Timo Boll

Die Chinesen wollen das Drama.

Tischtennisprofi Timo Boll über seine Karriere, Nationalstolz und Tischtennis in China

Timo Boll

© Moritz Thau

Herr Boll, in diesem Herbst ist Ihr Buch „Timo Boll: Mein China“ erschienen. Der Journalist Friedhard Teuffel hat Sie auf ein Tischtennisturnier nach China begleitet, lange und intensive Gespräche mit Ihnen geführt, Familie, Freunde und Weggefährten von Ihnen getroffen. Wie haben Sie die Arbeit an diesem Buch erlebt?
Boll: Es hat auf jeden Fall viel Spaß gemacht. Im Vorfeld war ich jedoch schon ein bisschen skeptisch, in so jungen Jahren eine Art Biographie zu schreiben. Das fand ich nie so richtig toll, wenn man noch aktiv ist, große Ziele vor sich hat. Das Konzept von dem Buch hat mir dann aber doch sehr gut gefallen, weil es eben keine typische Biographie ist, sondern mehr um das Verhältnis zwischen mir und China geht, wie ich mich dort entwickelt habe, was China aus mir gemacht hat, nicht nur als Tischtennisspieler, sondern auch als Persönlichkeit.

Allerdings sagen Sie auch, dass Sie nicht besonders gerne über sich sprechen. Wie viel Überwindung hat Sie das Buch gekostet?
Boll: Ich habe nicht gedacht, dass man doch so viel aus mir herausholen kann. (lacht) Da muss ich dem Friedhard ein großes Kompliment machen, dass es mir mit ihm so leicht gefallen ist, stundenlang über mich und China zu sprechen. Es waren wirklich sehr viele Stunden und Tage, die wir miteinander verbracht haben, aber die sind locker von der Hand gegangen. (lacht)

Wenn man über sein Leben und seine Karriere reflektiert, von sich erzählt, setzt man sich zwangsläufig sehr stark mit sich selbst auseinander. Inwiefern haben Sie durch diese Gespräche auch etwas Neues über sich erfahren?
Boll: Man macht sich in so einer Situation vielleicht noch einen Tick mehr Gedanken über sich als sonst, überlegt erstmal selbst, was man eigentlich für ein Typ ist, und wie man so denkt. Und dann ist es natürlich auch sehr interessant zu lesen, wie man selbst von jemand anderem gesehen wird. Das Buch ist teilweise auch in der Ich-Form geschrieben, aber es stecken vor allem viele Beobachtungen von Friedhard drin. Es ist sehr authentisch geworden, und ich muss sagen, er hat mich schon sehr gut getroffen.

Sind Sie auch sonst ein Mensch, der sehr viel über sich nachdenkt, oder geht das manchmal im Trubel des Sports unter?
Boll: Ich glaube, dass das mit der Zeit immer mehr geworden ist. Ich bin jetzt kein wirklicher Grübler, aber ich denke schon, dass ich immer im Reinen mit mir sein möchte. Das erfordert eine gewisse Selbstdisziplin, und man muss schon über sich selbst und seine Umwelt nachdenken, um das zu schaffen. Das Buch ist auch bewusst nicht so oberflächlich gehalten, sondern geht in die Tiefe, in die Gedankenwelt des Sportlers und Menschen Timo Boll. Es sollte aber kein Ratgeber werden, wie so viele andere Sportler-Biographien. Sicherlich kann sich da jeder Tischtennisspieler was abgucken, ein paar Anregungen finden, aber ich bin jetzt keiner der sagt: „So muss es laufen, damit auch du Erfolg hast.“ Ich bin kein Besserwisser. Letztendlich muss eh jeder seinen persönlichen Weg finden. Dafür sind wir Menschen einfach zu individuell, als dass es eine Erfolgsformel für jeden gäbe.

Im Buch geht es vor allem auch um China, wo Tischtennis Volkssport ist. 1959 gewann Jung Kuo-Tuan in Dortmund als erster chinesischer Sportler überhaupt einen WM-Titel und beendete die Vorherrschaft der Japaner, der ehemaligen Besatzer. Tischtennis wurde zum Kulturgut. Welche Rolle spielt der Nationalstolz beim Umgang der Chinesen mit diesem Sport?
Boll: Der spielt eine enorm große Rolle. Durch ihre großen Erfolge im Tischtennis können sie der Welt ihren Willen zur Macht und das Streben nach Aufschwung demonstrieren. Das wird auch im Buch sehr genau und schön beschrieben, wie sich den Chinesen durch Tischtennis die Welt eröffnet hat. Und mittlerweile ist China ja auch zu einer Weltmacht geworden. Im Tischtennis haben sie es vorgemacht, und in anderen Sportarten ziehen sie jetzt nach. Aber insgeheim können sie sich im Tischtennis keine Niederlage leisten, weil das ganze Land erwartet, dass sie in diesem Sport Erfolg haben. Das war vor allem bei den Olympischen Sommerspielen in Peking ganz deutlich zu spüren.

