Waad al-Kateab

Das Assad-Regime hat uns viel viel mehr angetan.

Als Studentin erlebte und filmte sie 2011 die zivilen Proteste gegen das Assad-Regime. In den folgenden Jahren wurde Waad al-Kateab, ihr Nachname ist ein Pseudonym, zur bekanntesten Chronistin der Kriegsjahre und Belagerung der syrischen Metropole Aleppo. Ihr Oscar-nominierter Dokumentarfilm „Für Sama“ erzählt nun aus dieser Zeit. Im Interview spricht al-Kateab über die Notwendigkeit kaum zu ertragener Bilder, ihre Arbeit an „Für Sama“ und die aktuelle Situation in der syrischen Stadt Idlib.

Waad al-Kateab

© Filmperlen

Als die Fotos des ertrunkenen Jungen Alan Kurdi vor fünf Jahren um die Welt gingen, stellte die UN-Beamtin Melissa Fleming fest: „Die Menschen wollen solche Bilder nicht mehr sehen.“ Ihr Film „Für Sama“ ist voll von Bildern, die man eigentlich nicht sehen möchte. Warum zeigen Sie diese Bilder trotzdem?
Waad al-Kateab: Weil diese Dinge bis heute immer noch passieren, auch jetzt, während wir miteinander sprechen. Eine der zentralen Fragen, die sich im Prozess des Filmemachens stellten, war: Wie viel von diesem Material wollen wir zeigen? Einiges von dem, was ich gefilmt habe, wird ganz bestimmt niemals veröffentlicht. Was jetzt im Film zu sehen ist, geht auch über das Maß heraus, das die Menschen gewohnt sind. Aber ich habe das durchlebt. Ich weiß, dass es um das wahre Leben und echte Menschen geht.

Sie haben den Alltag in einem Krankenhaus in Aleppo gefilmt, zur Zeit der Belagerung durch die russische Luftwaffe und die regierungstreue syrische Armee. Was können Bilder von Kriegsopfern bewirken?
al-Kateab: Wenn die Menschen das nicht zu sehen bekommen, können sie dieses Geschehen auch nicht beurteilen. Ich glaube jeder, der diesen Film jetzt sieht, wird zu einem gewissen Grad seine Haltung ändern. Man wird nicht mehr sagen können: Wir wollen keine Flüchtlinge mehr. Ob es jener Regierungen sind, die Assad unterstützen oder ob man nur der Meinung ist: Naja, das mit Assad ist nicht optimal, aber für den Moment ist er gut genug – Wenn diese Leute diesen Film sehen, wenn sie sehen, wie die Kinder sterben, dann können sie nicht mehr bei ihrer Haltung bleiben. Ich erzähle ja überhaupt nichts Neues. Ich sage nur: Wenn wir diese Bilder nicht mehr sehen wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass das, was sie zeigen, aufhört.

Sie haben über vier Jahre in Aleppo gedreht, mussten die Stadt 2016 verlassen und haben dann mit dem Britischen Dokumentarfilmer Edward Watts Ihren Film „Für Sama“ erarbeitet. Wie sah diese Zusammenarbeit aus?
al-Kateab: Ich kannte Edward vorher nicht. Zunächst habe ich ihn etwa vier Monate lang mit der Welt bekannt gemacht, aus der ich komme. Wir lernten uns besser kennen, begannen, einander zu vertrauen und waren schließlich in der Lage, auch miteinander zu diskutieren. Aber beruhigender Weise hat sich schnell herausgestellt, dass wir uns in der Auswahl der Bilder komplett einig waren. Auch unsere Haltung zum Assad-Regime und dem ISIS-Problem war die gleiche.

