Herr Ludwig, Sie machen jetzt schon seit 40 Jahren erfolgreich Kinder- und Jugendtheater. Gehen Sie eigentlich auch selbst gern ins Theater?
Ludwig: Ich gehe nicht sehr viel ins Theater und wenn, dann nur zu befreundeten Theatermachern, wenn ich eingeladen werde (lacht). Ich suche mir schon sehr genau aus, wohin ich gehe. Die Mehrzahl der Aufführungen ärgert mich ehrlich gesagt.
Warum?
Ludwig: Mich ärgert vor allem Theater, das nur einer bestimmten Masche oder Mode folgt. Es gibt Leute, die sind stolz auf einen ganz bestimmten Stil und diesem Stil wird alles untergeordnet. Ich habe das Gefühl, die fragen sich nicht, warum dieses Stück jetzt eigentlich unbedingt gemacht werden muss. Und das ist für mich zunächst einmal das Wichtigste. Ich bin an inhaltlichem Theater interessiert, dafür bin ich auch bekannt.
Im Gegensatz zum Kindertheater wird beim Erwachsenentheater vieles unter einem gewissen "Kunstaspekt" gesehen, vieles wird intellektualisiert. Finden Sie es schade, dass diese Aspekte beim Kinder- und Jugendtheater eher außen vor bleiben?
Ludwig: Überhaupt nicht. Unterhaltung ist für mich sehr wichtig, sonst dürfte man keinen Eintritt nehmen. Und was wir machen sind durchweg Komödien, auch bei den ganz ernsten Themen. Es muss unterhaltsam sein, es muss einfach Spaß machen! Trotzdem müssen die Kinder ihre Wirklichkeit wiedererkennen. Das Theater, das ich mache, lebt vom Wiedererkennungswert, vom Sich-identifizieren-können, denn erst dann ist es lebendiges Theater. Dabei gehen wir jedoch immer über den reinen Quatsch oder Spaß hinaus. Wir wollen, dass die Kinder etwas für ihr eigenes Leben mitnehmen und eine Perspektive geboten bekommen.
Sind Kinder ein anspruchsvolleres Publikum als Erwachsene?
Ludwig: Sie sind zumindest sehr viel ehrlicher. Kinder sind sehr spontan und direkt. Man merkt sofort, ob sie sich für das Stück interessieren, ob es sie berührt oder nicht. Denn, wenn sie sich langweilen dann sind sie eben nicht ruhig, wie die Erwachsenen, sondern fangen an zu quatschen oder zu essen oder gehen einfach raus.
Woher wussten Sie denn damals was gutes Kindertheater ist?
Ludwig: Also, eigentlich komme ich vom politischen Kabarett. Wir hatten mal das linksradikale Berliner "Reichskabarett" im Rahmen der Studentenbewegung. Doch mit dem Zerbrechen dieser Bewegung kam uns dieses Kabarett überflüssig vor. Da haben wir aus politischen Gründen mit dem Kindertheater begonnen. Ich hatte gedacht, ich mache das vielleicht 2-3 Jahre lang und dann mach ich wieder Kabarett. Wir wollten damals alle Bevölkerungsschichten erreichen, vor allem natürlich den Arbeiter, den gab es ja damals noch. Aber der geht natürlich nicht ins Theater und da haben wir gedacht, dann fangen wir bei seinen Kindern an, die kommen dann mit der ganzen Schulklasse und dann haben wir sie, denn die bringen dann auch ihre Eltern mit, was ja teilweise auch gelungen ist! Wir hatten ein sehr proletarisches Publikum, z.B. die Schulklassen aus dem Wedding und aus Kreuzberg. Und da waren wir sehr stolz drauf. Es war also mehr eine politische Angelegenheit. Für uns waren die Kinder eine unterdrückte Klasse, die wir aufklären wollten und an deren Seite wir uns stellten.
„Unterdrückte Klasse“ klingt schwer nach Marxismus. Ist das GRIPS-Theater tatsächlich aus einer Theorie geboren?
Ludwig: (lacht) Nein, nein, das war eher flapsig, wobei es auch Analogien gab, die wir gesehen haben. Wir haben aber schnell gemerkt, dass man mit Klassenkampfparolen nicht weiterkommt. Für Kinder funktioniert nur das, was sie wirklich selber kennen und da wird man sehr schnell, sehr bescheiden. Letztendlich haben wir uns von den Kindern beibringen lassen, wie man Kindertheater macht. Und die Kinder haben unsere Funktion sofort verstanden. Wir waren ihre Partei. Wir haben auch schnell gemerkt, dass es – was ja damals mutig war – nicht reicht zu zeigen, dass auch Eltern Fehler machen, sondern dass man zeigen muss, warum sie Fehler machen. Und genau dieses Konzept wurde dann ein Riesenerfolg. Man muss sich vorstellen, dass es ja früher nur schreckliche Weihnachtsmärchen gab. Das nannte man dann Kindertheater und das gab es auch nur zu Weihnachten! Wir haben im Frühling angefangen, im Mai 1969. Das ist unser Gründungsdatum.