Was würde denn passieren, wenn die chinesischen Weltklassespieler im Tischtennis abrutschen und keinen Erfolg mehr haben?
Boll: Es wäre vielleicht ein kurzer Schock, aber politisch hätte das sicher keine großen Auswirkungen. Die Leute würden es umso mehr lieben, wenn sie danach wieder auferstehen. (lacht) Die Chinesen wollen auch das Drama, den Wettkampf. Darum lieben sie mich so in China, weil ich einer der wenigen bin, der ihnen mal Paroli bietet. Es wird ja auch irgendwann langweilig, wenn ab dem Halbfinale nur noch Chinesen im Wettkampf sind. (lacht) Aber die Chinesen nehmen diesen Sport schon sehr, sehr ernst. Das stimmt.

Als der chinesische Spieler Chen Qi nach einer Niederlage beim Asien-Cup 2001 seinen Schläger zu Boden warf, gegen einen Stuhl trat und fluchend die Halle verließ hatte dies ein Nachspiel: Er hielt im Staatsfernsehen danach eine Entschuldigungsrede an die Nation, musste eine Woche Militärtraining in der Wildnis absolvieren und wurde zur Reisernte in der Provinz verpflichtet. Später sagte er, die Feldarbeit sei „eine gute Umerziehung“ für ihn gewesen, und er fühle sich als Bauer, nicht als Sportstar. Wie bewerten Sie diesen Umgang mit den Spielern?
Boll: Es nimmt dort schnell andere Dimensionen an, weil die Spieler viel mehr im Mittelpunkt stehen, als in Deutschland. Aber als Jürgen Klinsmann damals im Fußballstadion diese Tonne umgetreten hat, wurde das auch groß in den Medien diskutiert, aber natürlich hat man ihn dafür nicht zur Feldarbeit geschickt. Die Medien in China bauschen sowas auch gerne auf. Im Endeffekt ist Chen Qi danach zurückgekommen und wurde Olympiasieger im Doppel.

Aber dieses Beispiel zeigt ja ganz deutlich, unter welchem Druck die Spieler in China stehen, wie mit ihnen bei solchen Ausfällen umgegangen wird…
Boll: Ja, das stimmt schon. Das ist schon ein extremes Beispiel. Es ist eine andere Kultur, es werden andere Mittel eingesetzt, im Sport wie auch in der Politik.

Zitiert

Die Chinesen können sich im Tischtennis keine Niederlage leisten, weil das ganze Land erwartet, dass sie in diesem Sport Erfolg haben.

Timo Boll

Könnten Sie sich denn vorstellen, auch unter so einem großen Druck, in diesem System. die gleichen Leistungen zu bringen wie in Deutschland?
Boll: Das Thema haben wir auch im Buch behandelt: Was wäre gewesen, wenn ich in China aufgewachsen wäre? Das ist natürlich eine spannende Frage. Ich denke, dass ich in diesem System vielleicht sogar noch einen Tick stärker geworden wäre, als ich es jetzt bin. Deren Sportsystem ist einfach phänomenal gut. Ich hätte mich da sicherlich anpassen können, aber es hätte natürlich auch nach hinten losgehen können. Vielleicht hätte mein Körper diese Belastung gar nicht ausgehalten.

In einem Interview haben Sie genau das einmal gesagt: „Mein größter Nachteil ist mein Körper, würde ich ein halbes Jahr wie die Chinesen trainieren, wäre ich tot.“ Was ist denn das besondere an der chinesischen Trainingsmethode?
Boll: Das Training findet immer auf einem extrem hohen Niveau statt. Gerade die jungen Spieler müssen sehr viel auf Quantität trainieren. Das ist jetzt aber nicht unbedingt meine Methode. Ich bin eher jemand, der lieber ein bisschen kürzer trainiert, dafür dann aber sehr intensiv und  hochkonzentriert. In China trainiert man sehr viele Stunden am Tag, das würde ich vom Kopf her gar nicht mehr schaffen. Es wird auch viel aussortiert, viele bleiben auf der Strecke, doch das können sie sich leisten, weil sie eine riesige Masse an Spielern haben. Aber selbst in Deutschland konzentriert man sich mittlerweile mehr auf die großen Talente, und weniger auf die kleinen. Da sind wir nicht viel anders.