Trotzdem werden Sie wahrscheinlich unterschiedliche Herangehensweisen gehabt haben.
al-Kateab: Er war derjenige, der in Betracht ziehen konnte, wie das westliche Publikum auf einzelne Szenen reagieren würde. Andererseits hat er mir sehr viel Respekt und Raum gegeben. Für ihn zählte die Tatsache, dass ich all diese Erfahrungen selbst durchgemacht habe, im Zweifelsfall mehr, als seine größeren Erfahrungen als Filmemacher. Das schätze ich sehr. Dabei hat er viel von mir gelernt und ich von ihm, zum Beispiel wie man sich erzählerisch fokussiert. Gemeinsam war es uns möglich, unsere Geschichte sowohl für Insider als auch für Außenstehende zugänglich zu machen, die noch nie zuvor in Aleppo gewesen sind.

Wenn einem Bilder besonders nahe gehen, sucht man mitunter instinktiv nach Details, die einen an diesen Bildern zweifeln lassen, um sich von ihnen distanzieren zu können…
al-Kateab: Ja.

In „Für Sama“ gibt es z.B. Szenen, in denen Angehörige von Opfern bemerken, dass sie gefilmt werden und dann noch einmal besonders stark „für die Kamera“ trauern. Sie hätten solche Momente herausschneiden können. Warum haben Sie das nicht getan?
al-Kateab: Wir hatten sehr viele Ideen, wie wir diesen Film gestalten könnten. Es gab Versionen, die zu sehr in das Geschehen eintauchten, andere waren zu distanziert. Wir haben versucht, eine Balance zu finden. Also sieht man immer wieder, dass ich es bin, die die Kamera hält. Man sieht, wie meine Hände oder Füße kurz ins Bild kommen.

In den oft auch glücklichen, privaten Momenten sieht man zudem sehr deutlich, wie sie sich selbst filmen.
al-Kateab: Wir haben festgestellt, dass diese verschiedenen Perspektiven für die Zuschauer sehr wichtig sind. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt, als wären sie mitten im Geschehen, können sie sich immer sicher sein, dass sie das alles von außen betrachten. So kommt man manchmal etwa unserer Tochter Sama so nah, dass man das Gefühl hat, für sie so verantwortlich zu sein, wie ich es bin. Andere Szenen sind distanzierter und lassen erahnen, dass zum Beispiel aus der Sicht von Hamza dieser Film ein völlig anderer geworden wäre.

© Filmperlen

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Ihr Mann Hamza gehört zu den Ärzten, die jenes letzte Krankenhaus im belagerten Teil von Aleppo betreiben, in dem ein Großteil Ihres Films entstanden ist.
al-Kateab: Genau. Aber hier geht es aber vor allem um meine Sicht der Dinge, um die Perspektive einer Frau und Mutter.

In einer Szene des Films stehen sie vor dem Spiegel und legen sich einen Hidschab an. Sie erzählen dazu, dass die „Islamisten nun versuchten, die Revolution zu übernehmen,“ aber dass das, was diese Extremisten taten „nichts war, im Vergleich zur Brutalität“ des Assad-Regimes. Ist der westliche Fokus auf die Bedrohungen des Islamismus zu einseitig?
al-Kateab: Ja. D
as beschreibt exakt meinen Erfahrungen in diesen fünf Jahren. Was die Islamisten und sogar ISIS uns Syrern in dieser Situation in Aleppo angetan haben, entspricht genau dieser Szene, diesen 30 Sekunden aus eineinhalb Stunden Film. Zumindest indirekt wollte ich auch das den Menschen mitteilen: Ja, das ist ein Problem. Wir stimmen nicht mit dem IS überein. Sie haben uns das Leben weiter erschwert. Aber er ist nur ein Teil all der Probleme, die auf das Assad-Regime zurückzuführen sind. Ich würde niemals sagen, dass die Revolution großartig und das beste ist, was uns passieren konnte. Das ist sie ganz bestimmt nicht.

