Valentin Thurn

Es ist ein System, an dem wir alle unseren Anteil haben.

Dokumentarfilmer Valentin Thurn über Lebensmittel im Müll, riskante Dreharbeiten für seinen Film „Taste the Waste“ und die Verantwortung der Konsumenten

Valentin Thurn

© W-film/Klaus Wohlmann

Herr Thurn, in „Taste the Waste“ dokumentieren Sie, wie weltweit Lebensmittel in großem Ausmaß in den Müll wandern. Es scheint Ihr bisher größtes Filmprojekt zu sein…
Thurn: Ja, ich habe bereits zwei Jahre meines Lebens reingesteckt, das dritte steht jetzt bevor.

Was treibt Sie an?
Thurn: Man macht so etwas nicht, wenn man nicht fest davon überzeugt ist, dass bei diesem Thema ein Vakuum existiert. Mich hat einerseits der journalistische Instinkt angetrieben, andererseits gab es auch einen biografischen Hintergrund: Meine Mutter hat mich immer sehr stark dazu erzogen, Lebensmittel wertzuschätzen. Vor etwa fünf Jahren erzählte sie mir auch, warum: Sie war nach dem Krieg mit ihrer Mutter im Lager eingesperrt, in der Region, wo heute Jugoslawien ist. Das Essen war knapp, so knapp, dass meine Großmutter irgendwann der Kleinen ihr Essen zugeschoben hat, damit sie überlebt. Meine Großmutter selber ist dann an Typhus und an monatelanger Unterernährung gestorben. Das hat meine Mutter sehr geprägt und irgendwann hat sie dieses Thema auf mich übertragen.

In Ihrer Biografie findet sich auch das Engagement in der Umweltbewegung…
Thurn: Ja, ich habe mit 18 eine BUND-Ortsgruppe gegründet. Ich habe auch als Journalist mehr als zehn Jahre über Umweltthemen berichtet, das war ein Bereich, der mich sehr interessiert hat. Und bei „Taste the Waste“ geht es ja auch um ein Urthema der Umweltbewegung, nämlich Effizienz. Das ist vergleichbar mit dem Thema Energiesparen: Wir können noch so viel regenerative Energiequellen aufmachen, die größte Quelle um Atomstrom zu ersetzen wird das Energiesparen sein.
Ich hatte allerdings die Größenordnung unterschätzt. Und warum die Umweltverbände diese Sache nie thematisiert haben ist mir bis heute unverständlich. Alle wissenschaftlichen Studien zu dem Thema sind erst in den letzten fünf bis sieben Jahren herausgekommen, vorher war das kein Thema, auch in anderen Ländern nicht. Insofern war es mir wichtig, hier eine gesellschaftliche Debatte auszulösen.

Ein ehrgeiziges Ziel…
Thurn: Ja, wobei mir nicht klar war, dass ich am Ende tatsächlich so viel auslöse. Das ging schon bei meinem Team los: Alle, egal ob Cutter oder Kameramann, fingen aufgrund der Arbeit am Film an, in ihrem Leben etwas zu ändern.
Ich glaube, dass ich mit dem Film eigentlich nur offene Türen eingerannt habe, dass viele Menschen sowieso schon ein komisches Gefühl hatten und dachten: irgendwas stimmt da nicht. Nur so richtig bewusst hat es sich keiner gemacht. Man hätte das Ganze ja genauso vor zehn Jahren aufs Tapet bringen können, wo auch schon viel weggeworfen wurde. Dass man es nicht gemacht hat kann ich mir nur psychologisch mit dem Prozess des Verdrängens erklären. Was man ungern mag, das verdrängt man im Gehirn.

Wie schwierig war es, für einen Supermarkt eine Dreherlaubnis zu bekommen?
Thurn: Das, was in die Mülltonnen geworfen wird, wollte man uns in Deutschland gar nicht drehen lassen, aus Angst vor einem Imageschaden. Deswegen sind wir nach Frankreich ausgewichen, wo wir schließlich einen Supermarkt gefunden haben. Der dortige Betreiber ist Vorreiter bei der CO2-Kennzeichnung für seine Produkte, insofern war der aufgeklärt, dass das Wegwerfen auch klimaschädlich ist.
In Deutschland hat man uns allenfalls das Abholen von Lebensmitteln durch die Tafeln drehen lassen, aber nicht das Wegwerfen in die Mülltonnen.

