgeist, Polizeigewalt, die schwierige Position der Opfer vor Gericht, aufgeweichte Gewaltenteilung und den laufenden Wasserwerfer-Prozess in Stuttgart.

Thomas Wüppesahl

© Wolfgang Rüter

Herr Wüppesahl, in welchem Bundesland ist die Polizei Ihrer Ansicht nach vorbildlich?
Wüppesahl: Es gibt, sagen wir mal, „positive Auffälligkeiten“ in Berlin-Brandenburg. Ansonsten können Sie aus beinahe allen anderen Bundesländern eigentlich Land unter melden: von Hamburg bis nach Bayern.

Die Berliner Polizei war lange als prügelfreudig verschrien. Was hat sich geändert?
Wüppesahl: Dort gibt es mittlerweile Professoren an den Polizeischulen, die selber im bürgerrechtlichen Spektrum aktiv sind. Und entsprechend sehen die Lehrinhalte aus – und zwar in Schlüsselfächern. Allerdings ändert sich mit dem Innensenator der CDU und einem neuen Hardliner als Polizeipräsidenten Einiges zum Schlechteren.

Warum sehen Sie bundesweit bei der Polizei „Land unter“?
Wüppesahl: Die Lehre fällt leider nur noch selten auf fruchtbaren Boden, weil die für Polizisten entscheidende Prägung nicht in den Seminarräumen, sondern in der Praxis stattfindet. Die Praktiker definieren also, wie Polizei geht. Das jedenfalls geht aus vielen Berichten hervor, die junge Polizisten im Anschluss an Studiensemester an den Fachhochschulen der Polizei an Wachen und Kommissariaten abgegeben haben. Dort wird den Neulingen dann ganz klar gesagt: Was du an der Schule gelernt hast, das vergiss‘ mal schön. Das, was wir machen, ist die richtige Polizei.

Was müsste sich hier ändern?
Wüppesahl: Wir brauchen wieder nachdenkliche Köpfe bei der Polizei. Leute, die in der Lage sind, selbstständig zu denken, gesellschaftspolitische Reflektion mit fachlicher Kompetenz verbinden und damit fähig, Orientierung im Sinne des Wertemodells unseres Grundgesetzes zu geben und selbst nach diesem Wertemodell dienstlich zu leben. Dazu sind aber Leute in den Ministerien nötig, die diese Führungsqualitäten auch schätzen. In den 1970er- bis 1990er Jahren gab es das.

Was war damals anders?
Wüppesahl: Da gab es kritische Köpfe unter den Polizisten und das war von der Politik auch gewollt. Die Politiker hatten damals die Schnauze voll von den Skandalen, die die Polizei produziert hat, weil sie das Ganze dann öffentlich ausbaden mussten.

Und diese Köpfe gibt es heute nicht mehr?
Wüppesahl: Weniger. Bei manchen Einsätzen hat das zu Reibungen geführt, weil die Polizei auf Befehl und Gehorsam ausgelegt ist und Leute, die sich dem nicht vollends unterworfen haben, Probleme machten. Deshalb war dann irgendwann selbst aus SPD-Ministermündern zu hören: Wir wollen wieder richtige Polizisten!

Zitiert

Derjenige, der sich gegen Polizeigewalt rechtlich wehren wollte, sitzt plötzlich auf der Anklagebank.

Thomas Wüppesahl

Welche Veränderungen braucht es Ihrer Ansicht nach noch?
Wüppesahl: In Berlin beispielsweise müssen Polizisten mittlerweile eine Nummer tragen. Das hilft bei der Aufklärung von Straftaten durch Polizisten und müsste in allen Bundesländern der Fall sein. Noch besser wäre eine Kennzeichnung mit vollem Namen.

Die Polizisten wären dadurch weniger geschützt.
Wüppesahl: Das ist doch völlig hohl. Das sind doch Märchen, dass ein verurteilter Krimineller nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis sagt: Den schnapp‘ ich mir jetzt, weil der mich damals geschnappt hat. Im Wesentlichen spiegelt das die jammernde Polizei-Lyrik wider. Richter und Staatsanwälte treten auch alle mit Klarnamen auf. Und Rachegedanken richten sich, wenn überhaupt, gegen Richter. Aber diese Fälle sind die Ausnahme.

