Herr Lemke, Sie haben vor Kurzem das Buch „Ein Bolzplatz für Bouaké“ veröffentlicht, wie kam es dazu?
Vor mehr als zwei Jahren bin ich von der Deutschen Verlagsanstalt angesprochen worden, ob ich Interesse hätte mit ihnen zusammen an einem Buchprojekt zu arbeiten. Das habe ich zuerst abgelehnt. Aber es kamen immer wieder Rückfragen, ob ich nicht doch Lust hätte. Irgendwann habe ich mir gedacht: Du hast jetzt so viel erlebt in dem einen Jahr als UN-Sonderberater. Es gibt es so viele schöne Geschichten zu erzählen, dass es mich dann doch interessiert hat. Das war auch wieder eine neue Herausforderung.
Hat Ihnen das Schreiben Freude bereitet?
Zeitweilig war es sehr anstrengend und hat mir überhaupt keinen Spaß gemacht. Vor allem, weil der Druck sehr groß war. Ich bin ein Preuße, der alles in der Zeit machen möchte. Das war ein wenig schwierig. Spaß hat es gemacht, als das Produkt dann klarer erkennbar war. Als ich wusste, wie die Struktur ist.
Sie bezeichnen sich selbst in Ihrem Buch als „Menschenfänger“. Wie ist das zu verstehen?
Das ist eher die Übernahme einer Begrifflichkeit, die Leute benutzt haben, die über mich geschrieben haben. Du musst nämlich Menschenfänger sein, wenn du in so einer Tätigkeit bist, wie ich es bin und übrigens auch als Manager von Werder Bremen oder als Parteisekretär war. Auch als Politiker musst du Menschenfänger sein. Wenn du keine Menschen überzeugen kannst, für deine Sache einzutreten, dann wirst du erfolglos sein. Mir gelingt es gut, Leute für meine Ziele zu gewinnen. Das versuche ich jetzt eben nicht mehr in Bremen oder in Deutschland, sondern international.
Eine weitere sehr interessant zu lesende Geschichte in Ihrer Biographie ist die Ihrer Doppelagententätigkeit in jungen Jahren, die sich aus Ihren Ambitionen deutsch-deutsche Fußballspiele zu organisieren ergab. Wie kam es dazu und wie bewerten Sie diese Situation heute?
Ich bewerte diese Situation heute nicht viel anders als damals. Ich war damals ein junger Linker, ein Sozialist und wollte die Welt ändern, sie verbessern. Es sollte mehr Frieden, mehr Gerechtigkeit in der Welt sein. Dafür stehe ich heute noch mit den gleichen Thesen. Aber damals bin ich in den real existierenden Sozialismus gekommen und habe festgestellt, dass die mich nicht so aufgenommen haben, wie ich es mir vorgestellt hatte. Sie wollten mich im Prinzip umdrehen, um gegen meinen eigenen Staat zu arbeiten. Das fand ich total unmöglich. Da hat meine Ehre verletzt.
Wenn man diese Geschichte liest, gewinnt man den Eindruck, dass Sie im guten Glauben und am Anfang auch etwas naiv den Kontakt zur DDR aufgenommen haben…
Naiv ist falsch. Es entspricht einfach genau meiner gesamten Lebensphilosophie: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Ich bin damals in Leipzig am Hauptbahnhof angekommen und habe gesagt: Hier bin ich. Ich möchte gerne zur Sporthochschule. Da wurde mir gesagt, dass ich nicht so ohne Weiteres dorthin könnte, dass ich eine Einladung und ein Visum und was weiß ich alles bräuchte. Anschließend wurde versucht, meine Gutmütigkeit und meine Motivation, Menschen zusammenzubringen, auszunutzen. Ich sollte für ihren Geheimdienst arbeiten. Das fand ich ganz schlicht und einfach eine Sauerei. Da wusste ich, dass ich das nicht mit mir machen lassen wollte. Ich habe ja gesehen, dass es den Leuten in der DDR dreckig ging. Ich bekam Krim-Sekt, Aalbrot und frisches Obst bei meinem Besuch serviert. Und meine Verwandten in Rostock hatten seit Jahren keine Aale mehr gegessen, da sie alle in den Westen exportiert wurden. Das fand ich verlogen.
Wie haben Sie auf diese Avancen reagiert?