Die Nach-68-Generation sieht die politische Bewegung der damaligen Zeit oft sehr kritisch und findet sie mitunter gar peinlich. Können Sie das nachvollziehen?
Ludwig: Nein, das ist totales Unwissen und diese Meinung teile ich auch nicht. Wir haben selber 1980 "Eine linke Geschichte" uraufgeführt, wo wir das Leben dreier Achtzehnjähriger verfolgen und die damalige Zeit darstellen. Die heute Achtzehnjährigen gucken sich das an und sind eher neidisch. Die denken sich: „Mensch was können wir dafür, dass es heute so langweilig ist!“ Die sehen das mit großen Interesse, obwohl die Lehrer sie nur ins Theater gebracht haben, um zu zeigen, was sie mal für tolle Kerle waren. Aber interessant fanden sie es schon. Die Kritik besteht ja vor allem darin, dass diese alten 68er ein unheimliches Bedürfnis hatten, sich und den anderen die Welt zu erklären. Andererseits ist durch diese Bewegung unendlich viel entstanden. Dass wir heute ein liberales Land sind, haben wir dieser Bewegung zu verdanken. Es hat das Bewusstsein verändert, auf allen Gebieten. Gerade die, die meckern und sich darüber lustig machen, haben diesen Aktiven von damals sehr viel zu verdanken. Ganz ehrlich, nach 1968 kam doch eigentlich nicht viel mehr! Zumindest pflege ich das zu sagen, wenn es hart auf hart kommt (lacht).
Die Kinder- und jugendpädagogischen Ansätze der 68er Bewegung sind tief in die heutigen Bildungsinstitutionen eingedrungen. Haben Sie manchmal das Gefühl, erreicht zu haben was sie wollten?
Ludwig: In mancher Hinsicht schon, in vieler überhaupt nicht. Genauso wie Kindertheater bis heute nicht für voll genommen wird, werden auch Kinder allgemein nicht ernst genommen. Bildung hat nicht den Stellenwert in Deutschland, den es in anderen Ländern hat. Das liegt natürlich auch am Föderalismus, wo alles immer Jahre dauert. Aber wenn ich an Skandinavien denke, Theater gehört dort schon im Kindergarten zum Rahmenplan. Mit elf Jahren kann man denen schon die schwierigsten Stücke vorführen. Das sind echte Theaterprofis!
Was sind Ihres Erachtens die konkreten Probleme in der BRD?
Ludwig: Die Schulen sind beispielsweise nach wie vor noch richtig altmodisch, mit Frontalunterricht usw. Ein Lehrer, von dem jeder im Kollegium weiß, dass der nichts taugt, wo auch keine Fortbildung hilft, der wird da sitzen bis er 65 ist, und zwar heute noch. Und das ist einfach trostlos, das muss man einfach ändern! Die Schulen müssen viel mehr Eigenständigkeit kriegen. Die müssen auch die Möglichkeit haben, sich selber Personal zu besorgen und sich mehr Freiheit zu schaffen. Und das andere ist eben, dass so vieles zu kurz kommt. Die Hälfte der Lehrer hat keine Lust mit den Kindern ins Theater zu gehen, die Kinder haben entweder Glück oder Pech. Das ist mittelalterlich! Und das hat sich nicht geändert in den letzten 35 Jahren.
Auch dieses ‚Kästchendenken’, 45 Minuten und dann kommt das nächste Fach – das ist das Letzte! Und dann kriegen die Leute auch noch Panik, wenn irgendwelche PISA-Ergebnisse schlecht waren.
In Berlin sorgt gerade das Volksbegehren „proReli“ mit der freien Wahl zwischen Ethik- und Religionsunterricht für Aufmerksamkeit. Was halten Sie als Jugendpädagoge für wichtiger: Ethikunterricht, Religionsunterricht oder möglicherweise eine dritte Lösung?
Ludwig: Das Ideal wäre natürlich, wenn es beides geben würde, aber dafür gibt es keine Zeit. Die Stundenpläne müssten ohnehin unendlich entrümpelt werden. Ich finde den verbindlichen Ethikunterricht für alle ganz wunderbar. Allerdings finde ich, dass dann auch alle Religionen eingebunden werden müssten. Dann sollte auch zwischendurch ein evangelischer, katholischer, jüdischer und muslimischer Lehrer unterrichten. Das wäre spannend. Nur muss dafür auch geeignetes Personal vorhanden sein. Man kann den Lehrern nicht einfach ein neues Fach vorsetzen, und das mal zack-zack auf die Schnelle einführen.
