Ulrich Seidl

Es geht immer um Machtverhältnisse

Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl über den Film "Paradies: Liebe" Schönheitsideale, Sextourismus, die Arbeit mit Laienschauspielern und die Vorzüge des österreichischen Kinos

Ulrich Seidl

© Neue Visionen Filmverleih

Herr Seidl, im Zentrum Ihres Films „Paradies: Liebe“ stehen Frauen, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen und nach Kenia fahren, auf der Suche nach Liebhabern. Wie treten Sie an Frauen heran und erklären denen, dass Sie genau das für Ihren Film suchen?
Seidl: Es sind Schauspielerinnen. Natürlich gibt es da nur wenige, aber die musste ich finden. Die meisten Schauspieler sind eitel – egal ob Mann oder Frau – und wollen nur von ihrer besten Seite gezeigt werden. Das ist für mich aber keine Arbeitsbasis. Mein Anforderungsprofil war klar: Eine Frau, die nicht den gängigen, westlichen Schönheitsvorstellungen entspricht. Dazu muss man als Schauspielerin stehen und sagen: Okay, ich zeige meinen Körper. Dabei hilft den Frauen sicherlich, dass ich anderer Meinung bin. Schauen wir in den Orient, dort sind übergewichtige Frauen höchst beliebt, genau wie in vielen anderen Kulturen auch.

Was empfinden Sie als schön?
Seidl: Ich kann das nur von Fall zu Fall sagen. Wir leben in einer Welt voll verordneter Schönheitsideale, die medial ständig reproduziert werden. Beinahe diktatorisch. Man muss sich fragen, wieso das passiert. Wieso sich solche Dinge auch ändern. Wer gibt da den Ton an? Betrachten wir Frauenbilder von vor 30 Jahren, haben Frauenkörper anders ausgesehen. Schön war anders. Die Frage ist, warum wir uns so einem Ideal unterwerfen.

In der romantischen Vorstellung ist Liebe ist vom Körperlichen losgelöst, dennoch lassen wir uns auf ein Spiel ein, in dem wir uns über Körper definieren…
Seidl: Wir sind Menschen, die in unseren Liebesbeziehungen abhängig von unseren Körpern sind. Eine Frau gefällt oder nicht, das fängt mit ihrem Geruch an. Das ist alles Körper, das lässt sich nicht vergeistigen. Man versteht, was meine Hauptdarstellerin Margarethe Tiesel meint, wenn sie sagt, sie will einen Mann haben, der sie nicht bewertet und ihr nur in die Augen schaut. Aber es sieht nun mal anders aus. Es basiert auf Körperlichkeit.

Wie haben Sie diesen weiblichen Sextourismus als Thema für sich entdeckt?
Seidl: Ursprünglich hatte ich ein Drehbuch zum Thema Massentourismus geschrieben. Dann kamen neue Ideen dazu, zum Beispiel, einen Film nur über Frauen zu machen, sowie über eine extrem gläubige Katholikin. Zum weiblichen Sex-Tourismus kam dann noch die Lolita-Geschichte eines jungen Mädchens hinzu, die mich schon einmal für das Theater interessiert hatte. Es entstand schließlich eine Trilogie, über drei Frauen und deren Sehnsüchte.

Wie sind Sie den Film angegangen?
Seidl: Ich habe viel über die so genannten „Beach Boys“ recherchiert, habe viele persönlich kennen gelernt, um zu erfahren, wer sie sind, wie sie leben, wie ihre Familien aussehen und was sie wollen. Unter ihnen musste ich dann Darsteller für meinen Film finden, das war die eine Seite. Die andere waren die „Sugar-Mamas“. Dafür habe ich über zwei Jahre in Österreich und der Schweiz recherchiert, aber auch vor Ort in Kenia, wo ich nach Schauplätzen gesucht habe.

War es einfach mit den Sextouristinnen über das Thema zu sprechen?
Seidl: Nein, das ist tabuisiert. Viele haben mir auch berichtet, dass sie in ihrem Bekanntenkreis nicht erzählen, wohin sie reisen. Und sie vor Ort anzusprechen, wenn man sie quasi erwischt hat, war nicht leicht.

Sie arbeiten immer auch mit Laienschauspielern. Wollen Sie die eigenen Ideen und Thesen anhand von deren Geschichten überprüfen?
Seidl: Das ist mein Ansatz. Ich würde nie einen Schauspieler aus Nairobi suchen, der von diesem Milieu und von den „Beach Boys“ überhaupt keine Ahnung hat. Im besten Fall muss sich meine Hauptdarstellerin Margarethe Tiesel vorstellen können, wie das ist und warum sie so etwas macht – auch wenn sie es selbst noch nie gemacht hat. Bei den „Beach Boys“ schöpfe ich auch aus deren Erfahrung, die sollten schon Verhältnisse mit weißen „Sugar-Mamas“ gehabt haben, das war meine Anforderung.

