Herr Weller, in manchen Biographien von Ihnen heißt es, Sie konnten eine Partitur früher lesen als ein Buch. Stimmt das?
Weller: Ja, ich habe mich schon sehr früh mit Noten beschäftigt, weil ich das Glück hatte, dass mein Vater bei den ersten Violinen der Wiener Philharmoniker war. Mich hat das von Anfang an fasziniert: Partituren, Dirigieren, großes Orchester – das war für mich eine eigene Welt. Ich habe ununterbrochen meinen Vater befragt, habe mit den leicht zu lesenden Partituren begonnen wie Mozart oder Haydn, die einfacher instrumentiert sind, bis irgendwann weitere Linien dazu kamen, beim Tschaikowski zum Beispiel. Und das alles war noch bevor ich mit sechs Jahren angefangen habe, Geige zu spielen.
Und die Rolle des Dirigenten…
Weller: …hat mich immer sehr interessiert, vom fünften Lebensjahr an. Ich fand das faszinierend, was der Mann dort vorne machte. Ich war auch immer sehr hinter den Dirigentenstäben her, wo ich von den berühmten Dirigenten glaube ich so ziemlich alle besitze – bis auf den von Toscanini. Aber sonst, von Furtwängler bis Knappertsbusch, Klemperer, Karajan – die habe ich alle.
Sie haben die Stäbe gesammelt?
Weller: Ja, oft ist mein Vater nach den Konzerten mit mir zu den großen Dirigenten gegangen und hat sie gefragt, ob ich einen Stab bekommen könnte.
Wie viele Stäbe umfasst denn Ihre Sammlung?
Weller: Ungefähr 40.
Aber sehen die nicht alle relativ gleich aus?
Weller: Nein, überhaupt nicht. Der eine ist kurz, der andere lang, der andere schwer, es gibt unterschiedliche Griffe, viele haben einen Bastgriff, andere eine Kork-Kugel unten dran, die einen sind weiß, die anderen Naturholz – da hat jeder irgendwie seinen eigenen Charakter.
Dirigieren Sie selbst immer mit Stab?
Weller: Ja, der ist für mich sehr wichtig. Zum Beispiel ein Pizzicato, das können Sie vom Orchester nur präzise herausfordern mit dem verlängerten Arm, also dem Taktstock. Die ganze Hand ist dafür zu schwerfällig, ohne Stab kann man höchstens langsame Sätze gut kreieren. Aber wenn man dann zum Beispiel das „Sacre du printemps“ von Strawinsky dirigiert, braucht man auf jeden Fall den Stab, weil man damit das Orchester viel besser und genauer fordern kann.
Und wie halten Sie es mit den Noten? Wie wichtig ist für Sie beim Dirigieren die Partitur?
Weller: Ich persönlich war als Geiger von klein auf immer gewohnt, auswendig zu spielen, egal ob ich Etüden oder Violinkonzerte gespielt habe. Mein Gehirn war schon ziemlich früh darauf trainiert, auswendig zu spielen. Und das mache ich heute als Dirigent natürlich auch. Ich fühle mich freier ohne Partitur, weil so habe ich das Orchester nicht nur mit den Händen sondern auch mit den Augen unter Kontrolle. Und auf mein Gehirn kann ich mich verlassen. Ausnahme sind allerdings Solo-Konzerte und große Chorwerke, wo ich mir die Partitur hinlege, weil da sind wir schon mehrere Person, denen irgendetwas passieren kann. Ein Solist ist Ihnen dankbar, wenn eine Partitur in der Nähe liegt, egal ob sie auswendig dirigieren oder nicht.
Aber besteht nicht generell – wenn Sie die Partitur vor sich hätten – die Möglichkeit, dass Sie im Werk vielleicht noch etwas Neues entdecken?
Weller: Nein, dass man im Konzert noch etwas Neues in der Partitur entdeckt, das halte ich für ausgeschlossen, das passiert vorher im Studium. Beim Konzert spielen andere Sachen eine Rolle, die man nicht zu Hause lernen kann, zum Beispiel die Stimmung des Ganzen, dieses berühmte ‚Triangelspiel’, wie ich es nenne: ich gebe so viel Energie wie möglich dem Orchester und wenn die Musiker das spüren, übertragen sie das automatisch aufs Publikum. Und bei mir im Rücken wird es dann komischerweise nicht nur ruhig, sondern ich spüre auch die Spannung im Publikum.
Obwohl Sie mit dem Rücken zum Publikum stehen?