Sie waren inzwischen über 60 Mal in China. Inwiefern hat sich Ihr Bild von China durch die zahlreichen Reisen verändert?
Boll: Ich komme ja aus einer kleinen Gemeinde im Odenwald, ich bin dort sehr behutsam aufgewachsen, und wenn man nach Frankfurt kam, war das schon was sehr Besonderes, etwas Großes. Von daher war das der Wahnsinn, als ich im Alter von 16 Jahren das erste Mal nach China gereist bin. Damals war China ja auch noch ganz anders als heute. Das war am Anfang ein großer Kulturschock, aber auch extrem spannend. Über die Jahre konnte ich die ganzen Entwicklungen beobachten, die China durchgemacht hat. Es gab immer wieder was Neues zu sehen.

Welche konkreten positiven Entwicklungen haben Sie denn über die Jahre in China beobachtet?
Boll: Als Deutscher denkt man oft, die Chinesen seien ein sehr raues und grobes Volk, unnahbar, und würden eh alle gleich aussehen. Über die Jahre habe ich jedoch wirklich enge Freundschaften geknüpft, und die Chinesen als ein sehr herzliches und gastfreundliches Volk kennengelernt. Sicherlich hat China noch große Probleme, die aber auch angegangen werden und viele wurden auch schon gemeistert. Früher war die Armut an jeder Straßenecke zu sehen, an der kamst du nicht vorbei. Du hast die Hütten neben dem Gehweg gesehen, zusammen geschustert aus ein paar Wellblechen, und auf ein paar Quadratmetern lagen sie mit fünf Leuten. Das hat sich grundlegend verändert und der westlichen Welt schon sehr angepasst. Das freut mich sehr.

Im nächsten Jahr stehen nun gleich zwei große Events vor der Tür. Im März 2012 wird in Deutschland die Team-WM ausgetragen, im August folgen dann die Olympischen Spiele 2012 in London. Was haben Sie sich für diese Turniere vorgenommen?
Boll: Ich nehme mir immer sehr viel vor. Vor allem versuche ich mich perfekt vorzubereiten. Was dann im Turnier passiert, kann man gar nicht mehr groß beeinflussen. Bei der Team-WM in Dortmund wäre mein Traumfinale auf jeden Fall China gegen Deutschland, aber man darf nicht vergessen, dass auch andere Nationen Tischtennis spielen können, und dass es ein schwerer Weg bis ins Finale wird. Das gleiche gilt für Olympia, um eine Goldmedaille zu bekommen.

Tischtennis nimmt in den deutschen Medien, anders als Tennis, bis heute keinen wirklich großen Raum ein. Warum ist das so?
Boll: Mittlerweile haben wir ja fast genauso viele Fernsehzeiten wie Tennis. (lacht) Wir haben in Deutschland Fußball und Formel 1, aber nach Boris Becker und Steffi Graf ist es im Tennis mit der Berichterstattung auch ganz schön zurückgegangen. Im Prinzip hätte es jede Sportart verdient mehr gezeigt zu werden. Es konzentriert sich jedoch auf ein bis zwei Sportarten und der Rest fällt hinten runter. Das ist schade, aber der Markt reguliert. Fußball ist in Deutschland halt die Nummer 1. Ich bin da jetzt aber auch nicht großartig neidisch auf die Gehälter. Ich bin froh, dass ich durch das Tischtennis ein großartiges Leben ermöglicht bekomme, und versuche durch Erfolge unsere Sportart weiterhin oben zu halten.

Im Buch sagen Sie, „Tischtennis ist so schnell geworden, dass man schon wissen muss, wohin der Gegner spielt, bevor er geschlagen hat.“ Haben Sie manchmal die Angst, Tischtennis könnte eines Tages zu schnell für Sie werden?
Boll: Sicher wird irgendwann der Punkt kommen, an dem ich an meine körperlichen Grenzen komme, und andere an mir vorbeiziehen, das ist mir schon bewusst. Bisher macht es mir aber immer noch sehr viel Spaß. Es trainiert nämlich nicht nur meinen Körper, sondern auch meinen Geist.

Sie haben kürzlich gesagt, dass Sie sich später auch vorstellen könnten als Trainer zu arbeiten.
Boll: Ja, ich bin jetzt vielleicht nicht so der Trainertyp, der tagtäglich hinter einem steht und einen antreibt, aber ich glaube schon, dass ich viel sehe im Tischtennis und auch einiges weitergeben könnte. Die nächsten Jahre werde ich aber erstmal noch als Spieler aktiv sein. (lacht)

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