Die „Beach Boys“ spielen also eine Rolle ihres Lebens. Wie beeinflusst das den Film?
Seidl: Sie spielen trotzdem, aber mit ihren Erfahrungen. Sie übernehmen eine Rolle in einem Spielfilm. Obwohl er sich selbst spielt, bleibt der Deckmantel, ein Schauspieler in diesem Film zu sein. Er kann für sich sagen: Ich habe eine Rolle gespielt.

Könnte man die Schauspieltätigkeit der Laien auch als eine andere Art von Prostitution betrachten, nur eben als eine Fortsetzung mit anderen Mitteln? Schließlich kommen auch Sie als Regisseur nach Kenia und bezahlen für eine Dienstleistung.
Seidl: Das finde ich nicht. Ich mache sie nicht zu Bettlern. Man findet dort unterschiedliche Welten. Eine touristische, westlich geprägte Welt, mit westlichen Preisen, die letztlich ein Ghetto innerhalb des Landes ist. Das ganze Geld dort, geht wieder ins Ausland. Die wenigen, die dort daran verdienen, sind Kellner und Putzkräfte. Viele, die vom Westen profitieren wollen, unterwerfen sich dem. Die Massai, die dort alles ausverkaufen, Kultur und Identität – das ist schrecklich anzusehen. Was ich mache, ist ein normaler Vorgang: Ich engagiere jemanden und er bekommt dafür Geld.

Zitiert

Wir leben in einer Welt voll verordneter Schönheitsideale, die medial ständig reproduziert werden.

Ulrich Seidl

Wie entstehen die Dialoge in Ihrem Film?
Seidl: Die sind alle improvisiert. Im Drehbuch stehen keine Dialoge und am Set gibt es kein Drehbuch. Meine Vorbereitung mit den Schauspielern besteht darin, ihnen ein Gefühl für den Film zu geben, ihre Rolle und meine Absicht zu erklären. Sobald das da ist, schaffen sie das mit Hilfe der Improvisation. Ich finde das Zusammenspiel von Absichten, von dem, was man erreichen will, mit dem Zufall auf der Seite der Darsteller spannend. Das ist für mich viel interessanter, als ein fertiges Drehbuch umzusetzen.

Könnten diese Zufälle auch das große Ganze, Ihre Absichten ins Wanken bringen?
Seidl: Ich weiß, wo die Reise hinführen soll. Ich bin aber wahnsinnig frei, auf dieser Reise Neues zu finden und Anderes zu verwerfen. Ich taste mich aufgrund meiner Ergebnisse vor und entscheide, was als nächstes gedreht wird, welche Richtung folgt.

In Ihrem Film spielt Geld eine besondere Rolle, es ist der Motor für alles, macht aber auch alles kaputt.
Seidl: Das erzählt der Film nach und nach. Zunächst gibt es diese romantische Vorstellung, die Suche nach einem Mann, der einen versteht und nicht fragt, wie alt ich bin, wie viel Kilo ich wiege und wie viele Kinder ich habe. Die Frauen kommen dorthin, weil die Männer das dort nicht fragen. Im Gegenteil: Sie bringen den Frauen eine große Wertschätzung entgegen. Sie schätzen sie als Liebespartner, deshalb funktioniert es auch zunächst. Es geht aber immer mehr ums Geld, was die Frau enttäuscht. Sie merkt, dass nicht sie selbst gemeint ist, sondern jemand, der Geld bringt. Und sie wird als weiße Frau betrachtet, was für viele Kenianer eine soziale Aufwertung bedeutet. Das ist immer noch so.

Warum tut es Teresa in ihrer Rolle wieder?
Seidl: Nach einer Enttäuschung hofft man, dass es beim Nächsten funktioniert. Das ist generell so, das hat mit Afrika nichts zu tun. Man geht Liebesbeziehungen ein, wird enttäuscht, trennt sich und ist sofort wieder bereit, den Nächsten kennen zu lernen.

Was sind das für Beziehungen?
Seidl: Das sind geschäftliche Beziehungen. Auch unsere Partnerschaften haben sehr viel mit Geschäft zu tun. Nicht mit Geldgeschäften, aber dahingehend, dass man immer auch vom anderen etwas erwartet. Bei diesem Sextourismus drückt sich das mit Geld aus. Die weißen Frauen bekommen, was sie bekommen wollen und die schwarzen Männer auch das ist relativ klar. Es gibt Verhältnisse, die dauern einen Urlaub lang, drei Wochen und es gibt Frauen, die das seit Jahrzehnten betreiben. Nicht unbedingt mit einem Mann, sondern wenn es scheitert eben mit dem nächsten.

