Frau Bentele, Sie gelten in Deutschland nicht nur als erfolgreichste behinderte Sportlerin, Sie haben auch den Kilimandscharo bestiegen, sind Bungee gesprungen und Häuserfassaden hinabgeklettert. Brauchen Sie den gewissen Kick in Ihrem Leben?
Verena Bentele: Ich mag es, immer wieder diese Grenzerfahrung zu haben und etwas Neues auszuprobieren. Momentan trainiere ich für den längsten Radmarathon Europas von Trondheim nach Oslo.
Sie haben sich nach Ihrem schweren Sportunfall zurück in die Erfolgsspur gekämpft. Baut Sie diese Erfahrung, dass man es auch von ganz unten nach ganz oben schaffen kann, heute noch bei Niederlagen wieder auf?
Bentele: Ja. Wenn man einmal gelernt hat, auf die Zähne zu beißen und sich durchzukämpfen, dann kann man diese Fähigkeit später immer wieder abrufen.
Was haben Sie noch vom Sport fürs Leben gelernt?
Bentele: Bei meiner Arbeit ist manches dabei, wo ich mich reinarbeiten muss und nicht gleich am nächsten Tag den Erfolg sehe. Gerade dann helfen die Erfahrungen aus dem Sport sehr. Es sind immer vier Jahre bis zu den nächsten Paralympics. Und in meinem Job zählen auch vier Jahre. Das ist eine schöne Parallele für mich.
Ich muss mich noch ein bisserl eingewöhnen.
Wären Sie nicht bei den Paralympics sondern bei den Olympischen Spielen angetreten, hätten Sie vielleicht schon finanziell ausgesorgt. Ärgern Sie die unterschiedlich hohen Prämien und die sicher auch unterschiedlich hohe Unterstützung durch Sponsoren?
Bentele: Nein, aber es ist schade, dass es diesen riesigen Unterschied gibt. Der Markt bestimmt Angebot und Nachfrage. Aber ich vergleiche mich nicht ständig mit den anderen, ich gönne den olympischen Sportlern ihren Erfolg. Für mich ist wichtig, dass paralympische Athleten gute Rahmenbedingungen haben für ihren Sport und, dass sie durch Erfolg im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Wo sehen Sie Verbesserungsbedarf?
Bentele: Gerade in Sotchi ist deutlich geworden, dass wir in den nächsten Jahren noch viel mehr mit den Vereinen der olympischen Sportler zusammen arbeiten müssen, nur so ist der paralympische Sport im Bewusstsein aller Sportfans eine Selbstverständlichkeit. Wichtig ist mir außerdem die Nachwuchsförderung, nur wenn gemeinsames Training in Verein und Schule stattfindet, werden wir Nachwuchs für den Spitzensport begeistern.
Wie schwer ist es Ihnen gefallen als Behindertenbeauftragte der Bundesregierung nicht zu den Paralympics nach Sotchi zu reisen, um während der Krim-Krise ein Zeichen gegen das Verhalten des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu setzen?
Bentele: Kurz vor meiner Abreise wurde entschieden, dass das Zeichen gesetzt wird. In die Entscheidung der Bundesregierung war auch ich einbezogen. Aber es ist mir super schwer gefallen. Ich kannte alle deutschen Sportler, ich hätte sie sehr gern unterstützt und bei ihren Medaillen gejubelt. Es war seit 1998 das erste Mal, dass ich nicht selbst gestartet bin.
Im Sport haben Sie Ihre Erfolge nur durch das „Verlassen Ihrer Komfortzone“ erreicht, wie Sie in Ihrem Buch „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ schreiben. Politik ist ein sehr mühsames Geschäft, vor allem wenn es ums Geld geht. Haben Sie lange überlegen müssen, ob Sie dafür Ihre Komfortzone erneut verlassen?
