Frau Ferres, eine einfache Frage zu Beginn: Warum sind Sie Schauspielerin geworden?
Ferres: Weil ich gerne Geschichten erzähle. Und weil ich mich in den Dienst der Geschichten stellen möchte. So sehe ich den Beruf des Schauspielers. Wir wollen jede Sekunde auf der Bühne oder vor der Kamera das Beste geben. Der Regisseur ist derjenige, der die Visionen hat und wir sind seine Instrumente.
Und ich bin Schauspielerin geworden, weil ich den Traum hatte, die Menschen emotional zu berühren, durch meine Filme die Menschen vielleicht zu mehr Toleranz, Rücksichtnahme, Gerechtigkeit und sogar Liebe zu bewegen.
War das auch die Motivation für den Film „Neger, Neger, Schornsteinfeger“? Ferres: Mir ist das Plädoyer gegen Rassismus sehr wichtig. Mit so einem Film hat man die Chance, eine politische Botschaft einem breiten Publikum näher zu bringen. An die Theorie, dass Theater oder Film die Menschen nicht ändert, glaube ich nicht. Ich denke, dass die Kunst die Menschen tief berühren und aufwühlen und zum Nachdenken bringen kann. Somit kann die Kunst schon im Kleinen etwas verändern und Meinungen prägen.
Und wenn man als Schauspieler noch die Chance hat, durch eine Rolle politisch Stellung zu beziehen, was mir eine Herzensangelegenheit ist, dann ist das ein großes Geschenk.
Der Film gab ihnen die Möglichkeit, ein politisches Statement auszudrücken. Er war aber auch schauspielerisch eine große Herausforderung. Was überwog?
Ferres: Wenn man beides miteinander vereinbaren kann, ist das toll. Und was überwiegt? Sicherlich erst einmal die Arbeit, die knochenhart ist. Die Vorbereitung einer historischen Rolle bedarf sehr viel Sorgfalt und großer Verantwortung, um den historischen Figuren in der Darstellung gerecht zu werden. Zumal sich in „Neger, Neger, Schornsteinfeger“ die Geschichte ja über einen Zeitraum von 19 Jahren erstreckt, mit sehr unterschiedlichen Lebensphasen: die verliebte, junge Mutter, die hofft, dass ihr Mann wiederkommt und sie nicht sitzen lässt, später die schon etwas gebrochene Alleinerziehende eines unehelichen, farbigen Kindes und dann die Mutter des farbigen Kindes, das die Gaskammer Hitlers überlebt … Als ich den Roman gelesen habe, dachte ich bei jeder Seite, das kann nicht wahr sein. Ich saß da mit offenen Mund und konnte das Schicksal des farbigen Jungens nicht fassen.
Eine Schlüsselszene im Film, die für die Absurdität des Hitlerregimes steht, ist für mich, als der Farbige, dem man ja ansieht, dass er ein „Staatsfeind“ ist, seine Mutter anbettelt, in die Hitlerjugend eintreten zu dürfen. Wie subtil müssen damals die NS-Strategen gearbeitet haben, dass sogar ein Opfer den Dolchstoss des Mörders sucht? Dieses Regime war hochgefährlich und gleichzeitig für viele als das Böse nicht zu erkennen. Es war subtil und nicht greifbar.
Hat der Film da auch ihr persönliches Geschichtsbild beeinflusst?
Ferres: Er hat meine Sichtweise insofern verändert, als dass ich jetzt mehr Verständnis dafür habe, warum sich so viele Menschen in den Bann des Nationalsozialismus haben ziehen lassen. Bei einer Pressekonferenz zum Film ist sogar eine Jüdin aufgestanden und hat gesagt „Viele Juden hätten auch gerne dazugehört. Aber sie durften ja nicht.“
Sie erwähnten bereits die Verantwortung, die Sie als Schauspielerin in einem historischen Film tragen – ist da auch der Druck größer?
Ferres: Ich liebe die Herausforderung und erlebe eine große Erfüllung bei meiner Arbeit. Natürlich ist es ein langer Weg, wenn man drei Monate lang jeden Tag vor der Kamera steht und diese Verantwortung zu tragen hat. Aber das war keine Last für mich, die Spielfreude hat überwogen. Ich bereite mich so gut vor, wie ich kann. Dabei ist das Drehbuch die Bibel, das Hauptarbeitsmittel.
