Seniore Grigolo, es ist 10.45 Uhr, wie geht es um dieser Uhrzeit Ihrer Stimme – können Sie am Morgen schon singen?
Grigolo: Ja, die Stimme ist immer bereit, ich brauche kein Warm-Up, nichts.
Wie erklären Sie das?
Grigolo: Das ist ganz natürlich, deswegen sprechen wir ja auch von „The Italian Tenor“. Es ist keine Stimme, die speziell geformt ist. Es ist zwar eine ausgebildete Stimme, aber der Klang entsteht sehr einfach und natürlich.
Wie sorgsam gehen Sie mit Ihrer Stimme um?
Grigolo: Am Tag vor einem Konzert oder einer Opernaufführung spreche ich nicht, kein Wort, ich schreibe nur SMS oder mache Gesten. Am Tag des Auftritts fange ich dann mittags an, die Stimme ein wenig zu benutzen.
Man muss mit dem Sprechen auch aufpassen, ich spreche zum Beispiel nicht mit meiner Singstimme, wie es Domingo macht (Grigolo spricht einige Sätze mit hoher Stimme) – das würde mich ermüden.
Ich muss sorgsam sein, klar, die Stimmbänder, das sind ja nur zwei kleine Dinger. Und die Bewegung, das Sprechen, dann die Reisen um die ganze Welt… Es ist ja heute nicht mehr wie in Zeiten von Caruso, wo man aufs Schiff ging und 15 Tage später war man in New York. Heute legt man jede Strecke an einem Tag zurück, egal ob New York, Paris oder Tokyo.
Nun sind Stimmen wie die Ihre relativ selten…
Grigolo: Ja, ich habe eine kräftige Stimme mit vielen Farben und Möglichkeiten. Ich muss Gott wirklich dafür danken, dass er mir gezeigt hat, wie ich diese Farben verwende, wie ein Maler, der eine bunte Palette und eine weiße Leinwand vor sich hat.
Oder könnte es auch sein, dass es viele solcher Stimmen gibt, sie nur nicht entdeckt werden?
Grigolo: Ich denke, es gibt vielleicht 1000 Menschen auf der Welt, die so eine Stimme haben. Aber es ist eben auch die Frage, wie man dahinkommt.
Ich hatte großes Glück, dass sich mir alle Türen zur richtigen Zeit am richtigen Ort geöffnet haben. Ich habe die richtigen Menschen getroffen, ich lerne jemanden im Zug kennen, daraus entwickelt sich dann etwas – wenn ich zurückschaue erscheint mir das manchmal geradezu perfekt, alles ist mir zugeflogen. Auch mein Lehrer, den ich jetzt schon seit 14 Jahren habe.
Andere haben vielleicht auch eine wunderbare Stimme haben, aber sie finden nicht den richtigen Lehrer, haben und nicht die richtigen Gelegenheiten, ihr Talent zu fördern.
Was außer dem Lehrer, den richtigen Gelegenheiten spielt noch eine Rolle?
Grigolo: Wir müssen mental sehr stark sein. Das ist wie ein Tennisspieler und die Oper ist wie ein Match – ich muss das alles bewältigen und am Ende noch so frisch sein wie zu Beginn. Denn nicht nur die erste Arie ist wichtig sondern die Oper geht drei Stunden. Und wenn ich einmal einen Ton nicht treffe werde ich am Ende ausgebuht. Auf der Opernbühne bist du wie ein Gladiator in der Arena – am Ende können die Leute den Daumen hoch oder runter machen.
Sie haben als Junge im Chor der sixtinischen Kapelle gesungen. Hat so ein Chor heute noch einen großen Zulauf an Nachwuchs?
Grigolo: Nein. Aber das ist eine Frage des Schicksals. Ich meine, warum sitzen wir hier im Raum? Dafür gibt es einen Grund. Ich glaube wirklich an Vorsehung … Manchmal habe ich ein Déjà-vu und in dem Moment denke ich: Ja, ich mache das Richtige, das, wofür ich bestimmt bin.
Wie wichtig war es, mit dem Singen früh zu beginnen? Enrico Caruso und Beniamino Gigli waren ja ebenfalls in Knabenchören…
Grigolo: Als Kind versuchst du etwas zu finden, was dir die Kontrolle über dich gibt. Du entdeckst deine Emotionen, du willst dir dem bewusst sein. Ich vergleiche so einen Chor gerne mit einer Kampfsportgruppe: dort lernst du, dich selbst zu kontrollieren und diese Art von Emotionen zu fühlen.