Haben Sie es trotzdem versucht?
Thurn: Wir haben mit Mülltauchern gedreht, die nachts heimlich an die Tonnen der Supermärkte gegangen sind, da kam es auch öfter mal zu Auseinandersetzungen. In Berlin hat der Hausmeister eines Bio-Großmarkts unser Team eingesperrt bis die Polizei kam und die Personalien aufgenommen hat. Wir bekamen eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch und haben das ganze nur so auflösen können, in dem wir zugesagt haben, die Aufnahmen nicht zu verwenden und das betreffende Unternehmen nicht zu erwähnen.

Stehen die Bio-Märkte denn eigentlich besser da, was das Wegwerfen von Lebensmitteln anbelangt?
Thurn: Nein. Auch bei den Bio-Märkten sind die Produktnormen genauso schwachsinnig kosmetisch, weil die Kunden – wenn sie schon mehr Geld ausgeben – auch nur etwas kaufen wollen, was gut aussieht.
Man würde vielleicht denken, dass Leute, die Bio kaufen, ein bisschen informierter sind und wissen, dass ein Apfel mit Schorffleck oder eine krumme Karotte genauso gut schmeckt. Aber das ist leider nicht so, die erwarten sogar eher noch mehr.

Sie erwähnten bereits die Tafeln. In welcher Größenordnung geben Supermärkte Lebensmittel an die Tafeln ab?
Thurn: Das sind schon gute Mengen, in Berlin 12000 bis 15000 Tonnen pro Jahr. Allerdings ist das nach unseren Schätzungen noch nicht mal ein Viertel dessen was weggeschmissen wird. Viele Supermärkte geben den Tafeln auch nichts, andere wiederum können von den Tafeln nicht abgedeckt werden, zum Beispiel weil die ehrenamtlichen Mitarbeiter nur an den Wochentagen und nicht samstags kommen können. Und selbst wenn die Tafeln sich bemühen würden, überall alles abzuholen, wäre das unsinnig, denn so viele Bedürftige gibt es gar nicht. Die Lebensmittel gehen ja nur an Leute mit Hartz-4-Ausweis, die nachweislich bedürftig sind. Andernfalls würden die Supermärkte ihren eigenen Markt kaputt machen.

Stellen Sie das System Supermarkt generell infrage?
Thurn: Ich denke schon, dass die industrielle Landwirtschaft und Supermärkte an sich ein Problem sind. Ich bin allerdings nicht der Meinung, dass das System nicht reformierbar ist. Im Film stelle ich zum Beispiel ein Projekt vor, wo Leute ihr Gemüse direkt vom Bauern beziehen. Dass müssen jetzt nicht 100 Prozent der Bevölkerung machen, es reicht, wenn 5-10 Prozent das tun. Dann wäre der Druck auf die Supermärkte so groß, dass die ihre Politik auch ändern würden, die können ja nicht im luftleeren Raum agieren. Wenn die so ein breites Angebot haben, wo die Regale mit frischen Waren bis zum Ladenschluss voll sind, dann ja nur, weil der Kunde das gewohnt ist.

Haben Sie denn Märkte gefunden, die an diesem Punkt bereit sind, umzudenken?
Thurn: Ja, es gibt zum Beispiel eine Großbäckerei in Wien mit über 100 Filialen und etwa 100 verschiedenen Produkten, Brot, Brötchen, Konditorwaren etc. Wenn man diese Palette bis Ladenschluss vorhält kann es nur riesige Müllmengen geben. Also haben die sich gesagt: Aus betriebswirtschaftlichen Gründen reduzieren wir das Angebot ab 17 Uhr auf die Hälfte. Die Verkäufer wurden geschult, den Kunden ähnliche Alternativ-Produkte vorzuschlagen, damit die nicht stiften gehen – und damit haben die innerhalb von einem Jahr ihre Retouren um 30 Prozent reduziert. Ein Riesenerfolg.

Aber funktioniert das auch mit einem Supermarkt?
Thurn: Der Supermarkt hat auch frische Produkte, die schmeißen ja auch viel Brot weg, noch mehr natürlich Milchprodukte, Obst und Gemüse. Viele Produkte sind ja nur einen Tag im Angebot, Salat, Radieschen usw. Danach werden sie rausgenommen, egal in welchem Zustand die sind. Wenn man Glück hat bekommt das dann die Tafel, ansonsten wandert es auf den Müll.

