Herr Gustavsen, vor Jahren schrieb ein Kritiker, die Stimmung Ihrer Musik passe sehr gut zu einem regnerischen Tag. Können Sie das nachvollziehen?
Tord Gustavsen: Ich glaube, in unserer Musik liegt viel, was auf einen regnerischen Tag zutrifft. Zum Wetter und zur Stimmung. Sie handelt von großer Stille, ist aber auch sehr lebensbejahend. Es geht darum, das Leben zu zelebrieren aber auf eine ruhigere Art und Weise als normale Partymusik.
Ist das ein typisch norwegischer Aspekt Ihrer Musik?
Gustavsen: Ja vielleicht. Ich glaube aber, dass unsere Musik viel mehr vom Blues in sich trägt, viel mehr Spuren von Kirchenliedern und Gospel als die meisten anderen typisch skandinavischen Projekte. Viele Skandinavier teilen einen gewissen Geschmack für Minimalismus und Räumlichkeit in der Musik. Dieser gemeinsame Sinn ist wirklich anders als in anderen Teilen Europas oder als in den USA. Das steht mir musikalisch am nächsten.
Woher kommen die Spuren von Blues und Gospel in Ihrer Musik?
Gustavsen: Diese Spuren kommen aus allem, was ich bisher gehört habe. Du bist immer ein Produkt der großen und kleinen Reisen auf denen du warst. Sie kommen im Hier und Jetzt zusammen. Ich hatte Phasen, in denen ich mich intensiv mit frühem Jazz, Blues und afroamerikanischen Spirituals auseinandergesetzt habe. Das bestimmt zu einem großen Teil den Kern meines musikalischen Selbst, einhergehend mit den Liedern aus meiner Kindheit. Es ist eine sehr starke Energiequelle wenn du die Verbindung herstellst zu der Musik, die für dich als Kind und Jugendlicher wichtig war. Wann immer ich das spüre, steht hinter dem, was ich tue eine starke natürliche Energie. Meine Musik ist durch diese Erfahrungen gefiltert und ich habe den starken Drang, dass sie im Hier und Jetzt passiert.
Was ist skandinavischer Jazz für Sie?
Gustavsen: Aus Skandinavien zu kommen heißt für mich, mehr zu sehen, was uns unterscheidet als was uns verbindet. Ich sehe da eine sehr lebhafte Mainstream-Jazz-Szene in Norwegen, Schweden und auch in Dänemark mit guten Musikern, die in mehr oder weniger amerikanischen Stilen spielen. Ich sehe eine sehr agile Free-Jazz-Szene und einen Schmelztiegel, der von Jazz über die elektronische und zeitgenössische klassische Musik bis hin zu Rockmusik reicht. In Norwegen gibt es eine sehr aktive Szene für akustischen Jazz. Manches davon bestätigt die Klischees, andere machen das überhaupt nicht. Da kann die Musik sehr komplex sein und sehr dicht orchestriert, mit fast anarchistischen Konzepten im Kombinieren von Country mit Ligeti oder John Coltrane.
Sie haben sich durch die Jazzgeschichte gehört. Können Sie einen Lieblingsmusiker nennen und wenn ja, auf welchem Instrument?
Gustavsen: Mir tut es fast weh, wenn ich nur einen einzigen Favoriten nennen soll. Für mich steht die Jazzgeschichte neben der Geschichte der klassischen Musik und der Volksmusik von der ganzen Welt. Ein wesentlicher Einfluß für meine eigene Interpretation und Freiheit der Interpretation von Melodien kommt davon, dass ich viel Billie Holiday gehört habe. Für mich ist sie die größte Musikerin. Ich habe mehr von Sängern und einigen wenigen Saxofonisten und Trompetern gelernt, als von anderen Pianisten.
Warum?
Gustavsen: Sänger sind stark melodische Denker. Die besten Sänger können die Melodie wunderbar plazieren und kleine raffinierte Variationen mit ihr machen. Das bestimmt auch die Art wie ich Instrumentalmusik spiele – da liegt mein Fokus sehr auf der Melodik. Für mich ist das Klavier eine orchestrale Palette an Klangfarben. Vor allem aber ist es ein Instrument, das zum Singen gebracht werden sollte.