Und wie haben Sie sich über das Drehbuch hinaus vorbereitet?
Ferres: Durch den Roman, durch die Gespräche mit dem Autor Hans-Jürgen Massaquoi, durch Gespräche mit meinem Vater, der 1929 geboren ist und bei Kriegsbeginn zehn Jahre alt war. Er hat mir erzählt, dass sein Vater – also mein Großvater – sich geweigert hatte, der SS beizutreten und dann verraten wurde. Eines morgens klingelten sie an der Tür und haben ihn als einen der ersten in den Krieg eingezogen und als Frontfutter verbraucht. Er kam dann nach einigen Jahren als Kriegskrüppel zurück und sprach kein Wort mehr in seinem Leben. Mein Vater musste deswegen schon mit 13, 14 Jahren die ganze Familie ernähren, da er der einzige Mann war. So hat dieses Drama auch die Familie meines Vaters zerstört.
Inwiefern sind solche persönlichen Erfahrungen denn wichtig für eine Rolle?
Ferres: Mich hat mal jemand gefragt, ob ich dadurch, dass ich Kinder habe, meine Mutter-Rolle im Film besser spielen konnte. Ich denke, dass meine schauspielerische Arbeit unabhängig davon sein muss, ob ich nun Mutter bin oder nicht. Ich habe auch schon Mütter gespielt, bevor ich selber Mutter wurde. Ich glaube nicht, dass ich, wenn ich eine Mörderin spiele, erst mal auf die Strasse gehen und jemanden erschießen muss. Meine Phantasie muss so groß sein, dass jede Rolle eine potentielle Schwester von mir sein kann. Und eine Schwester hasse ich in einem Moment, im anderen liebe ich sie, verstehe oder verstehe sie mal nicht, verzeihen werde ich ihr fast immer, die emotionale und seelische Verbindung ist ganz stark.
In „Neger, Neger Schornsteinfeger“ spielen Sie Bertha Baetz, die am Anfang Mitte 20 ist, später Ende 30. Wie macht man das, wie spielt man die Jüngere und wie die Ältere?
Ferres: Das war in diesem Fall sehr schwer, da wir nicht chronologisch gedreht haben, sondern am Tag oft zwei Umschwenkphasen hatten. Das heißt, ich habe in der Früh mit dem ganz kleinen, sechsjährigen Sohn gespielt, mittags mit dem Elfjährigen und abends mit dem 18, 19-Jährigen, an manchen Tagen mit dem Neugeborenen. Da jedes Kind gesetzlich sechs Stunden am Tag drehen darf, konnten immer nur kleine Stücke mit den Jungen gespielt werden. Ich dagegen habe oft 18 Stunden mit zum Teil drei Umschminkphasen gearbeitet. Dann muss man immer wieder neu den Bogen spannen und sich in die Rolle der jeweiligen Szene neu hineinversetzen. Das war emotional häufig sehranstrengend.
Versucht man auch rein körperlich die Darstellung der Mutter ihrem jeweiligen Alter anzupassen?
Ferres: Klar. Die Körperhaltung, Bewegung und Stimme unterscheiden sich ja bei einer fast 40-Jährigen von einer Anfang 20-Jährigen.
Bertha Baetz ist eine Frau, die sehr viel Mut zeigt, die auch unter den schwierigsten Bedingungen immer für ihr Kind da ist. Hat das Image des „Superweibs“ geholfen, diese Rolle zu bekommen?
Ferres: Nein, das hätte hier eher geschadet. Geholfen haben mir viel mehr Rollen wie die in „Les Misérables“ oder in „Die Manns“ – also eher die großen Charakterrollen, die ich gespielt habe. Weil das Frauen sind, die mit dem Rücken zur Wand stehen und auch Grenzgängerinnen sind.
Das „Superweib“ liegt inzwischen anderthalb Jahrzehnte zurück. Das ist für die Leute, die mir heute wunderbare Rollenangebote machen, kein Maßstab mehr.
Nun haben Sie auch mehr Angebote, als Sie drehen können. Wie suchen Sie die Rollen aus?