Weil ein Supermarkt bestimmte gesetzliche Auflagen hat?
Thurn: Nein, da gibt es keinerlei Gesundheitsgesetzgebung, da geht es nicht um Verderb.
Sie könnten die Ware ja zum Beispiel billiger verkaufen, das machen aber leider nur sehr wenige. Oder wie bei der niederländischen Supermarktkette Jumbo: Dort können Kunden, die ein Produkt im Regal entdecken, das in zwei oder weniger Tagen abläuft, es umsonst mitnehmen. Das finde ich schlau. Die haben dafür noch nicht mal ihre Kalkulation ändern müssen.

Verpflichtet der Gesetzgeber den Handel eigentlich, auf das Haltbarkeitsdatum zu achten?
Thurn: Es gibt kaum etwas, was so viele Fehlinterpretationen nach sich zieht wie das Mindesthaltbarkeitsdatum. Wir haben sogar Filialleiter von kleinen Supermärkten getroffen, die überzeugt waren, dass sie rein gesetzlich die Produkte nach Ablauf nicht mehr verkaufen dürfen. Das stimmt aber nicht, da gibt es kein Gesetz. Es gibt nur ein Gesetz, dass Produkte gekennzeichnet werden und es ist gesetzlich festgehalten, wie die Kennzeichnung aussehen soll.
Es geht beim Mindesthaltbarkeitsdatum letztendlich auch nicht um irgendwelche Gesundheitsgefahren, sondern darum, dass bis zu diesem Datum eine bestimmte Eigenschaft des Produktes zugesichert ist, beispielsweise dass ein Joghurt cremig ist. Und nach diesem Datum geht die Haftung vom Hersteller auf den Händler über. Der Händler hat aber keine Lust, wenn einer sich den Magen verrenkt, die Haftung zu übernehmen, also schmeißt er es lieber weg.

Allgemein betrachtet, woher kommt diese Entwicklung, dass so viel Lebensmittel weggeworfen werden? Geht die von der Industrie aus oder tragen wir als Konsumenten die Schuld?
Thurn: Es ist schon beides. Es ist ein System, an dem wir alle unseren Anteil haben, in dem wir im Supermarkt eben nur Produkte kaufen, die besonders schön aussehen. Das führt zu kosmetischen Standards und die sorgen für Müll nicht nur im Supermarkt, sondern schon vorher in der Landwirtschaft, wo danach bereits aussortiert wird.
Aber es liegt auch an dieser unseligen kapitalistischen Wachstumslogik: Wenn ich mehr produziere kriege ich mehr verkauft. Ich kenne ein Beispiel von einem Discounter, der zuerst eine 500g-Leberwurstpackung im Angebot hatte, bis er sie irgendwann durch eine 250g-Packung ersetzt hat, die ein bisschen mehr als halb so teuer war. Dann hat er aber festgestellt: er verkauft immer noch die gleiche Stückzahl, die Leute brauchen offenbar gar nicht so viel Leberwurst. Und weil das nicht gut für den Umsatz war, ist er wieder zurück auf die 500g-Verpackung umgestiegen. Bei so einem verderblichen Produkt wie Leberwurst ist klar, dass da jetzt auch wieder mehr weggeworfen wird. Aber so ist unsere Wirtschaft nun mal strukturiert.

Zitiert

Ich bin weder ein Polemiker noch der nüchterne Journalist.

Valentin Thurn

Sie sprechen im Film davon, dass etwa die Hälfte der produzierten Lebensmittel im Abfall landet. Woher nehmen Sie diese Zahlen?
Thurn: Es gibt eine neue Metastudie der Welternährungsorganisation FAO, die von einem Drittel weltweit spricht. In den Industrieländern ist es aber eher mehr und ich denke, dass unsere Schätzung von etwa 50 Prozent – die letztendlich auch von der FAO stammt – dem tatsächlichen Stand entspricht.

Was gilt in dieser Statistik als weggeworfen, als Müll?
Thurn: Wir haben nicht mitreingerechnet, wenn ein Lebensmittel noch auf irgendeinem Umweg konsumiert wird, wenn also Äpfel doch noch zu Saft gemacht werden ist das kein Müll. Anders ist es, wenn etwas, das eigentlich für den menschlichen Konsum angebaut wurde, auf dem Kompost landet, zu Biogas verarbeitet, oder in einer Müllverbrennung vernichtet wird.