Bentele: Ich habe nicht so ganz lange überlegt, weil die Zeit dafür nicht da war. Sich in die Netzwerke und Strukturen der Politik zu begeben ist ein Riesenschritt und vor allem ist meine Aufgabe mit großen Erwartungen und mit Verantwortung verbunden.
Im Internet wurde unter den Behinderten kontrovers über Ihre Ernennung diskutiert. Einige kritisieren, dass Ihnen eben das politisches Netzwerk und ohne Abgeordnetenstatus auch die politische Unabhängigkeit für diese Position fehlt. Was entgegnen Sie auf solche Kritik?
Bentele: Ich frage mich immer, ob ich nicht viel unabhängiger bin als jeder Abgeordnete, der in seinen Entscheidungen an die Fraktion gebunden ist. Ich habe ein gutes Netzwerk, weil ich viele politischen Entscheider durch meine Zeit als Sportlerin kenne. Ich sehe meinen Vorteil auch darin, dass ich mir die Strukturen von außen anschauen und hinterfragen kann. Es gibt wohl für keinen politischen Job die optimale Besetzung. Hätte ich keine Behinderung, würde es beispielsweise auch zu diesem Thema kritische Stimmen geben.
Die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat sich für Ihre Ernennung eingesetzt. Wie kritisch können Sie ihre Entscheidungen im Sinne der Behinderten begleiten?
Bentele: Andrea Nahles wusste gut genug, dass sie sich mit mir keinen Ja-Sager ins Haus holt, der alles gut findet. Wenn es um Eingliederungshilfe geht und die finanziellen Dinge im Vordergrund stehen, bin ich diejenige, die auf die Inhalte pocht. Ich sage ihr, wenn mir etwas nicht gefällt und dass ich von ihr in den nächsten Jahren eine positive Veränderung für die Menschen mit Behinderungen erwarte.
Sie sind die erste Behindertenbeauftragte mit Behinderung. Hätte die Stelle schon viel früher so besetzt werden müssen?
Bentele: Es ist mit Sicherheit gut, weil ich die Interessen von Menschen mit Behinderung authentisch vertreten kann. Ich glaube nicht, dass man per se sagen kann, dass alle Beauftragten ohne Behinderung das schlecht gemacht haben.
Halten Sie eigentlich Ihre Job-Bezeichnung „Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen“ für gelungen?
Bentele: Nein, ich finde den Titel sehr sperrig. Wenn uns eine griffigere Jobbezeichnung einfallen würde, wäre das super. Ich bin ja eigentlich Literatur- und Sprachwissenschaftlerin, vielleicht sollte ich mich darum demnächst kümmern.
In Deutschland wird immer viel über vermeintlich diskriminierende Begriffe diskutiert, einige bevorzugen „Menschen mit Handicap“ statt „Menschen mit Behinderung“. Ist so etwas für Sie wichtig?
Bentele: Man muss über Begrifflichkeiten immer offen diskutieren. Ich weiß nicht, ob „Handicap“ jetzt so viel besser als „Behinderung“ ist. In dem Begriff steckt ja auch, dass Menschen nicht behindert sind, sondern behindert werden. Das ist eine wichtige Aussage. Wären beispielsweise an allen Bahnhöfen die Fahrkartenautomaten mit einem Sprachsystem ausgestattet, könnte ich mein Ticket alleine kaufen. Weil es diese Vorrichtung jedoch nicht gibt, werde ich im Alltag behindert.
Ihre ebenfalls behinderte Sportlerkollegin Kirsten Bruhn meint, dass andere Länder wie Skandinavien, England und die USA bei der Barrierefreiheit deutlich weiter als Deutschland sind. Haben Sie das bei Ihren zahlreichen Reisen auch so empfunden?
Bentele: Gerade bei Beschriftungen in Aufzügen oder beim Umgang mit Menschen mit Behinderungen sind andere Länder viel weiter. In London fand ich es zum Beispiel richtig beeindruckend, wie die Leute am U-Bahnhof Rücksicht auf Menschen mit Behinderung genommen haben.