Neben einer Kennzeichnungspflicht existieren auch Beschwerdestellen.
Wüppesahl: Einrichtungen, bei denen sich unter anderem Polizisten über andere Polizisten beschweren können, ohne in Verruf zu geraten, ja. Und auch Bürger, die sich als Opfer von tatsächlicher vermeintlicher Polizeigewalt, polizeilichen Übergriffen sehen. Aber diese Stellen müssen viel professioneller sein. Und nicht so, wie hier in Hamburg, eine Laienspielertruppe mit drei ehrenamtlichen Mitarbeitern, damals unter Rot-Grün. Das ist doch lächerlich. Die müssten stattdessen materiell, rechtlich und personell so ausgestattet sein wie andere Dienststellen auch. Und dann müsste noch sichergestellt werden, dass die auch ordentlich und unabhängig arbeiten.

Was würde sich durch die von Ihnen geforderten Dinge idealerweise ändern?
Wüppesahl: Nehmen sie das krasse Beispiel aus Hamburg vom 21. Dezember des vergangenen Jahres…

Bei der Demonstration rund um das linke Kulturzentrum „Rote Flora“ und gegen Immobilienspekulationen, Gentrifizierung und den Umgang der Stadt mit Flüchtlingen aus Lampedusa kam es zu Ausschreitungen.
Wüppesahl: Da wurden zehn Beamte mit Schutzausrüstung bis zu einhundert Meter tief in den Demonstrationszug gejagt, die dann wild um sich prügelten. So etwas würde es dann nicht mehr geben. Sondern die Beamten würden im Gegenteil die Bürger bei der Ausübung ihrer Rechte schützen. Das machen sie zwar heutzutage auch schon manchmal. Aber leider meist nur bei Demos von so ein paar Hundert Rechten oder den klassischen so genannten „Latschdemos“ von Schülern. Wenn hingegen Tausende Linke auf der Straße stehen, dürfen die, wie in Hamburg, nicht mal loslaufen und eine Demonstration wird ad hoc zu einer Kundgebung kastriert und partiell zur Gewalttätigkeit animiert.

Das klingt, als wäre die Eskalation mit Absicht geschehen.
Wüppesahl: Ich habe das doch gesehen, ich war ja bei der Demonstration dabei. Ferner kenne ich Berichte von unseren Mitgliedern, die eingesetzt waren und assoziierten Kolleginnen. Und außerdem: Ich kenn‘ doch das Einsatzgeschäft. Die wollten die Demonstranten zur Gewalt provozieren.

Wie denn?
Wüppesahl: Da braucht doch nur ein Beamter in Zivil irgendwo im Demonstrationszug stehen und per Funk durchgeben „Beamter in Gefahr“ oder so. Was meinen Sie, was dann beim Rest der Einsatzkräfte los ist: Projektion zu 100 Prozent. So eskaliert man eine Demo, beispielhaft.

Wer sollte daran welches Interesse haben?
Wüppesahl: Damit wird dann suggeriert, dass die Sicherheit und Ordnung in der Stadt in Gefahr ist. Da werden dann mal eben 3.000 Beamte eingesetzt wegen ein paar Linken vor der „Roten Flora“. Und im Anschluss gibt es 10 Millionen aus dem speziellen Haushaltsetat des Bürgermeisters für die entsprechenden Dienststellen, damit sich so etwas nicht wiederholt. Da hat man ja jetzt auch einen guten Grund für, das Geld dorthin zu geben.

