Tocotronic

Man braucht immer eine Gegenstimme.

Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail von Tocotronic über ihr Band-Loft, das neue Album „Schall & Wahn“, düstere Texte und wichtige Zweifel

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© Sabine Reitmeier

Jan, Arne und Rick, wir sitzen hier in einem Loft in Hamburg-Altona, warum habt ihr euch diesen Ort für das Interview ausgesucht?

McPhail: Ich wohne hier, hier proben wir auch und nehmen unsere Songs auf.

Müller: Das ist einfach der Ort, an dem wir uns wohl fühlen, wo wir einfach locker quatschen können.

McPhail: So ein Loft ist schon etwas Besonderes. Es gibt glaube ich wenige Bands, die so was haben und es war auch Glücksache, dass ich das damals gefunden habe.

Müller: Früher haben wir in allen möglichen Übungsbunkern geprobt, dagegen ist das hier schon sehr angenehm.

Inwiefern schlagen sich denn die geänderten Lebens- und Arbeitsbedingungen auch auf eure heutige Musik nieder?

Müller: Wir haben hier zum ersten Mal die Möglichkeit die Stücke richtig fertig zu arrangieren und beim Proben hört man sich auch endlich mal richtig, ohne dass nebenan noch eine Metalband probt. Insofern sind wir sehr gut vorbereitet ins Studio gegangen und konnten uns voll und ganz auf den Sound konzentrieren.
Inwieweit man jetzt andere Musik macht weil man älter geworden ist, ist immer schwer zu sagen. Man ist ja nicht außen, sondern irgendwie immer drin im eigenen Leben. Das ist ein schleichender Prozess. Das kann man gar nicht so abgrenzen.

Mit welchen Gefühlen blickt ihr denn auf eure Anfangszeit zurück, auch bezogen auf euer damaliges Erscheinungsbild: Trainingsjacke, Cordhose, Seitenscheitel…

Zank: Wir haben eine neue Modeära geprägt, das war schon ein Geniestreich. Wir hätten darauf gleich ein Copyright setzen und eine eigene Modelinie rausbringen sollen. (lacht) Nein, im Ernst – wir haben 2003 unser zehnjähriges Bandbestehen gefeiert und dazu auch eine Compilation raus gebracht. Das war schon lustig, sich mal wieder die alten Songs anzuhören.

Müller: Ja, da hat uns die Nostalgie gepackt und wir sind alle ganz wehmütig geworden. (lacht) Aber letztendlich geht es halt immer weiter und das ist ja auch das Tolle daran. Wir leben und arbeiten schon sehr im Heute.

Würdet ihr sagen, eure Fans sind mit euch zusammen erwachsen geworden?

Zank: Man hört ja nie nur eine Musikrichtung oder konzentriert sich jahrzehntelang nur auf eine Band. Wir hören ja auch alle die unterschiedlichsten Sachen. Man ist halt generell musikinteressiert, entdeckt was Neues, verliert eine Band dann mal aus den Augen und findet sie wieder. So ist das denke ich auch bei unseren Fans. Es kommen aber natürlich immer wieder neue dazu, die uns vielleicht erst gerade entdeckt haben. Das wär’ ja auch komisch wenn man immer nur für so ’nen kleinen Zirkel spielt. (lacht)

Gab es in den 16 Bandjahren so etwas wie Kreativkrisen?

Müller: Das ist bei uns eine permanente Krise! (alle lachen)

Zitiert

Wir waren nie wirklich von Angst geleitet. Angst habe ich vielleicht vor Krankheiten, aber das Musikmachen ist ja erstmal was sehr schönes.

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Zank: Auf unserer neuen Platte gibt es ja den Song „Im Zweifel für den Zweifel“ und das läuft schon immer irgendwie mit. Aber es lähmt uns nicht.

Müller: Wir hatten einen Punkt, an dem wir gemerkt haben, dass wir zu dritt nicht mehr weiterkommen, also unsere Songs auch zu dritt gar nicht mehr aufführbar sind. Aber dann kam ja auch glücklicherweise Rick dazu. Zu viert hat man musikalisch einfach viel mehr Möglichkeiten, gerade auch beim live spielen.

McPhail: Ich glaube, so’n  paar Zweifel vor der Selbstüberschätzung sind gesund für jeden Menschen, man sollte nicht der total selbstüberzeugte, Bono-artige Rockstar sein. Man braucht immer so eine Gegenstimme, die einem sagt: „Geh nicht zu weit!“

Müller: Wir waren aber nie wirklich von Angst geleitet. Angst habe ich vielleicht vor Krankheiten, aber das Musikmachen ist ja erstmal was sehr Schönes.

Rick, du bist 2004 zu Tocotronic gekommen und hast am Anfang gesagt: „Früher fand ich Tocotronic gar nicht gut!“ Was hat deine Meinung geändert? Wie haben die Jungs dich überzeugt?