Ferres: Das A und O für meine Entscheidungen ist das Drehbuch, die Bibel des Films.
Was muss da gefallen? Was muss da stimmen?
Ferres: Die Intuition. Die Rolle muss funktionieren, egal ob sie klein oder groß ist. Das sehe ich sehr schnell. Wie ist es geschrieben? Ich drehe im Moment zum Beispiel den zweiten Teil von „Die Wilden Hühner“. Das ist eine kleine Rolle, aber das Drehbuch stimmt. Es ist gut geschrieben. Wenn es sozialkritisch ist oder politisch eine Stellung bezieht, die mir entspricht, dann kämpfe ich auch dafür, dass ich die Rolle spielen darf. Außerdem kommt es natürlich auch auf die Regie, die Besetzung und auf die Drehzeit an.
Sie haben bei vielen internationalen Kinoproduktionen mitgewirkt. Welche Unterschiede gibt es bei der Arbeit zum Fernsehfilm?
Ferres: Ich habe schon Kinofilme gedreht, bei denen die Bedingungen viel schlechter waren als beim Fernsehen. Und es gab auch Fernsehproduktionen mit sehr viel schlechteren Bedingungen als bei einem Kinofilm. Insofern kommt es immer auf die Leute an, die bei dem Film mitwirken – vor allem auf den Regisseur. Und jeder Film – ob für das Fernsehen oder für das Kino – stellt eine eigene Herausforderung dar. Manchmal führen schlechte Bedingungen auch dazu, dass etwas Grandioses entsteht, weil die Leute auf einmal viel mehr zusammenhalten.
Ingesamt würde ich sagen, sagt die Tatsache, ob ein Film fürs Fernsehen oder fürs Kino produziert wird, gar nichts aus.
Ihre Karriere begann vor fast zwanzig Jahren. Haben Sie alles erreicht, was Sie sich am Anfang erträumten?
Ferres: Nein, ich habe das Gefühl, dass immer noch mehr auf mich zukommt, als ich mir erträumt habe (Veronica Ferres kramt in einer Tasche und holt Fotos mit Szenen einer anderen Rolle heraus). Hier zum Beispiel. Gerade habe ich„Die Frau vom Checkpoint Charlie“ gedreht – auch ein historischer Zweiteiler. Ein schönes Beispiel für Rollen, die ich liebe. Mich reizt das Pure an solchen Rollen, die direkt am Menschen dran sind.– aber nicht auf eine reißerische Weise, sondern emotional. Ich möchte nicht Klischees zeigen, in denen nur die Bösen und die Guten dargestellt werden, sondern ich möchte die Menschen mit ihren Widersprüchen und Eigenarten zeigen – so wie sind!
Frau Ferres, was bedeutet Glück für Sie?
Ferres: Glück ist, wenn man für einen kurzen Moment das Gefühl hat, die Welt ist rund. Glück ist, wenn man sich geliebt und verstanden fühlt – ohne sich verbiegen zu müssen. Glück ist, wenn man gesund sein darf. Glück ist, wenn man keine Existenzängste hat und es das Prinzip Hoffnung im Leben gibt.
Unsere Schlussfrage lautet: Das Leben ist ein Comic – welche Figur sind Sie?
Ferres: Ich bin Lara Croft. Wobei, ist das überhaupt ein Comic?
Ja, aber warum Lara Croft?
Ferres: Sie ist eine sehr moderne Frau. Wie die Bertha Baetz in „Neger, Neger, Schornsteinfeger“. Bertha Baetz hat auf Konventionen nichts gegeben. Sie hat als alleinerziehende Frau ein farbiges Kind großgezogen. Sie hat sich sehr früh finanziell unabhängig gemacht, indem sie in das einfache Arbeiterviertel zurück gegangen ist, wo sie ursprünglich herkam, um so für sich und ihren Jungen vollkommen autark sorgen zu können. Und Sie können sich gar nicht vorstellen, was wir im Film an Diskriminierung gegenüber ihr alles ausgespart haben , da der Film aus der Sicht des Sohnes gezeigt werden sollte und wir uns auf seinen Blickwinkel konzentriert haben.
Lara Croft ist natürlich auf eine ganz andere Weise eine moderne Figur. Aber sie ist auch eine Kämpferin.