Nutzen Sie das Klavier vor allem als melodisches Instrument oder ist die Grenze zu den Rhythmusinstrumenten Bass und Schlagzeug fließend?
Gustavsen: Die Grenzen bewegen sich definitiv. Der Bass bringt viele melodische Aspekte in dieses Trio ein. Wenn ich rhythmische Muster wiederhole sind die Anderen ringsherum frei. Es kann sich ändern in einen bleibenden Schlagzeug-Groove, an den ich anschließe und mich wieder entferne. Andere Male kann Rhythmus von jedem von uns entstehen. Wir erforschen Zwischenbeziehungen von Vorder- und Hintergrund. Ein kollektiver Organismus entsteht, wenn man sich in einen Moment vertiefen kann.
Jeder bildet also seinen Teil der klanglichen Identität des Trios?
Gustavsen: Ja. Dieses Wort ist sehr bedeutsam. Wenn du jedes Instrument isoliert betrachtest ist der Klang des Trios nur schwer zu analysieren. Unser Klang basiert auf jedem individuellen Anschlag und Zugang. Was zählt ist, die Signale der anderen zu lesen, aufeinander zu warten, den Dialog aufzunehmen.
Finden Sie, dass manche Ihrer Stücke eine tänzerische Qualität haben?
Gustavsen: Es freut mich, dass Sie das ansprechen. Unsere Musik ist weich, langsam, sanft und in mancher Beziehung fast abstrakt – viele Leute beziehen sich auf genau diese Qualitäten. Für mich hat die Musik aber auch einen intensiven Groove und etwas Tänzerisches. Das geschieht aber auf einer zurückhaltenden Ebene, die die offensichtlichen Tanzrhythmen verwandelt. Die Musik braucht Sinnlichkeit als Basis. Sie muß verwurzelt sein, Kontakt herstellen zu den Grundlagen. Das ist ein körperliches und musikalisches Moment. Von dort kannst du alle möglichen kreativen Eskapaden machen. Wenn du aber versuchst etwas zu tun, das du nicht mit deinem ganzen Körper fühlst dann wird es ganz leicht abstrakt oder die Musik wird interessant aber nicht zwingend gut.
Gibt es in Ihrer Musik so etwas wie ein Körperbewußtsein?
Gustavsen: Wenn du spielst ist es wie eine Totalität zwischen Geist und Instrument, Fingern und dem Rest des Körpers. Wenn ich zum Beispiel vergesse, tief und regelmäßig zu atmen fühle ich, dass das der Musik schadet. Es ist enorm wichtig, in der Fülle der Situation präsent zu sein. Dann spielt der physische Atem und der Atem der Musik gleichermaßen eine Rolle. Auch wenn ich keinem speziellen körperlichen Training nachgehe ist Körperbewußtsein definitiv eine wichtiger Aspekt der Musik.
Sie spielen nicht nur in Konzertsälen sondern auch open air – macht das für Sie für einen Unterschied?
Gustavsen: Draußen ist es nicht immer möglich, eine ähnliche Situation wie in einem Konzertsaal zu schaffen auch wenn ich es jedes Mal sehr gern mag. Wir brauchen einen Konzertflügel und die Anlage muß so gut sein, dass wir sehr präsent klingen auch wenn wir weich spielen. Die Male, die wir unter freiem Himmel gespielt haben, waren sehr inspirierend. In Thessaloniki letzten Sommer war es wunderschön – du konntest vom Felsen direkt runter zum Meer sehen. Und während wir spielten kam ein Vogel angeflogen und fing an zu singen. Er war so laut, dass du ihn nicht ignorieren konntest, du mußtest zuhören und versuchen, darauf einzugehen. Nach einer Weile ist er weggeflogen und das war’s.
Ihr Trio ist nach Ihnen benannt, schreiben die beiden anderen Musiker auch Stücke für das Trio?