Als ich zurück in der BRD war, habe ich den Behörden davon erzählt, auch um mich selbst zu schützen. Nicht dass im Nachhinein eine Legende gebildet werden konnte, dass der Lemke ein Agent sei. Daraufhin wurde ich dann angesprochen, ob ich mir nicht vorstellen könnte für die BRD zu arbeiten. Das wollte ich nun eigentlich auf keinen Fall. Ich wurde dann gefragt: Aber Herr Lemke, wenn alle Leute so denken würden wie Sie, wie sollen wir dann herausfinden, wo wir angegriffen werden, wo unsere schwachen Stellen sind? Irgendwann hatten sie meine Abenteuerlust entfacht. Das war ja das erste Mal, dass irgendjemand etwas wirklich von mir wollte, da kam ein Arbeitgeber und sagte: Es ist ein bisschen anrüchig, aber wir bezahlen dir ein Bombengehalt und wir brauchen dich. Dann habe ich mich nach einem Jahr überreden lassen und habe das dann ein paar Jahre gemacht.
Von Beginn Ihres Lebens fallen Sport und soziales Engagement zusammen. Was denken Sie, weshalb das so war?
Die soziale Antenne erklärt sich wohl durch die Care-Pakete. Ich bin schon als kleines Kind durch die Erfahrung der Verteilung von Care-Paketen geprägt worden. Das mag die Ursache für mein soziales Engagement sein. Die sportliche Seite kann ich nur so erklären, dass ich von Anfang an durch Lehrerinnen und Lehrer so geprägt worden bin, dass ich Lust am Sport hatte. Die haben mich gelobt, motiviert und ich hatte gute Noten im Sport.
Warum eignet sich Ihres Erachtens der Sport so gut, um Werte zu vermitteln?
Weil es so viele unterschiedliche sportimmanente Bereiche gibt, die einfach gut sind. Wenn man Leistung bejaht – und das tue ich – dann kann man das in kaum einem anderen Bereich so gut sehen und erlernen wie im Sport. Wenn man trainiert und lernt, dann kann man Außergewöhnliches erreichen. Egal, ob das nun im Handball, bei der Gymnastik oder im Hochsprung ist. Man muss lernen, trainieren und üben, um etwas zu beherrschen. Das ist ein gutes Training auch für alle anderen Lebensbereiche, zum Beispiel wenn man Fremdsprachen erlernen möchte.
Dabei ist der Sport, wie Sie selbst erfahren haben, eine sehr ambivalente Sache. Einerseits lernt man soziales Verhalten, Teamgeist und sich an Regeln zu halten. Andererseits herscht im Leistungssport auch enormer Leistungsdruck.
Diese Ambivalenz erlebe ich jeden Tag. Es sind oft unangenehme Dinge damit verbunden, wie zum Beispiel Doping. Das liegt sicherlich auch an dem Stellenwert, den unsere Gesellschaft dem Hochleistungssport beimisst. Die Berichterstattung über Hochleistungsevents ist mittlerweile so überdimensioniert, dass ich mich frage, ob die eigentlich noch zu retten sind. Aber es wird natürlich alles mit den Quoten begründet.
Ich versuche weltweit die Regierungen davon zu überzeugen, dass es falsch ist, wenn man den Sport vernachlässigt.
In Ihrer Zeit als Manager für Werder Bremen haben Sie in der Welt des Profi-Fußballs gelebt. Dort spielen doch auch ganz andere Werte als Teamgeist eine Rolle?
Aber Teamgeist spielt beim Fußball eine äußerst wichtige Rolle. Denn wenn es Ihnen als Trainer nicht gelingt Teamgeist in der Mannschaft zu erzeugen, dann werden sie kein Spiel gewinnen. Ein Problem ist die totale Kommerzialisierung. Spieler gehen nicht mehr dahin, wo sie am liebsten spielen möchten, sondern eindeutig dorthin, wo sie das meiste Geld verdienen. Das ist leider so, war natürlich auch früher so, aber nicht ganz so schlimm.
War diese Entwicklung absehbar oder hätte man dem entgegenwirken können?
Das ist leider eher eine natürliche Entwicklung, da es zu wenige Leute gibt, die bereit sind, regulierend einzuwirken. Eigentlich bräuchte man so etwas Ähnliches wie eine Oberregulierungsstelle auf DFB-Ebene oder noch besser in der UEFA oder FIFA. Aber das gibt es leider immer noch nicht.
Nun sind Sie UN-Sonderberater für Sport, Frieden und Entwicklung. Umreißen Sie kurz Ihre Aufgaben.
Das lässt sich relativ leicht definieren durch mein Mandat. Es umfasst den Gesamtbereich der Repräsentation der Vereinten Nationen im Sport. Das heißt, bei allen internationalen Sportveranstaltungen bekomme ich Freikarten und ein Glas Sekt (lacht).
Erfüllt sich da ein Jungentraum?