Glauben Sie, dass Kinder auch in der heutigen Zeit noch eine unterdrückte Klasse darstellen, oder sind Sie inzwischen der Auffassung – ähnlich wie Michael Winterhoff in seinem Buch "Wenn Kinder zu Tyrannen werden" – dass sie den Eltern zu sehr auf der Nase herumtanzen?
Ludwig: Dass Kinder Grenzen brauchen, das wurde ja auch schon während der 68er-Zeit diskutiert. Man redet aber immer nur über diese paar verrückten, extrem antiautoritären Kinderläden. Das waren ja ganz geringe Ausnahmen aus den aller ersten Jahren! Man darf allerdings auch nicht vergessen, dass Kinder damals so unterdrückt waren, wie man es sich heute nicht vorstellen kann. Es war beispielsweise selbstverständlich, dass Kinder in einem Laden nicht bedient wurden, wenn sie dran waren, sondern erst wenn alle Erwachsenen bedient wurden. Deswegen fuhr man ja auch im Sommer, wenn es ging, ins Ausland, weil dort die Kinder anständig behandelt wurden, im Gegensatz zu Deutschland. Selbst Kinderstühlchen wurden in Deutschland erst eingeführt, weil es solche beim Italiener gab. Unterdrückte Kinder, in dem Sinne wie damals, das gibt es überhaupt nicht mehr, das ist heute nicht das Problem. Es ist eher eine Hilflosigkeit seitens der Eltern, eine Überforderung.
Unterhaltung ist für mich sehr wichtig, sonst dürfte man keinen Eintritt nehmen.
Die Kinder sind heute mit anderen Problematiken und Herausforderungen konfrontiert, als in den 70er Jahren. Auch medial sind sie anders geschult. Ist Kindertheater noch relevant in einer Generation, die eher mit Super-Mario groß geworden ist, als mit Pippi Langstrumpf?
Ludwig: Ich finde, dass Theater gerade deswegen noch wichtiger geworden ist, sozusagen als Gegenpol. Auf der Bühne stehen lebendige Menschen und nicht irgendwelche Avatare. Kinder können da auch sehr gut unterscheiden. Je mehr Kinder auf Mattscheiben fixiert sind, desto faszinierter sind sie vom Theater. Manchmal machen sie so lange Krach bis die Schauspieler sich nach ihnen umgucken, als Beweis, dass sie lebendig sind. Das funktioniert nach wie vor. Und das ist natürlich etwas sehr Schönes. Und Kinder können sich dann richtig reindenken in ihre Phantasie. Für die Kleinen ist das dann die Realität auf der Bühne und die sind genauso da und kreischen genauso, wie eh und je. Die Reaktionen der Kinder im Theater haben sich eigentlich gar nicht verändert. Deswegen halte ich Kindertheater für so relevant wie eh und je.
Was ist das genau, was Theater heute noch bewirken kann, was andere neue Medien nicht können?
Ludwig: Einmal ist es dieses Gemeinschaftserlebnis, was wir auch durch unsere Bühne fördern. Die Kinder sitzen auf drei Seiten um die Bühne herum und sehen sich alle gegenseitig. Sie sind alle zusammen. Und wenn auf der Bühne etwas passiert, dann ist es kein Tabu mehr. Wenn ein Kind etwas auf der Bühne sieht, das es selbst kennt und wo es sich vielleicht nie getraut hat drüber zu sprechen, dann kann es drüber reden, weil die anderen Kinder es auch erlebt haben. Es ist Gemeinschaft, Wiedererkennen, sie sehen sich selber auf der Bühne, siegen und leiden. Es wird auch viel geweint, das geschieht schnell bei Kindern, und natürlich gelacht. Kinder lachen ja furchtbar gern.
Wie gehen Sie eigentlich in der Auswahl Ihrer Stücke vor? Lassen Sie sich vom Zeitgeist inspirieren oder auch von politischen Themen, wie dem Nahostkonflikt?
Ludwig: Ganz allgemein beschäftigen wir uns mit den Problemen, die unser Publikum hat. Es muss immer einen Teil des Publikum betreffen. Wir würden also kein Stück über den politischen Nahostkonflikt machen, sondern vielleicht ein Stück über Palästinenser und Israelis in Berlin. Da, wo es ins Alltägliche geht, wo Kinder und Jugendliche es persönlich nachvollziehen können. Auch wenn die Stücke vom Umgang mit der Umwelt oder der Dritten Welt handeln, muss es immer einen Strang geben, der den berührt, der im Publikum sitzt, so dass derjenige richtig einsteigen kann. Unser Stück „Haram“ ist ein gutes Beispiel dafür. Dort werden genau diese aktuellen, politischen Konflikte thematisiert.