Ich war ein kleiner Junge, damals in die Kirche zu kommen, diese Welt zu sehen, das war magisch. Das inspirierte mich zum Singen.
Wer animiert die Leute heute zum Singen?
Grigolo: Sie fühlen sich vielleicht nicht zum Chorsingen hingezogen, aber zu einer anderen Art. Es gibt ja „Pop Idol“, das ist doch eigentlich das gleiche. Es geht darum, was du willst, das ist das Wichtigste. Wenn die Kinder nicht in den Chor gehen wollen ist das kein Problem, wenn sie das, was sie in sich tragen – die Musikalität, das Talent – in eine Show, einen Wettbewerb einbringen. Es geht heute eben mehr um diese Shows als um einen Chor. Es gibt aber schon noch einen gewissen Anteil von Leuten, die in die Kirche gehen. Ich selbst war ein Kirchenjunge, ich bin regelmäßig in die Messe gegangen… Und vielleicht gehen andere katholische Jungs auch zur Kirche und fangen dort an zu singen.
In welchem Alter kamen Sie das erste Mal mit der Welt der Oper in Berührung?
Grigolo: Mit vier glaube ich, mein Vater hat immer im Auto Oper gehört, dazu gesungen und ich saß daneben – das habe ich geliebt.
Wir Italiener sind richtige Liebhaber, keine Egoisten.
Und Popmusik?
Grigolo: Natürlich, im Auto hörst du ja alles. Ich mag jede Art von Musik.
Auf Oper konzentriere ich mich jetzt, weil es für mein Inneres sozusagen die Hauptinformationsquelle ist. Ich bin aber niemand, der Mauern zwischen Musikern oder Genres aufbaut. Ich denke, wenn Musiker gut sind, dann können sie alles spielen und mit jedem anderen spielen. Ich könnte auch mit einem Rapper oder R’n’B-Musiker singen…
Klassik-Kritiker würden Ihnen das vermutlich übel nehmen.
Grigolo: Nicht, wenn du ihnen das Richtige bietest. In der Oper wollen sie natürlich „La Boheme“ sehen, einen guten Tenor hören, der bewegt und inspiriert. Und wenn du sie dort bewegst, wenn sich vor lauter Emotionen ihre Haare aufstellen, dann bedeutet das, dass du ihnen gibst, was sie wollen. Da kannst du am nächsten Tag auch mit einem Rapper singen, sie werden trotzdem Respekt vor dir haben.
Werden Sie denn wieder Pop machen?
Grigolo: Ja, ich will ein Pop-Album aufnehmen. Mein zweites Pop-Album war eigentlich schon fertig, es kam allerdings nie heraus. Ich hatte Songs auf Französisch, Englisch, Spanisch und Italienisch geschrieben, es gab auch ein Duett mit Placido Domingo. Aber dann hatte ich ein Problem mit meinem Manager… solche Probleme gibt es ja immer wieder, du musst einfach die richtigen Leute um dich haben.
Als Sie 2010 in Covent Garden in der Rolle des Chavalier in „Manon“ debütierten schrieb der englische „Guardian“: „Er hat alles, was die Rolle braucht, eine großartige Stimme und tolles Aussehen.“
Grigolo: Das weiß ich nicht…
Ich wollte Sie nur fragen, wie wichtig bei Ihrem Beruf das Aussehen ist.
Grigolo: Ich glaube, für die Leute im Publikum siehst du schöner aus als in Wirklichkeit, sie sind immerhin 30 Meter weit weg (lacht). Sie haben keine Möglichkeit, dich aus der Nähe zu sehen.
Also, man kann nicht als rundlicher Typ einen Liebhaber wie in „Romeo und Julia“ spielen, wenn du die Frau an dich reist musst elegant wie eine Ballerina sein, „Physique du Rôle“, wie man im Französischen sagt. Und sie wollen von dir immer alles, die Ballerina, die Stimme –das ist nicht einfach.
Ich habe einen ganz normalen Körper und ob ich gut aussehe, kann ich nicht beurteilen. Aber ich weiß, wenn ich auf der Bühne bin, nehme ich etwas Besonderes mit, alle meine Energie geht nach draußen. Vielleicht ist diese Energie, die die Leute anspricht. Und was die Schönheit angeht, glaube ich, dass ich für die Leute schöner werde, wenn sie mich hören, wenn ich mein Talent zeige. Ich glaube es geht um diese Schönheit, die im Moment des Auftritts entsteht.