Und es fehlt woanders?
Wüppesahl: Es wird eben nicht dafür genutzt, die dreißig Leute, die bei der Hamburger Polizei für den Bereich  Wirtschaftskriminalität zuständig sind, zu unterstützen oder fortzubilden. Dabei ist Hamburg ein Wirtschaftsstandort, in dem auch der graue Kapitalmarkt boomt. In anderen Bundesländern ist das nicht anders. Da fehlt es auch an Personal an ganz bestimmten Stellen, wo kriminalpolizeilich gesehen die Musik spielt. Und das, was es gibt… eine kriminologische Grunderkenntnis besagt: „Die Polizei kriegt nur die Dummen“! Und wissen Sie, wo laut Studien zufolge die schlechtesten Vernehmungen der deutschen Polizei stattfinden? Bei der Wirtschaftskriminalität. Weil der Beamte, der die Vernehmungen macht – selten sind es zwei – den Wirtschaftsjuristen oder Steuerfachanwälten, die die Beschuldigten dabei haben, rettungslos unterlegen ist.
So wird mit der Kraftmeierei bei solchen Versammlungseinsätzen auch von den großen Defiziten unserer Polizeien abgelenkt. Nicht nur durch die Polizei selbst.

Das sind schwere Vorwürfe gegen die Polizei und auch gegen die Politik. Kann es nicht sein, dass es manche Polizisten angesichts hunderter Vermummter aus der linken Szene, die provokante Parolen skandieren, einfach mit der Angst zu tun bekommen?
Wüppesahl: Sicher. Aber: Ein Polizist ist für solche Situationen ausgebildet. Er muss sich zurückhalten können, das gehört eigentlich zu seiner psychischen Grundausstattung. Es gibt im Gegenteil ein ganz anderes emotionales Moment in solchen Situationen, und das lautet: Enthemmung. Und die wird, neben gelegentlich gezielt stattfindender Stimmungsmache, auch durch die Panzerung ausgelöst, in der solche Einsatztruppen bei Demonstrationen stecken, der sogenannten Schutzausstattung. Den so ausgestatteten Polizeikräften macht Gegenwehr dadurch kaum etwas aus. Das zeigt auch die Anzahl verletzt gemeldeter Personen von 168 zu über 500 und – vor allem – anhand des Schweregrads der Verletzungen. Hinzu kommt Folgendes: es macht rechtsstaatlich einen kaum beschreibbaren Unterschied, ob ein Polizeibeamter, der hoheitlich agiert, oder ob ein Zivilbürger unrechtmäßige Gewalt ausüben!

Was halten Sie davon, wenn der bayerische Innenminister Joachim Herrmann sagt „Wir brauchen einen guten Teamgeist in der Polizei, keinen falschen Korpsgeist.“?
Wüppesahl: Das ist eine Art Sonntagsrede, die er gehalten hat, weil in Bayern in den vergangenen Jahren einige Fälle hochgekocht sind. Weil die Süddeutsche Zeitung seit circa drei Jahren endlich mal detailliert über Einzelfälle berichtet. Über Fälle, in denen die Opfer von Polizeigewalt auch beschwerdemächtig sind und die auch öffentliche Empörung auslösen, so dass die übliche Gegenpropaganda aus Polizei und Justiz nicht verfängt.
Was er als „falschen Korpsgeist“ bezeichnet ist eigentlich kriminell und gehört tagtäglich durch Polizeibeamte angezeigt: Wenn ein Polizist einen Kollegen deckt, der Mist gemacht hat, zum Beispiel rechtswidrige Handlungen wie Übergriffe und dergleichen.

Wie läuft so etwas ab?
Wüppesahl: Oft wird Geschädigten, die sich juristisch wehren wollen, bereits von ihren Anwälten davon abgeraten. Weil von der Gegenseite sofort eine Strafanzeige wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt folgt, wegen Körperverletzung gegen Beamte und weiterer passender Tatbestände. Außerdem tauchen dann plötzlich so drei bis zehn Polizisten auf, die das Ganze bezeugen können – selbst dann, wenn der Vorfall vorher gar nicht aktenkundig war. Die erinnern sich dann plötzlich alle flott und präzise, während sich in zur Anklage gekommenen Verfahren gegen Polizeibeamte regelmäßig herausstellt, dass der eine gerade woanders hingeguckt hatte, der Zweite partout nichts hörte oder der Dritte sich schlicht nicht erinnern kann.