Gustavsen: Es kommt darauf an, was man unter Schreiben genau versteht. Auch wenn es bei den meisten Stücken heißt, sie wären von mir geschrieben ist es ein kollektiver Prozeß, in dem man die Stücke zum Leben erweckt. Wir gestalten die Teile der einzelnen Instrumente zusammen. Dieses Projekt trägt meinen Namen aus gutem Grund: ich entwickle die meisten melodischen Ideen und wenn Harald Johnson (Bass) ein Trio unter seinem Namen hätte würde es sich ganz anders anhören. Sogar ich klinge total anders wenn ich mit anderen Musikern spiele.
Sie haben eine eigene musikalische Theorie entwickelt. Wann hat das angefangen? Während der Arbeit mit dem Trio oder vorher?
Gustavsen: Das hat vor langer Zeit angefangen. Bevor ich auf die Musikhochschule ging habe ich Psychologie studiert und dort einiges gelesen, das auf einer persönlichen Ebene sehr wichtig für mich wurde. Ein paar Jahre später fiel mir auf, wie parallel psychologische Theorie und die Herausforderung, Musik zu machen im Grunde sind. Mein Theorie-Projekt versucht, diese Dinge zusammenzubringen. Ich möchte dialektische Bewegungen, gegensätzliche Kräfte in engen menschlichen Beziehungen in Musik verwandeln. Es geht um das Bedürfnis, Musik die ganze Zeit zu fühlen. Du brauchst Distanz und Nähe – beides muß wirklich sein.
Teilen die anderen Musiker diese Herangehensweise?
Gustavsen: Nicht unbedingt in dem Sinne, dass wir die gleichen Worte dafür benutzen. Wir teilen viele musikalische Grundgedanken hinter dem was und wie wir spielen. Jarle Vespestad (Schlagzeug) ist zum Beispiel eine viel extremere Persönlichkeit als ich. Er geht gern in ein Extrem, bleibt da eine Weile und wechselt ins andere Extrem. Für mich ist es essentieller, direkt nach der kreativen Balance der Kräfte zu suchen.
Ist das ein spirituelles Moment in Ihrer Musik?
Gustavsen: Ja, so könnte man es nennen. Instrumentalmusik wird zwar in jedem Hörer neu erzeugt, sie existiert aber auf einer allgemeinen Ebene. Für mich gibt es eine starke Verbindung zwischen der Anbetung des Lebens und der Musik. Wir gebrauchen dafür nur unterschiedliche Worte. Manchmal werde ich Wörter christlicher Theologie oder anderer Religionen benutzen um zu beschreiben, wie wichtig mir diese Parallele ist.
Befürchten Sie, dass Ihre Musik einmal als typisch europäischer Jazz bezeichnet werden könnte?
Gustavsen: Manchmal machen das Menschen und kurze Zeit später sagt ein Kritiker genau das Gegenteil. Für mich ist es sehr interessant, die Totalität dessen aufzunehmen. Die Musik ist letztlich nur als Klang vorhanden und verschiedene Menschen werden immer verschiedene Dinge damit in Verbindung bringen. Ich bekomme Reaktionen von Hörern aus aller Welt, E-Mails von Menschen, die in ihrem Leben Tragik und großen Kummer erfahren haben und die erzählen, dass ihnen die Musik wirklich etwas bedeutet. Unsere Musik wird in solchen Situationen plötzlich zur Quelle von Unterstützung und zu einem wirklichen Wert.
Wollen Sie dem Zuhörer etwas bestimmtes mitgeben?
Gustavsen: Nein. Eigentlich kreiere ich nur aus dem Wunsch heraus, mich selbst zufrieden zu stellen. Für mich ist das der einzige Weg, ehrliche Musik zu machen. Wenn sich das mit anderer Menschen Zugang verbindet ist das großartig.
Wo kann man als Neueinsteiger mehr von Ihnen erleben – auf einem Konzert oder auf Ihren CDs?
Gustavsen: Beides ist eine gute Idee. Aber wenn wir nicht live in deiner Nähe spielen, dann fang mit den CDs an.