Was ist der Grund für diese Unterschiede?
Bentele: Die politischen Rahmenbedingungen sind in anderen Ländern unterschiedlich. In Skandinavien stellt zum Beispiel keiner in Frage, dass die meisten Kinder inklusive Schulen besuchen. Da haben wir großen Nachholbedarf. Das hat mit Sicherheit historische Gründe.
Barrierefreiheit, die Inklusion von behinderten Kindern in Kitas und Schulen, die ausreichende Finanzierung von Hilfsmitteln – in der Behindertenpolitik sind dicke Bretter zu bohren. Womit wollen Sie anfangen?
Bentele: Die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen ist einer meiner Schwerpunkte. Der andere ist auf jeden Fall das Thema Arbeit. Wie können Menschen mit Behinderung einen Beruf finden, in dem sie sich entfalten können und genauso Teil der Arbeitswelt werden wie Menschen ohne Behinderung? Entscheidend finde ich auch die Bewusstseinsbildung: Wie können Menschen mit und ohne Behinderung ohne Barrieren im Kopf miteinander umgehen?
Einige Unionspolitiker setzen sich dafür ein, dass ein Teil der Förderschulen für schwer mehrfach behinderte Kinder erhalten bleibt. Auch einige Eltern befürworten diesen speziellen Schutzraum für ihre Kinder. Was ist in Ihren Augen die beste Lösung?
Bentele: Wir sollten uns nicht mehr damit auseinandersetzen, ob Inklusion funktioniert oder ob wir vielleicht doch besser die Förderschulen bestehen lassen. Kinder in Förderschulen zu separieren ist keine Inklusion. Auf Dauer kann es keine Parallelstrukturen geben. Im Moment haben alle Eltern Angst, dass ihre Kinder untergehen könnten und viele Lehrer haben keine Qualifikation für den inklusiven Unterricht. Wer glaubt, Inklusion wäre ein Sparmodell, hat sich getäuscht. Eine Schule für alle Kinder, in der es auch für ein mehrfach behindertes Kind einen guten Platz gibt, wird keine Sparmaßnahme.
Die Inklusion in Schulen ist Teil der UN-Behindertenrechtskonvention. Unter anderem der Deutsche Behindertenrat kritisiert immer wieder die mangelnde Umsetzung. Wann kommt Deutschland seiner internationalen Verpflichtung nach?
Bentele: Ich tue mich schwer mit solchen Prognosen. Jetzt zu sagen, dass wir in fünf Jahren die volle Inklusion wollen und dabei die Qualität aus dem Blick verlieren, ist kein guter Weg.
Was kann der nicht-behinderte Teil der Bevölkerung zur Umsetzung der Konvention beitragen?
Bentele: Offen mit Menschen mit Behinderungen und ihren Bedürfnissen umgehen und klar sagen: „Hier findet eine Benachteiligung statt“, wenn man sie selbst sieht. Wenn es am U-Bahnhof keine Aufzüge gibt, dann können das durchaus auch mal Menschen ohne Behinderung kritisieren. Die Aufzüge können sie im Alter vielleicht auch noch brauchen.
In München konnten Sie auf dem Weg zum Bahnhof nebenher noch Ihre Telefonate erledigen, wenn man Ihnen nicht gerade einen Baucontainer in den Weg gestellt hat. Wie kommen Sie nach drei Monaten in Berlin klar, wo auch an jeder Ecke gebaut wird?
Bentele: Mein Tag ist so getaktet, dass ich meistens schnell irgendwo hin muss und deshalb viel mit dem Auto fahre. Ich habe mir von einer Orientierungstrainerin die ersten Wege erklären lassen, aber auf neuen Wegen muss ich mich natürlich noch sehr konzentrieren. Berlin ist riesig und hektisch. Ich muss mich noch ein bisserl eingewöhnen.