Aber zunächst geht es doch um die Anzeige des Geschädigten, oder?
Wüppesahl: Entgegen der üblichen Regelung in der Sachbearbeitung wird die Gegenanzeige nicht zurückgestellt, sondern vorrangig behandelt. Das heißt, dann findet dieses Verfahren zuerst statt und derjenige, der sich gegen Polizeigewalt rechtlich wehren wollte, sitzt plötzlich auf der Anklagebank oder kann sich gerade noch vor ihr retten, indem sein Anwalt dealt.

Dennoch werden Polizisten manchmal verurteilt.
Wüppesahl: Ja, wenn ein Staatsanwalt nicht mehr anders kann als eine Anklage zu erheben. Das ist erst der Fall, wenn schon über ein Dutzend Verfahren gegen einen Polizisten liefen oder eine spektakuläre Einzeltat vorliegt. Über 98 Prozent der gegen Polizeibeamte geführten Verfahren hingegen werden eingestellt und nicht unabhängig untersucht. Die Antworten auf schriftliche Anfragen durch Abgeordnete verschiedener Parteien an die Landtage der meisten Bundesländer belegen das. Die Beamten kommen dann mit breiter Brust von der Vernehmung bei der Staatsanwaltschaft oder der Polizeidienststelle zurück und sagen sich und den Kollegen: „Denen habe ich’s gezeigt.“ So sieht die Realität aus. Und wenn am Ende doch mal Anklage erhoben und ein Polizist verurteilt wird, dann gibt es in der Regel nur eine Bewährungsstrafe von unter zwölf Monaten.

Weshalb?
Wüppesahl: Weil ansonsten der Beamtenstatus der Polizisten gefährdet wäre. Deshalb gibt es nur in seltenen Fällen höhere Strafen – also bei Fällen, die so krass sind, dass die Strafe ganz klar über einem Jahr liegen muss. Wie etwa bei dem Journalisten Oliver Neß …

einem WDR-Journalisten, der 1994 bei einer Demonstration in Hamburg verprügelt wurde und einen doppelten Bänderriss im Sprunggelenk erlitt.
Wüppesahl: Die Systematik, die in diesem Fall angewandt wurde – trotz großer Aufmerksamkeit, etwa durch den „Spiegel“ und „amnesty international“ – ist leider einschlägig: Bedauerlicherweise enthielt das Urteil vom Hamburger Landesgericht einen Formfehler. Das Urteil ging dann in Revision vor den Bundesgerichtshof, dann aber gleich wieder zurück – eben wegen des Formfehlers – und musste neu verhandelt werden. Das passierte mehrfach. Als dann endlich ein Gericht nach sechs bis acht Jahren sagte „Wir halten das Verhalten der Polizisten in diesem Fall nach wie vor für problematisch“, musste es laut der europäischen Menschenrechtskonvention fünfzig Prozent vom möglichen Strafmaß herunternehmen. Weil so viel Zeit zwischen Tat und Urteilsspruch vergangen war. Im Fall Neß sprach der Bundesgerichtshof die Beamten dann schließlich sogar frei. Das war nur noch grotesk.

© Martin Bühler

© Martin Bühler

Könnte dergleichen auch ein Versehen sein?
Wüppesahl: Nein. Dafür passieren diese Formfehler bei Polizistenprozessen viel zu häufig. Die Richter wissen in solchen Fällen genau: Wir können hier nicht unter ein Jahr Bewährung aussprechen – bei der Handlung! Also müssen wir dem zum Beispiel drei Jahre geben. Aber wir können ja einen Formfehler im Urteil haben. Da vergisst vielleicht mal jemand zu unterschreiben – und bumms! wird das Urteil von einer Revisionsinstanz wie dem BGH aufgehoben und es geht von vorne los.