In Rezensionen und Portraits über Sie tauchen immer öfter Vergleiche mit Pavarotti auf. Mögen Sie das?
Grigolo: Natürlich. Ich finde es schön, wenn Leute sagen, dass meine Stimme Farben, und Nuancen von Pavarottis Stimme reflektiert und dass es eine Ähnlichkeit gibt, was die Aussprache, die Bildung der Töne und der Worte angeht. Eben so, dass die Leute im Publikum es verstehen. Wenn du in Italien auf Italienisch singst, sollten die Leute das direkt verstehen können und keinen Untertitel benötigen. Da gebe ich mir große Mühe, sehr klar zu sein bei der Aussprache. Auch weil ich in meiner Jugend bei Opernbesuchen häufig die Sänger nicht verstehen konnte. Das war für mich ermüdend, weil ich immer meinen Nachbar fragen musste: Was hat er gesagt?
Und Pavarotti… er hat mir geholfen, zu wachsen, er hat mich inspiriert. Wenn man eine so große, lange Karriere wie seine sieht, möchte man das Geheimnis dahinter entdecken.
Was war sein Geheimnis?
Grigolo: Wenn ich das wüsste (lacht).
In einem PR-Text über Sie las ich neulich „Vittorio Grigolo – A Star is born“…
Grigolo: So etwas ist Bullshit, das heißt nur, dass ein Star von den Medien, von den Menschen geschaffen wird. Ich bin aber ein Star in mir, in meinem Herzen, was immer ich mache, ich mache es im Guten.
Andere können dann daraus Ruhm machen, aber Ruhm ist ja nicht gleich Talent, sondern nur etwas, was dir die Leute geben. Insofern, wenn ich ein Star in mir bin, ohne Popularität, dann aber populär werde – dann weiß ich, wo ich herkomme. Ich habe dieses Talent, diesen Reichtum von Geburt an. Anders ist es, wenn du arm bist und eines Tages im Lotto gewinnst – dann du wirst dich nach einer Woche umbringen, weil du nicht weißt, wie du damit umgehen sollst.
Wie stellen Sie sich Ihre weitere Karriere vor?
Grigolo: Mein Wunsch ist, immer inspiriert zu sein von der nächsten Oper, der nächsten musikalischen Arbeit.
Und wenn der Star eines Tages stirbt, wird es mir trotzdem gut gehen. Ich werde mich nicht umbringen, wenn ich eines Tages nicht mehr bekannt bin, ich habe dann ja ich immer noch den Star, das Licht in mir.
Italienische Tenöre sind im italienischen Opernfach sehr gefragt. Was würden Sie nicht-italienischen Kollegen empfehlen – sollten die zuerst die italienische Sprache lernen, um Verdi oder Puccini zu singen?
Grigolo: Nein, ich denke, sie müssen erst mal lernen zu lieben. Wir Italiener sind richtige Liebhaber, keine Egoisten. Wir geben uns der Liebe nicht hin, nur weil es für uns selbst wichtig ist, sondern weil wir einen anderen Menschen glücklich machen wollen. So sind in Italien die Männer, so ist die Romantik – und so ist es auch die Musik. Also, ich würde einem Sänger zuerst empfehlen anzufangen so zu lieben, wie es die Italiener tun. Die Liebe auch als ein Geben zu sehen und nicht als Befriedigung des Egos.
Und es geht natürlich darum, richtig zu leben und nicht nur jeden Tag fünf Stunden lang zu singen. Wie kannst du über Liebe singen, wenn du es nicht erlebt hast? – Die schönsten Arien basieren auf Lebenserfahrung. Wenn ich eine Liebesaffäre habe schreibe ich einen Song.
Könnten Sie zum Abschluss noch sagen, was an Ihnen für einen Italiener völlig untypisch ist?
Grigolo: Ich bin inzwischen sehr organisiert. Früher kam ich immer zu spät, nach dem Motto „ja, das machen wir morgen“… Da bin ich heute realistischer und respektiere die unterschiedliche Kulturen. Vielleicht kommt das daher, dass ich in Zürich lebe und mir so die Regeln anderer Länder viel bewusster sind.