Sie führen ein sehr unabhängiges und selbstständiges Leben. Was schätzen Sie, wie viele der laut Statistischem Bundesamt 7,3 Millionen Schwerbehinderten in Deutschland, von denen 62 Prozent körperlich behindert sind, können das auch?
Bentele: Das Umfeld trägt bei Menschen mit Behinderungen stark dazu bei, wie selbstständig sie sind. Es ist mit dem Bundesteilhabegesetz mein großes Ziel, dass Menschen mit Behinderungen selbst entscheiden können, wann und von wem sie welche Hilfe benötigen. Es gibt auch Dinge, die ich nicht alleine kann. Ich habe keine Chance im Bundesarbeitsministerium einen bestimmten Raum zu finden, weil die Türnummern dort nicht in Blindenschrift stehen. Die Rahmenbedingungen in unserer Gesellschaft sind oft noch nicht so, dass Menschen mit Behinderungen das Leben führen können, das sie führen wollen.
Hat Ihre Selbstständigkeit auch viel mit Ihrem familiären Umfeld zu tun, mit dem Freiraum, den Ihre Eltern Ihnen und Ihrem blinden Bruder gegeben haben?
Bentele: Ja. Meine Eltern haben uns viel zugetraut und Verantwortung gegeben. Wir haben den Tisch gedeckt, die Spülmaschine ausgeräumt und die Ponys versorgt. Verantwortung übernehmen, das wollen alle Menschen und darüber lernen sie.
Sie wirken nicht so, dass Sie mit Ihrer Blindheit hadern würden. Gibt es trotzdem eine Situation, in der Sie stark bedauern, nicht zu sehen?
Bentele: Es gibt bei mir auch diese Momente. Besonders, wenn ich merke, dass ich auf andere angewiesen bin und die keine Lust haben, mir zu helfen. Ein Berliner Taxifahrer hat mich vor der Hausnummer 30 statt 29 rausgelassen und gesagt, das wäre nicht sein Problem. Ich war richtig sauer. Es war dunkel und ich stand an einer großen Kreuzung, wo ich mich nicht auskannte. Hätte ich sehen können, wäre es einfach gewesen. Das sind Momente, in denen ich mich ärgere.
Was nervt Sie am meisten: Wenn Menschen Ihren Assistenten statt Sie ansprechen, wenn Sie einfach angefasst werden, um Sie irgendwo hinzubringen oder wenn man Sie über Ihren Alltag als Blinde ausfragt?
Bentele: Dass mich Menschen ausfragen, gehört dazu. Ich erkläre jeden dritten Tag, ob ich träumen kann. Aber wenn Menschen mich einfach anfassen oder meine Begleitung ansprechen: „Ist das die Verena Bentele?“, dann finde ich das ziemlich komisch.
Sie haben einen neuen Job und sind 32 Jahre alt. Für viele Frauen ist das die Rushhour des Lebens, sie wollen Karriere machen, aber auch ihren Kinderwunsch umsetzen. Bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie hapert es aber in Deutschland noch erheblich. Haben Sie schon einen Plan?
Bentele: In den nächsten Jahren kann ich mir das in meinem Job mit einem Kind überhaupt nicht vorstellen. Ich gehöre zu den Frauen, die bisher immer nur die Karriere – erst im Sport, jetzt im Job – gesehen haben. Um mich herum bekommen gerade alle Kinder und da sehe ich, wie schwer es mit Kindern und Job ist.
Würden Sie sagen, dass die Frauen in Deutschland bei der Umsetzung ihrer Lebensentwürfe behindert werden?
Bentele: Das finde ich schon. Es gibt zum Beispiel viel zu wenige Führungspositionen, die sich zwei Frauen teilen können. Manche Frauen lassen es aber auch zu, dass sie behindert werden. Wir müssen da noch viel mehr auf die Barrikaden gehen und für unsere Rechte kämpfen. Frauen werden in Deutschland noch eine ganze Zeit nicht die gleichen Karrierechancen wie Männer haben.