Was erwarten Sie aktuell vom „Wasserwerfer-Prozess“ in Stuttgart, in dessen Rahmen zwei Polizisten wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt angeklagt sind?
Wüppesahl: Ein ausgeprägtes Herumgeeiere der Justiz, also der Staatsanwaltschaft in Stuttgart und des Landgerichts. Ebenso ein Abtauchen, Wegtauchen und Tricksen der angeklagten Einsatzabschnittsführer. Schließlich ein, sagen wir mal, bemerkenswertes Aussageverhalten der anderen Polizeibeamten, die in den Zeugenstand gerufen werden.
Schon die Tatsache, dass lediglich die beiden Beamten des höheren Dienstes angeklagt werden und auch erst nach so unfassbar langer Ermittlungszeit, ist eine Verhöhnung der Opfer und ein weiterer Beleg dafür, dass es eine Gleichheit vor dem Gesetz nicht gibt.

Wie könnte der Prozess ausgehen?
Wüppesahl: Der Prozess wird anders ausgehen als vergleichbare Fälle, in denen die Angeklagten freigesprochen wurden. Der Grund dafür ist, dass die mediale Aufmerksamkeit für den Prozess vergleichsweise groß ist. Ich vermute aber, dass es vergleichsweise harmlose Sanktionen der Richter gegen die angeklagten Polizisten geben wird.
Eines ist klar: Hätten Bürger dieselben Handlungen an Polizeibeamten ausgeübt, wäre sofort eine Sonderkommissionen eingerichtet worden und es hätte Ermittlungen wegen Mordes oder versuchten Mordes gegeben.

Nun waren Sie selber lange Polizist und wurden als solcher zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Wüppesahl: Ja. Ins Gefängnis kommen eben nur schlechte Polizisten, also Typen wie ich.

Wie meinen Sie das?
Wüppesahl: Ich meine Polizisten, die ihre Arbeit richtig machen, sich also an Recht und Gesetz halten und auch ihre Ermessensspielräume nicht ausnutzen, um darunter klug verpackte Willkürentscheidungen zu tarnen. Ein „Guter“ ist unter den Kollegen derjenige, der alles mitmacht, also auch Übergriffe mit deckt. Die „Schlechten“ werden dann eben ausgegrenzt, verurteilt und dann auch – trotz anderslautender Zusicherungen – in den allgemeinen Regelvollzug verlegt. Da geht’s einem dann dreckig als Bulle. Denn im Knast bleibt man der Bulle, auch wenn man seinen beruflichen Status formalrechtlich längst los ist, da wird man dann behandelt wie ein Kinderschänder. So jedenfalls war es bei mir und ich bin da sicher kein Einzelfall.

Sie wurden damals wegen eines geplanten, aber nicht ausgeführten Raubüberfalls verurteilt. Ein Kollege, über den Sie für diesen Zweck eine Waffe organisieren wollten, hat die Pläne preisgegeben.
Wüppesahl: Ja. Ich war damals schon aufgefallen und ahnte, dass man mich in eine Falle locken wollte. Deshalb habe ich zum Schein mitgespielt, um diese Falle zu enttarnen. Das hat nicht geklappt, weil die Polizei und die Staatsanwaltschaft bestehende Vorschriften missachteten, auch gesetzliche. Also durfte ich meine Strafe absitzen. Wobei: verurteilt wurde ich wegen „ernsthafter“ Vorbereitung von Mord und Raub. Selbst in der völlig missgünstig geschriebenen Urteilsbegründung kommt deutlich zum Ausdruck, dass ich weit vor dem Versuchsstadium steckenblieb. Ich gehe bis heute davon aus, dass ich im Kern wegen meines bürgerrechtlichen Engagements verurteilt wurde.

Es gab zahlreiche andere Verfahren gegen Sie.
Wüppesahl: Insgesamt wurden über 45 Strafermittlungsverfahren gegen mich eingeleitet. Wohl gemerkt gegen mich als Kriminalbeamter. Es kam dann zu acht öffentlichen Hauptverhandlungen, die bis auf die eine bekannte mit Freisprüchen oder der Einstellung des Verfahrens endeten. Ich weiß nicht, wie viele Disziplinarverfahren noch hinzukommen. Die habe ich nicht mehr gezählt. Außerdem gab es noch zwei Psychiatrisierungsversuche durch meinen Dienstherren. Der wollte mich in die Klapse bringen oder zumindest meine Dienstunfähigkeit feststellen lassen. Glauben Sie mir: Das ist Verwaltungsroutine bei Polizisten, die ihren Pflichten nachzugehen versuchen. Entweder man versteht die Signale und passt sich rechtzeitig an, macht mit, oder wird halt über informelle Schikanen, formale Verfahren oder Pathologisierung aussortiert.