Vor 30 oder 40 Jahren wäre das für mich auf jeden Fall einen Jungstraum gewesen. Aber Spaß beiseite. Ich möchte ein Anwalt und Förderer des Sports sein. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe, weil die Mehrheit der Regierungen Sport als Luxus betrachten. Ich muss sie überzeugen, dass Sport Sinn macht. Außerdem bin ich ein Vermittler, um Konflikte möglichst zu vermeiden.
Zu Ihrem Zuständigkeitsbereich gehören 193 Länder, 100 davon möchten keine Investitionen in den Sport tätigen, da sie Gelder z.B. dringender für Krankenhäuser benötigen…
Ich versuche weltweit die Regierungen davon zu überzeugen, dass es falsch ist, wenn man sich nur auf andere Dinge konzentriert und den Sport vernachlässigt. Am Beispiel Aids kann ich das gut verdeutlichen. Wenn wir an einem Aids-Projekt arbeiten, überlegen wir uns, wie wir die Inhalte am besten an die Jugendlichen verkaufen können. Also zuerst eine Stunde Fußball auf dem Bolzplatz und danach sprechen wir über Aids. Es ist sogar so, dass bei anschließenden Fußballspielen die richtige Beantwortung der Fragen rund um Aids in der Halbzeitpause zu Zusatzpunkten führt. Das heißt, dass das neben dem Sport vermittelte Wissen für den sportlichen Sieg eingesetzt werden kann. Eine Methode, die sich als sehr effizient erwiesen hat.
Inwiefern kann Sport helfen Konflikte zu lösen, Frieden zu schaffen?
Es gibt in den verschiedenen Krisengebieten Jugendliche und Kinder, die als Soldaten missbraucht worden sind. Diese Kinder kann man mit Sport unwahrscheinlich gut ansprechen. Mit Sport kann man ganz konkret erreichen, dass die Kinder sich wieder in der Nachbürgerkriegszeit zurechtfinden, in Mannschaften zusammenarbeiten und freundschaftlich gegeneinander auftreten.
Immer wieder fällt im Zusammenhang mit Ihrem Engagement der Begriff des „role models“. Sie suchen „role models“ auf der ganzen Welt. Was ist ein „role model“ und wer taugt dafür?
Ein „role model“ ist nichts anderes als ein Vorbild und diese Vorbilder brauchen wir in den Nachbarschaften überall auf der Welt und nicht in den englischen Profiligen. „Role model“ zu sein heißt ja nichts anderes, als ein Vorbild zu sein für die Kinder. Diese Vorbilder sollten möglichst greifbar sein. Mir ist es lieber, wenn die Kinder sich ein Vorbild aus den Townships wählen als einen Rockstar und Fußballhelden. Denn diese Vorbilder werden sie nicht erreichen.
Zu Beginn Ihres Buches nennen Sie Ihre Vorbilder. Ban Ki-moon, eine Person, die Sie als sehr beeindruckend beschreiben, ist aber nicht dabei.
Die Vorbilder, die ich benenne sind Albert Schweitzer, Uwe Seeler und Willy Brandt. Diese Personen haben mein Leben richtig geprägt. An deren Verhaltensmustern habe ich mich sehr stark orientiert. In gewisser Weise zählt aber auch Ban Ki-Moon zu meinen Vorbildern. Doch ich habe ihn ja erst relativ spät kennen gelernt, deswegen taucht er nicht in der Reihe auf.
Wie haben sich auf dem Weg vom leistungsorientierten Werder Manager zum UN-Sonderberater für Sport, Frieden und Entwicklung Ihre persönlichen Prioritäten verschoben?
Leistungsbezogen bin ich immer noch. Aber zum Beispiel zum Bereich Familie habe ich jetzt einen völlig anderen Bezug. In meiner Zeit als Bildungssenator habe ich viel über Erziehung gelernt. Durch diese Konfrontation mit erziehungspolitischen Fragestellungen hat sich enorm viel bei mir verändert. Wenn ich jetzt in Entwicklungsländern bin und sehe, wie armselig die Menschen dran sind und wie toll und luxuriös wir leben, dann weiß ich, das ist ein Quantensprung. Ich kann jetzt viele Dinge viel besser schätzen.
Sie laufen selbst immer mit den Sportlern, die Sie treffen. Warum tun Sie das? Welche Wirkung erzielen Sie damit?
Einer, der auf der Ehrentribüne mit Schlips und Kragen sitzt, ist nicht so authentisch wie derjenige, der sagt: Ich komme nicht zu einer Siegerehrung, sondern ich komme, um mit euch zu laufen. Das überzeugt die Jugendlichen zehnmal mehr.