Wie stehen Sie denn zu den Alternativnutzungen?
Thurn: Die oberste Maxime ist es natürlich, das Wegwerfen zu vermeiden. Danach wäre für mich die erste Alternative, es an Tiere zu verfüttern, was leider aus Angst vor Seuchen bei ganz vielen Produkten nicht mehr gemacht wird, zumindest nicht in Europa. In Ostasien ist man dagegen der Meinung, das man das in den Griff kriegen kann. Danach käme für mich die Biogasproduktion und dann der Kompost.
Die Supermärkte sind schon auf der Suche nach Alternativnutzungen, aber es ist einfach so viel, dass sie gar nicht mehr richtig wissen, wie und wohin. Ein Bäcker fängt an, sein Brot zu verbrennen, weil er nicht mehr weiß, wo er hinsoll mit dem Zeug.

Was können Sie zum Verhältnis der Menschen zu Lebensmitteln in den verschiedenen Ländern sagen, in denen Sie gedreht haben?
Thurn: Wir waren gerade in Kamerun, wo wir den Film auf einem Festival vorgestellt haben. Die Fragen vom Publikum dort waren sehr interessant, weil sie den Lebensmitteln noch eine ganz andere Wertschätzung gegenüber bringen.
Wenn man nach Japan schaut, dort gibt es zwar auch eine hohe Wertschätzung, trotzdem schmeißen sie wahrscheinlich noch mehr weg als wir Europäer – und bei den Amerikanern ist es wieder mehr. Allerdings sind wir nicht in verschiedene Länder gegangen, um zu zeigen, dass die Japaner und Amerikaner noch schlimmer sind, sondern um deutlich zu machen, dass das Problem ein globales ist. Und dass auf der anderen Seite in den verschiedenen Ländern auch unterschiedliche Alternativmodelle existieren. In den USA bringt die verschwenderische Gesellschaft eben auch sehr radikale Lösungen hervor.  Die „Community-supported Agricultures“ (dt. Landwirtschaftsgemeinschaftshöfe; hier nimmt der Verbraucher über einen vereinbarten Zeitraum Gemüse direkt vom Bauern ab) greifen dort den Handel frontal an und machen den Supermarkt im Bereich Gemüse überflüssig.

Im Supermarkt kauft man dann nur noch das Olivenöl und den Reis?
Thurn: Ja, ich persönlich mache das auch so. Ich habe so eine Art Gemüseabo, wo ich meine Gemüsekiste mit frischen Sachen bekomme und Produkte, die länger halten hole ich im Supermarkt.

Sie haben in einem Interview gesagt, je größer die Supermarktketten werden, desto mehr werfen sie weg. Wie hängt das zusammen?
Thurn: Das Problem liegt in der Marktmacht. Je mehr Marktmacht die Ketten bekommen, desto eher können sie die Preise in der Landwirtschaft drücken und auch ihre Standards durchsetzen. Und diese Standards sind nur kosmetischer Natur, es gibt keine Standards, die mit Geschmack oder Ernährungsqualität zu tun haben. Es ist schon sehr verwunderlich, dass diese Standards sich bei Lebensmitteln immer nur an dem Aussehen und der Größe orientieren, anstatt das nach einer echten Qualität gesucht wird.

Wie ist es eigentlich bei Fastfood-Ketten? Fällt da nicht weniger ab, weil das Angebot hauptsächlich aus aufgewärmter Tiefkühlware besteht?
Thurn: Nein. Ich kann es zwar nicht für Deutschland sagen, glaube aber, dass es sich nicht wesentlich von den USA unterscheidet. Dort hat ein Forscher mal über Jahre in den Tonnen von Wendy’s rumgewühlt und auch das gefunden, was er erwartet hatte, gefrorene Hühnchen usw.
Die Schnellrestaurants haben einen „Frozen Storage“, der voll sein muss, damit der Kunde jederzeit das kriegt, was er will. Sonst geht der zur Konkurrenz und ein verlorener Kunde ist für die schlimmer als ein weggeworfener Warenwert. Die schmeißen lieber weg als den Kunden zu verlieren. Also halten sie immer so viel vor, dass es in jedem Fall die höchsten Spitzen abdeckt.