McPhail: Ich habe die Band ja bereits vorher begleitet und T-Shirts am Merchandising-Stand verkauft. Nach dreißig Konzerten fand ich die Musik dann auch cool. (lacht) Als ich damals mit Mitte zwanzig von Amerika nach Deutschland kam wollte ich hier eigentlich gar nicht so lange leben und mich auch gar nicht mit der deutschen Musik befassen. Ich hatte meine amerikanischen Sachen und fertig. Der Bassist meiner früheren Band hat mir dann das erste Album „Digital ist besser“ von Tocotronic zum Geburtstag geschenkt und ich dachte nur so: „Das klingt ja wie Neil Young und dann auch noch mit deutschen Texten. Das brauch ich nicht!“ (lacht) Ich war in meinem kleinen dogmatischen Noiserock-Universum und da hat das gar nicht reingepasst. Ich habe zu dieser Zeit nicht wirklich gut deutsch gesprochen und verstanden, aber im Laufe der Zeit bin ich dann mit den Menschen und der Musik warm geworden.

Das Album „Schall & Wahn“, das am 22.01.2010 erscheint ist kein wirklich fröhliches. Es geht um tötende Liebe, einen leisen Hauch von Terror, um Folter, Tyrannen und Gift. Eure Sicht auf die Welt?

Zank: Das ist schon eine, wenn auch sehr spezielle, Art von Humor, die Lust an der Übertreibung, an der Drastik der Worte. Und musikalisch sind die Songs ja auch nicht alle düster.

Müller: Unser Texter und Frontmann Dirk hat versucht sich mit Themen auf andere Art auseinanderzusetzen als es sonst so gemacht wird, zum Beispiel mit dem Thema Liebe.
So eine Sammlung von Texten und Songs spiegelt ja nicht unser aller Persönlichkeiten und unsere komplette Weltsicht wider, aber natürlich steckt hinter jedem Song auch eine gewisse Geisteshaltung. Die ist allerdings nicht wirklich düster, sondern eher kritisch und wachsam.

McPhail: Gestern hat uns ein Journalist diese ganzen scheinbaren düsteren Wörter mal rot unterstrichen. Da habe ich das überhaupt erstmal wahrgenommen. Ich glaube, das war uns auch vorher gar nicht so bewusst, also dass in den Texten so viele düstere Begriffe enthalten sind. Wenn man im Entstehungsprozess eines Albums ist, bekommt man das manchmal gar nicht so mit, bis man das dann alles mal untereinander auf einer Liste geschrieben sieht.

Müller: Zum Beispiel der Songtitel „Die Folter endet nie“ klingt ja erstmal sehr deprimierend und düster, aber den Song selbst empfinde ich als sehr fröhlich und fast gospelartig. Man darf vielleicht auch nicht den Fehler machen und die Songtexte nur als reine Texte, also quasi als Gedichte sehen. Die Musik gehört ja auch immer dazu.

Aber von den ersten Alben Mitte der 90er Jahre bis jetzt ging es bei Tocotronic ja immer auch um eine gewisse Form der Rebellion, des Widerstands gegen das System…

Müller: Das ist ja Teil der Definition von Rockmusik, dass man so eine gewisse Anti-Haltung zum Ausdruck bringt, wie auch immer die sich jetzt darstellt. Da hat sich unser Fokus sicherlich auch geändert, aber wenn man sich mit allem einverstanden klären würde, könnte man gleich aufhören, diese Musik zu machen. Ich habe was dagegen, wenn man es sich zu bequem macht.

Durch Rebellion und Widerstand erhofft man sich meistens auch eine Veränderung, ein Ergebnis. Inwiefern hat sich in den letzten Jahren, vielleicht auch durch eure Musik, etwas zum Positiven verändert?

Müller: Es wäre vielleicht etwas vermessen zu sagen, unsere Musik hätte etwas verändert. Doch wir haben schon bemerkt, dass vielen Leuten unsere Musik viel bedeutet und sie auch ein Teil ihres Lebens begleitet hat. Ob unsere Musik dann wirklich auch das Leben dieser Menschen verändert hat, kann und will ich gar nicht beurteilen – vor allem wäre die Frage, ob diese Veränderungen dann wirklich alle so positiv gewesen wären. (alle lachen)

Nun startet im März 2010 eure große „Schall & Wahn“- Tour quer durch Deutschland. Was erwartet die Fans?

Müller: Wir spielen nicht ausschließlich Songs vom neuen Album, sondern versuchen einen guten Mix aus alten und neuen Songs zusammenzustellen. Wir sind gerade dabei, das Programm auszuarbeiten. Natürlich guckt man dann aber auch während der Tour, was funktioniert und was nicht. Es werden auf jeden Fall schöne Konzerte, wir freuen uns wahnsinnig wieder live on Stage zu sein.

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