Würden Sie sagen, dass der Aspekt des religiösen Extremismus auch als Vorwand benutzt wird, um sich aus dem Krieg heraus zu halten?
al-Kateab: Ja. Und auch Assad hat die Religion als Rechtfertigung für sein Handeln benutzt. Deshalb war es uns in dem Film wichtig, den Fokus anders zu setzen. Wir zeigen zum Beispiel eine Szene, in der eine hoch schwangere Frau nach einem Angriff eingeliefert wird und ihr Kind auf die Welt geholt wird. Selbst wenn diese Frau oder der Vater die Anführer von ISIS gewesen wären, das wäre kein Grund, dieses Baby umzubringen, das noch nicht einmal geboren war. Von außen schaut man eher auf die religiösen Extremisten, aus der Angst heraus, dass so jemand das eigene Leben stärker beeinträchtigen würde. Ich bin auch niemand, die den Hidschab von sich aus tragen würde. Ich glaube an Freiheit, Demokratie und Würde des Menschen und ich würde niemals unter der Kontrolle dieser Extremisten leben wollen. Aber das Assad-Regime hat uns viel viel mehr angetan. Wenn es mit ihm eines Tages vorbei ist, sollten wir den Islamisten auch nicht unser Land überlassen, dann wäre es Zeit für eine neue Revolution. Aber jetzt sollte man die Prioritäten danach ausrichten, was momentan passiert.

Die letzte Szene in „Für Sama“ sticht besonders heraus. Im Hidschab tragen Sie Ihre Tochter durch eine menschenleere Straße im ausgebombten Aleppo, zum Teil schwebt die Kamera hoch über ihnen und schaut auf Sie herunter. Die Szene wirkt, als wäre sie nachträglich im Computer entstanden.
al-Kateab: Wir haben das tatsächlich in Aleppo gedreht, zum Teil noch vor der Belagerung. Von dem späteren Film war zu der Zeit noch gar keine Rede. Ich habe damals drei Frauen mit der Kamera begleitet, um mit ihnen über Schwangerschaft in einem Kriegsgebiet zu sprechen. Davon gab es etwa 20 Minuten Film und ich dachte, so ein Bild von einer Frau und ihrem Kind würde gut dazu passen. Es ging also überhaupt nicht um mich.

© Rick Bern Photography

© Rick Bern Photography

Sie haben diese Bilder dann mit einer Drohne gedreht?
al-Kateab: Ja, ein Freund hatte mir seine Drohne zur Verfügung gestellt und ich habe ihn gebeten, sie für diese Aufnahmen aus der Vogelperspektive zu steuern. Er filmte mich also also vor allem als Double, wie ich diese Straße hinuntergehe und der Plan war, das irgendwann mit Aufnahmen dieser Frauen zusammenzuschneiden. Später, während der Belagerung, war dieser Freund nicht mehr in Aleppo und er hat mir über Skype versucht beizubringen, die Drohne zu benutzen. Meine einzige Aufnahme, die funktioniert hat, dauert vielleicht acht Sekunden und ist nun auch im Film. Die anderen sind total verwackelt. Später habe ich Edward das Material gezeigt und er sagte: Lass uns Teile davon benutzen. Die besten Aufnahmen dieser Szene haben jener Freund und Hamza gedreht. Die beiden sind trainierte Play-Station-Spieler und konnten die Drohne deshalb viel besser steuern, als ich. (Lacht)

In den letzten Monaten haben Sie immer wieder davor gewarnt, dass die Katastrophe von Aleppo, das gezielte Bombardement von Krankenhäusern und zivilen Einrichtungen sich in Idlib wiederholen wird. Worauf hoffen Sie, angesichts der aktuellen Ereignisse?
al-Kateab: Assad muss gestürzt werden. Er und alle anderen, die in Syrien Verbrechen begangen haben, ob sie nun zu den Revolutionären gehörten oder zu der Russischen Armee, müssen vor Gericht gestellt werden. Das ist der einzige Weg für uns, um nach Syrien zurückzukehren und wieder miteinander in Frieden, Würde und Freiheit zu leben.

Ein Kommentar zu “Das Assad-Regime hat uns viel viel mehr angetan.”

  1. Frau Shakira |

    bitte seite offline nehmen, ist nicht aktuell, finde nix zu corona

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