Weller: Ja, man merkt das. Es gibt zum Beispiel ein Publikum, wo Sie beim Betreten des Saals noch denken, das ist furchtbar verkühlt, da sitzt die Grippewelle drin. Dann fangen Sie an und auf einmal wird es ganz still und kein Mensch traut sich mehr zu husten. Das liegt an der Spannung, die Leute vergessen einfach zu husten und sie tun es erst, wenn der Satz zu Ende ist. Für mich besteht das Dirigieren in dieser Hinsicht aus zwei Teilen: zum einen aus dem Technischen, wie man etwas mit den Armen anzeigt, und aus dem Psychologischen, wo es darum geht, das Orchester und das Publikum mitzureißen. Die Zuhörer merken das ja, ob die Musiker eher gelangweilt rumsitzen oder ob die ihr letztes Hemd hergeben.
Und wie verhindern Sie Routine bei den Orchestermusikern?
Weller: Routine ist für die Musik das tödlichste Wort. Für mich gibt es keine Routine, jede Aufführung ist für mich eine Neuaufführung, auch wenn ich die Neunte von Beethoven nun schon über 80 mal dirigiert habe, ist da keine Routine drin. Und diese Einstellung übertragen Sie mit der Spannung auch auf die Musiker. Nur, wenn irgendwo in Ihrem Körper eine Langeweile drin ist, überträgt sich das genauso. Sie müssen also immer mit Ihrer ganzen Überzeugung dahinter stehen – sonst wird’s gefährlich.
Wie wichtig ist es für Sie, dass Sie selbst als Geiger bei den Wiener Philharmonikern lange Zeit auf der anderen Seite des Pultes gesessen haben?
Weller: Für mich ist das sehr wichtig. Das ist vergleichbar mit einem Fabrikdirektor, der zuerst auf dem allerletzten Arbeiterposten begonnen hat und dann immer weiter aufgestiegen ist – der kennt am Ende als Direktor natürlich das ganze Haus. Ich habe ja auch am letzten Geigenpult begonnen, bin dann Konzertmeister geworden, wo ich das Orchester vom ersten Pult aus kennen gelernt habe. Und als Dirigent habe ich die Werke, welche ich als Geiger x-mal gespielt habe, wieder von vorne studiert, weil die Welt vom Pult aus ganz anders ausschaut.
Am 25. Mai 2005 werden Sie im Brucknerhaus mit dem Royal Scottish Orchestra unter anderem Tschaikowskis Orchester-Fantasie „Der Sturm“ aufführen. Nun gibt es hin und wieder Kritiker, die meinen, ein Werk von Tschaikowski und Prokofjew könnten nur die Russen ‚richtig’ spielen.
Weller: So etwas halte ich für vollkommen falsch. Ich selbst habe ja zum Beispiel alle Prokofjew-Sinfonien mit dem Londoner Symphony Orchestra und London Philharmonic aufgenommen und dafür Preise noch und nöcher bekommen. Ich denke, wenn eine Aufführung im Stil und von der Qualität des Orchesters her wirklich gut gemacht ist, dann spielt die Nationalität keine Rolle. Und einen der größten Erfolge in Wien hatte ich mit dem Royal Scottish Orchestra, als wir die 7. Sinfonie von Prokofjew aufgeführt haben – da waren sogar die Wiener Zeitungen überschwänglich.
Und was halten Sie von der so oft zitierten „russische Seele“?
Weller: Also, eine slawische Seele, die gibt es schon. Und da muss ich sagen, habe ich das Glück, dass ich zwei Großmütter hatte, die aus der Tschechoslowakei kamen. Ich bin ja ein waschechter Wiener, wie man so schön sagt. Denn der echte Wiener muss schließlich gemischt sein, mit Ungarn oder mit Tschechen – und meine Großmütter kamen aus Prag und aus Brünn. Natürlich ist die slawische Seele sehnsuchtsvoller, ruhiger, trauriger und ich glaube auch, dass man das in der Musik spürt. Aber wenn Sie ein Werk von Tschaikowski als Dirigent wirklich genau im Griff haben, dann besteht zwischen Russen, Tschechen oder Schotten kein großer Unterschied.
Mit dem schottischen Orchester verbindet Sie eine langjährige Zusammenarbeit – und inzwischen sind Sie in Schottland sogar auf einer Banknote zu sehen. Wie kam das?
Weller: Das war auch für mich eine große Überraschung. Damals hat die schottische Bank eine neue 50-Pfund-Note herausgegeben und auf der Rückseite waren unter der Überschrift „Scottish Art“ drei, vier Musiker eines Orchesters zu sehen – mit einem Dirigenten. Und als ich eines Tages wieder nach Schottland kam, hat man mir diese 50-Pfund-Note in die Hand gedrückt. Ich habe dann erst im Scherz gefragt, ob das nun die Gage für meine nächsten fünf Konzerte wäre. Aber als man mir sagte, ich müsste schon genauer hinschauen, habe ich mich wiedererkannt, vor allem an meinem Bart. Inzwischen sind diese Scheine im Umlauf und ich habe so einen auch schon öfters in der Hand gehabt.
Ich war immer sehr hinter den Dirigentenstäben her, wo ich von den berühmten Dirigenten so ziemlich alle besitze – bis auf den von Toscanini.