„Taste the Waste“ ist neben aller Sachlichkeit auch ein emotionaler Film, beispielsweise wenn Sie eine afrikanische Arbeiterin in einem französischen Großmarkt zeigen, die Gurken aus ihrer Heimat in den Müll werfen muss. War diese Emotionalisierung beabsichtigt oder Zufall?
Thurn: Es war beides. Ich hatte schon früh in einem Exposé einen Müllmann drin, der auf dem Großmarkt arbeitet und aus Kamerun kommt, wo ich mir dachte: So einen müsste man für den Film finden, jemanden, der diesen Unterschied in der Wertschätzung repräsentiert. Wir waren ja auch mal so, dass wir jedes Krümelchen geschätzt haben, nur hat es sich heute verloren, weil wir alles in so einem Überfluss haben, weil unser Leben so hektisch ist und wir auch von der Landwirtschaft weit weg sind.
Die Frau die wir jetzt zeigen, sortiert in ihrem Betrieb Gemüse aus, dass sie aus Kamerun kommt, war aber purer Zufall. Das Drehbuch schreibt die Realität, solche Protagonisten kann man nicht am Telefon eruieren, das kam spontan zustande. Dass sie dann als Person eine solche Power hatte und beim Zuschauer etwas auslöst konnten wir vorher nicht wissen. Sie transportiert offenbar sehr gut dieses Gefühl, dass hier in unserem System etwas falsch läuft.

Wie wichtig ist Emotionalisierung, um das Thema an den Mann zu bringen?
Thurn: Ich finde schon, dass Emotionalisierungen wichtig sind, um auch Zuschauer zu erreichen, denen ein rein sachlicher Bericht zu dröge ist. Es ist aber auch dieses Thema, das sich nicht nur im Kopf abspielt sondern auch sehr stark mit unseren Gefühlen verbunden ist. Ich hatte das Emotionale von Anfang an beabsichtigt. Am Ende ist es die Mischung zwischen Emotionen und harten Fakten, die zusammen passen muss. Das interessiert mich.

Wie stehen Sie zu Erwin Wagenhofers „We feed the World“, was die filmische Herangehensweise anbelangt?
Thurn: Jeder hat so seinen Stil. Ich finde, mein Film ist gar nicht so weit weg von Wagenhofer, ich schätze das, was er gemacht hat, sehr. Es war aber vor fünf Jahren eine etwas andere Zeit, bei ihm blieben die Leute damals im Kinosessel zurück und dachten: „Oh Gott, ist das alles schlimm!“ Das wollten wir jetzt anders machen, weil wir inzwischen in der Diskussion ein bisschen weiter sind, wir wollten auch viele Lösungsmodelle aufzeigen. Das ist vielleicht der Hauptunterschied.
Ansonsten ist Wagenhofer vielleicht noch ein bisschen einseitiger gewesen. Ich bin eher jemand, der sich dann auch in den Supermarktbetreiber versetzt und überlegt: Warum macht der so einen Scheiß? Warum vernichtet der Warenwert? Das ist doch unlogisch!
Also, ich bin nicht der reine Polemiker. Andererseits habe ich auch beobachtet, dass Wagenhofer viele Leute politisiert hat, unglaublich viele Menschen haben aufgrund von seinem Film angefangen, ein Gartenbauprojekt oder Ähnliches zu starten – super, toll!

Und was halten Sie von Michael Moore, der, was die Einseitigkeit anbelangt, ja noch weiter geht?
Thurn: Moore inszeniert sicher bis zum Gehtnichtmehr, das ist nicht mein Stil, trotzdem finde ihn klasse. Ich amüsiere mich und denke, es ist in Ordnung.
Ich selbst komme halt aus dem Journalismus, wo man sehr stark dran gemessen wird, wie gut man seine Fakten recherchiert hat. Wir haben für „Taste the Waste“ Papierberge durchrecherchiert. Es gab ja keine vernünftigen Studien, also musste ich mir die Puzzlestücke aus aller Welt zusammen sammeln. Und ich hatte das Bedürfnis, das so gründlich zu machen, dass mich keiner angreifen kann.

Verbindet sich für Sie mit der Arbeit als Journalist auch eine gesellschaftliche Verantwortung?
Thurn: Ja. Ich erinnere mich da an ein besonders schönes Lob, das ich von einer Redakteurin bekam, die diesen Film mit unterstützt hat. Sie sagte: „Mensch Valentin, du hast mir wieder gezeigt, wofür ich diesen Job eigentlich mal angefangen habe.“ Ich mache diesen Job tatsächlich… Also wenn jetzt jemand dafür das Wort „Weltverbesserer“ verwendet – ja, bin ich.