Ein wichtiges Element in Ihrem Film ist auch die Machtkomponente. Teresa sucht am Ende gezielt einen Kellner auf, um ihn für seinen Dienst zu bezahlen, während sie anfangs noch nach wahrer Zuneigung sucht. Sie fordert es geradezu ein. Hat Sexualität immer etwas mit Macht zu tun?
Seidl: Ja, in Partnerschaften geht es immer um Macht und auch immer um sexuelle Macht. Es geht immer um Machtverhältnisse, die sich in der Sexualität ausdrücken. Ich weiß nicht, ob Sexualität solche Machtverhältnisse braucht, vielleicht auch nicht in so einer extremen Form, aber ich glaube man findet das in jeder Partnerschaft.

Die Geburtstagsparty-Szene, in der die Sex-Touristinnen einen Call-Boy auf alle erdenkliche Art erniedrigen, zeigt die Abhängigkeit auf schmerzhafte Weise und in epischer Breite. Wie haben die Darsteller das aufgenommen?
Seidl: Bevor ich entschied, wer welche Rolle spielt, habe ich die Frauen mit nach Afrika genommen und eine Woche lang in Verbindung mit den Schwarzen getestet. Wir haben probiert, ob sie intime Szenen spielen können und wie sich das anfühlt. Das ist nicht leicht, wenn es so körperlich wird. Meine Darstellerinnen wussten, wie hart das wird, für sie war es unheimlich schwierig, die Stimmung und Emotion zu finden. Für die Schwarzen war das Verhältnis nicht so nahe, denen konnte ich im Vorfeld sagen, was ich hier will. Es war aber nicht leicht, Männer zu finden, die bereit waren, das in einem Film zu machen. Es gibt da eine natürliche Schamgrenze und die Region um Mombasa herum ist sehr muslimisch geprägt. In Kenia sind nur 20 Prozent Muslime, aber man fühlt sich wie in einem muslimischen Land. Am Strand finden sich keine Einheimischen in Badeanzügen, alle tragen lange Kleider. Prostitution und all das findet nur in der Nacht, innerhalb der Räume statt. Im öffentlichen Bild gibt es das nicht.

Sie sagen, dass Prostitution hinter verschlossen Türen stattfindet. Durften Sie bei den Dreharbeiten alles machen?
Seidl: Es musste alles genehmigt werden. Im Nachhinein haben die Behörden mitbekommen, was für ein Film das ist, weshalb ich dort nie wieder drehen können werde. Weil der Film dem Image des Landes, wie die dort Verantwortliches es verstehen, schadet. Sie sehen Kenia anders und wollen Kenia auch anders sehen, als ein sauberes Land, in dem man sich glücklich fühlt. Das erzähle ich nicht.

Mit der Trilogie gelingt Ihnen ein besonderer Coup, Teil 1, "Paradies: Liebe", feierte Premiere in Cannes, Teil 2, "Paradies: Glaube", anschließend in Venedig und der letzte Teil wird bei der Berlinale uraufgeführt…
Seidl: Ich glaube es hat bisher noch niemand erreicht, in Serie in allen drei großen Wettbewerben zu sein. Das war nicht so geplant und ist auch nicht zu planen, hat sich aber toll ergeben. Ich hatte schon die Zusage von Venedig für alle drei Filme, dann kam aber Cannes und wollte den ersten Film haben. Es war die richtige Reihenfolge, genau so, wie ich sie am Schneidetisch festgelegt habe. Lange war es eine andere, die aber nicht funktionierte.

Was hat der österreichische Film, der in den letzten Jahren bei Festivals gut abschneidet, dem deutschen Film voraus?
Seidl: „Gut abschneidet“ ist eine starke Untertreibung. Der um Klassen besser ist, als der deutsche Film. Er hat ein Standing in Europa und der Welt. Das hat sich unbestritten so entwickelt. Möglicherweise liegt das an der Filmpolitik. Ich habe in der Zeit des Neuen Deutschen Films, der Generation von Fassbinder und Herzog, gelernt. Mit dem war es eines Tages vorbei. Das hat politische Gründe, weil man die Filmförderung auf Wirtschaftlichkeit ausgerichtet hat. In Österreich steht der kulturelle Gedanke im Vordergrund. Michael Haneke hatte, genau wie ich, die Möglichkeit sich konsequent zu entwickeln. Hanekes Filme waren lange Zeit ohne Zuschauer, waren erfolglos und wir wissen, wie es jetzt ausschaut. Was Haneke und mich auszeichnet: Wir gehen härter ran, sind kritisch. Das ist Aufgabe der Kunst und auch des Filmemachers. In Österreich entstehen Autorenfilme und nicht nur Mainstreamkino. Nur so lässt sich ein Gegenpunkt gegen das beherrschende Kino setzen.

Sie haben Ihren Film nach einem Streit von der Viennale zurückgezogen. Zählt der Prophet im eigenen Lande nichts?
Seidl: Das könnte man so sagen. Das trifft den Punkt. Es gibt in Österreich Leute, wie den Hans Hurch (Anm. Viennale-Direktor), die dem nationalen Film nicht den Rahmen geben, den er international hat. Damit hat er sich selbst geschadet.

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