Was genau für Schikanen meinen Sie?
Wüppesahl: Zum Beispiel bei einer Versetzung: Noch bevor ein Beamter auf einer neuen Dienststelle ist, spricht sich herum: Das ist ein „Schlechter“, einer, der eben nicht unsere Grenzüberschreitungen mitträgt und deckt, auf den müsst ihr aufpassen, der darf nicht alles mitkriegen. Davor haben die allermeisten Beamten mehr Angst als vor einem formalen Verfahren – das belegen mittlerweile sogar wissenschaftliche Studien. Denn bei einem Verfahren wissen sie, dass sie wahrscheinlich glimpflich davonkommen und gefährden ihre Karriere nicht oder kaum. Aber den internen Grabenkrieg, den übersteht kaum jemand ohne Schäden oder Komplettausgrenzung.

Können Sie erklären, warum im Mai 2014 in Hamburg die Schadensersatzklage von Sven Klein gegen die Polizei vor Gericht abgewiesen wurde? Dem Journalisten hatte ein Polizist 2009 in einer Hamburger Fankneipe fünf Zähne ausgeschlagen.
Wüppesahl: Ein Pfarrer als Zeuge bestätigte die Aussage von Sven Klein, es existierten auch Videoaufzeichnungen von dem Einsatz. Allerdings waren die Batterien der – polizeilichen – Videokameras gerade an den entscheidenden Stellen ausgefallen. Angeblich.
Ich erinnere da nochmal an Oliver Neß, in seinem Fall gab es nach mehreren Wiederholungen der Prozesse vor dem Landgericht Hamburg sogar Freisprüche, obwohl die Folterungshandlungen, begangen durch Hamburger Polizeibeamte, von mehreren Kameras festgehalten wurden. Später verschwanden Beweise, unter anderem das einschlägige Videomaterial.
Gegenfrage: Warum bitte mag kaum noch jemand der Entscheider in unseren Innenministerien und Parlamenten diese Realitäten thematisieren?

Durch Ihre Schilderungen entsteht der Eindruck, es gebe keine verlässliche Gewaltenteilung mehr in Deutschland.
Wüppesahl: So ist es. An anderer Stelle ist die Gewaltenteilung ja auch schon aufgeweicht. Durch den Fraktionszwang im Bundestag und den Landtagen etwa, der diese Gremien – immerhin die erste Gewalt im Staat – zu so etwas wie zu Akklamationsorganen der jeweiligen Regierungen abwertet. Oder durch die Koalitionsausschüsse, die weder im Grundgesetz noch in einer Landesverfassung stehen, aber faktisch den Parteivorsitzenden mit die Möglichkeit geben, das Regierungshandeln und die parlamentarischen Abläufe zu determinieren. Warum sollte es das, was es zwischen Exekutive und Legislative gibt, nicht auch zwischen Exekutive und Judikative geben? Fragen Sie mal Anwälte, wie die manchmal erschrecken über den Schulterschluss zwischen Richtern und Staatsanwälten und deren Feindbild, dem engagierten Verteidiger. Da herrscht derselbe Geist wie unter Polizisten. Ein weiteres Tabuthema.

Ein Kommentar zu “Wir brauchen wieder nachdenkliche Köpfe bei der Polizei.”

  1. Horst Murken |

    Wie Herr Wüppesahl zu seinen Bemerkungen zu berliner Polizisten kommt, ist mir unverständlich. Schließlich kennt er meinen Fall seit mehr als zwei Jahren:
    Polizeigewalt.blogger.de
    Es geht nicht nur um Polizeigewalt, sondern auch um Strafvereitelung und Vertuschung durch die Politik in Berlin. Alle Parteien im Abgeordnetenhaus decken diese Straftaten.

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