Woher wissen Sie immer so genau, was Kinder bedrückt oder beschäftigt?
Ludwig: (lacht) Ich werde oft gefragt, ob ich das in meinem Alter noch kann, aber ich denke, das ist völlig altersunabhängig und man muss auch keine eigenen Kinder dafür haben. Es gibt irgendwann ein kollektives Wissen im Theater, wir haben auch Theaterpädagogen, wir testen sehr viel selber. Die Schauspieler gehen auch ganz oft in Schulen, bei den ersten Jugendstücken haben wir die Schüler monatelang beobachtet.
Inkognito?
Ludwig: Teilweise ja, teilweise wussten die das aber auch. Und beim zweiten Mal hatten sie bereits Vertrauen zu uns und haben uns tausend Sachen erzählt, was wir mal auf die Bühne bringen müssten. Wenn ein Vertrauensverhältnis entsteht, dann kommen die Jugendlichen von ganz allein.
Interessieren Sie sich für die Helden der heutigen Jugendkultur und wird dieses Wissen in die Stücke integriert?
Ludwig: Ja, diese Elemente tauchen schon in unseren Stücken auf. Das wird benutzt, man kann Jugendkultur nicht außen vor lassen. Ich bin da schon ein bisschen geschult! Aber das kommt auch von allein, weil wir wie gesagt eng mit den Jugendlichen zusammenarbeiten. Wir wollen ja die Realität widerspiegeln.
Haben Sie das Gefühl, dass Sie die Kinder und Jugendlichen von heute und ihre Lebenswelt verstehen oder bleibt Ihnen das in gewisser Weise auch fremd?
Ludwig: Ich verstehe nicht immer alles, aber über meinen 13-jährigen Sohn kriege ich vieles mit. Der hat als kleines Kind kein Fernsehen geguckt und immer viel gelesen, da war ich als Vater natürlich begeistert. Jetzt hängt er viel vor seinem Computer, was aber auch sein Gutes hat, weil er mir ganz viel beibringt. Man muss sich also auf dieses Fremde auch einlassen.
Was haben Sie sich gedacht, als Sie vom Amoklauf in Erfurt erfuhren?
Ludwig: Das sind Situationen, die auch für mich unverständlich bleiben. Da kann ich nicht viel zu sagen. Das sind Extremfälle, die auch ich nicht erklären kann und will.
Sie haben den FAUST-Preis für Ihr Lebenswerk bekommen. Wird man damit auch mit seiner Vergänglichkeit konfrontiert und denkt ans Aufhören?
Ludwig: Eigentlich nicht. Ich weiß dass ich mit diesem Preis für etwas ausgezeichnet werde was vor 30 Jahren passiert ist. Das ist ein Lebenswerk geworden, ist aber lange noch nicht beendet. Das Lebenswerk ist erst beendet, wenn auch endlich mal alle Kinder diese Form von Theater sehen können. Dieser Kampf um das Theater, der ist nach wie vor da, das hat kein Ende. Außerdem geht es nicht nur um mich als Person, sondern darum, dass die Kinder- und Jugendtheaterbranche überhaupt so ein Riesenpreis bekommen hat. Das ist ein Preis für alle, die Kinder- und Jugendtheater machen. Die Jury fand sich wahrscheinlich auch selber ganz toll, und jetzt werden sie das Kinder- und Jugendtheater für die nächsten zehn Jahre wieder vergessen (lacht).
Das heißt, nicht nur Kinder, sondern auch das Kindertheater an sich ist eine unterdrückte Klasse.
Ludwig: In dem Sinne schon, ja!
Gibt es noch irgendein Projekt, das Sie im Rahmen des GRIPS-Theaters realisieren möchten, an das Sie sich bisher noch nicht getraut haben?
Ludwig: In diesem Jahr feiern wir 40-jähriges Jubiläum und da muss irgendeine Super-Revue entstehen. Ich habe nur noch keine Ahnung was. Das muss ich mir jetzt ausdenken, nur jetzt werde ich langsam nervös, weil die Zeit mir davonläuft. Nach den letzten ernsten Stücken, die wir im Programm hatten, brauchen wir wieder einen unterhaltsamen Knaller. Die Musiker werden auch schon langsam zappelig. Eigentlich muss jetzt eine ganz große Rock-Revue kommen. Es soll nicht gerade „Linie 2“ heißen, aber so ein bisschen in dem Sinne müsste es schon sein. Das wird hoffentlich das nächste dicke Ding!
Das Interview entstand im Januar 2009.