Und Sie machen wenig Projekte, die sich diesem Anspruch nicht unterordnen lassen?
Thurn: Ich mache keine PR, damit könnte ich natürlich mehr Geld verdienen. Andererseits bin ich nur gut, wenn mich etwas interessiert. Mich haben auch Redakteure für Projekte gefragt, wo ich erst überlegt habe „Frauenbeschneidung, bin ich da der Richtige dafür?“ Dann habe ich mich damit beschäftigt, fand das total spannend und habe gesagt: „Ja, mache ich.“
Mich haben immer Themen interessiert, die gesellschaftlich relevant sind.

Reich wird man als Dokumentarfilmer aber wahrscheinlich nicht.
Thurn: Also, die langen großen Kinodokumentarfilme sind tatsächlich nicht sehr lukrativ, da sind kurze Stücke fürs Fernsehen lukrativer. Wir sind mit „Taste the Waste“ auch noch in den roten Zahlen, wenn es ein Kinoerfolg wird, vielleicht nicht mehr.

Sind Sie im Fall von „Taste the Waste“ nicht nur Regisseur sondern auch als Aktivist?
Thurn: Ja. Wobei die Redakteure der ARD, wo der Vorläuferfilm ausgestrahlt wurde, wahrscheinlich zusammengezuckt wären, hätte ich da das Wort „Kampagne“ in den Mund genommen. Die mögen es nicht so gerne, wenn man sich als Journalist mit einer Sache gemein macht.
Beim Kino ist das anders, da kann man nicht genug Meinung haben.

Und wo sehen Sie sich, eher im subjektiven oder im objektiven Bereich?
Thurn: Ich schwebe irgendwo dazwischen. Ich habe eine Meinung, die drücke ich auch aus, aber ich respektiere genauso die Meinung der anderen. Ich bin weder ein Polemiker noch der nüchterne Journalist. Diese Haltung hatte ich eigentlich immer schon. Denn das, was die Leute als Objektivität predigen, das gibt es sowieso nicht. Wir wählen aus. Auch ein Dokumentarfilm, der Realität zeigt, ist eine Interpretation der Realität und wir wollen damit etwas aussagen. Wir bewegen damit etwas, da hat man eine große Verantwortung. Es ist so eine Mischung aus Faktentreue und trotzdem-engagiert-sein. Ich würde das Wort „objektiv“ dafür nicht in den Mund nehmen, mein Ziel ist es viel mehr, fair zu sein. Um eben auch die andere Seite fair zu betrachten.

Über welche Reaktionen auf den Film sind Sie bereits zum jetzigen Zeitpunkt erfreut?
Thurn: Mich hat zum Beispiel umgehauen, dass sich wenige Tage nach der ARD-Ausstrahlung das NRW-Landwirtschaftsministerium bei uns meldete und sagte: Wir machen jetzt einen runden Tisch, bringen die ganzen Leute zusammen und machen eine Kampagne gegen Lebensmittelverschwendung. Die sind zwar gar nicht zuständig, denn das ist eigentlich der Bund, aber auf Landesniveau konnten sie auch einiges machen. Sie konnten zum Beispiel Studien in Auftrag geben, da liefert der Handel jetzt anvisierte Zahlen…

Und welche Hoffnungen haben Sie für die nächsten Monate und Jahre?
Thurn: Ich wünschte, wir kämen so weit, wie man heute schon in Norwegen ist. Dort hat das Thema so einen Schwung gekriegt, dass Handelsketten namentlich ihre Müllmengen publizieren und so quasi in Wettbewerb miteinander treten. Die NGO Nofima ist dort mit dem Thema sehr stark in die Öffentlichkeit gegangen, man hat sich Experten aus England geholt und eine Transparenz bei den Zahlen reingekriegt, die bei uns undenkbar ist. Es wäre doch schön, wenn Aldi, Rewe, Edeka & Co eines Tages ihre Zahlen veröffentlichen und in einen positiven Wettbewerb treten würden, wer weniger Lebensmittel wegwirft.

Valentin Thurn wurde 1963 in Stuttgart geboren. Er studierte in Deutschland, Frankreich und Spanien, ist Diplom-Geograph und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Seit 1990 drehte er zahlreiche mehr

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