Herr Wenders, Sie sind nicht nur Präsident, sondern auch Gründungsmitglied der European Film Academy. Ihr Ziel war von Anfang an, ein Bewusstsein für das europäische Kino zu schaffen und ihrer Verantwortung gegenüber dem europäischen Kino als Filmemacher gerecht zu werden. Wie sieht diese Verantwortung konkret aus und wie hat sie sich im Laufe der Zeit verändert?
Wenders: Wir wollten, dass sich das europäische Kino selbst in die Verantwortung nimmt und sich vor allem auch nach außen wieder mit Selbstbewußtsein präsentiert. Und zwar nicht nur als vage Idee, sondern als funktionierende Gemeinschaft. Kein theoretisches Konstrukt, sondern ein eigenes, anderes Kino.
Anders in Bezug auf was? Auf den großen Konkurrenten aus Amerika?
Wenders: Das europäische Kino ist durchaus anders als das amerikanische, klar. Und ist es immer gewesen. Aber wir wollten vor allem ein Bewußtsein für die Zusammengehörigkeit und die Solidarität unter all den europäischen Filmnationen herstellen. Damals, Ende der 80er Jahre, ging es dem europäischen Kino allerorten nicht gut. Aber gemeinsam wollten wir eine neue Kraft entwickeln. Das war unsere Idee. Und das Verantwortungsgefühl dafür wollten wir auf möglichst viele Schultern verteilen.
Was war denn der Grund für die damalige Krise? Lag es an Hollywood?
Wenders: Man kann das nicht nur auf Hollywood schieben, damals und heute nicht. Das wäre einseitig und kurzsichtig. Natürlich gab es traditionell immer eine große Konkurrenz zum amerikanischen Kino, weil dieses im Gegensatz zu den vielen kleinen europäischen Filmnationen mit dem größten Binnenmarkt der Welt bereits eine gewaltige Basis besitzt und dadurch auch paneuropäisch mit breiter Brust auftreten kann. Das ist dem europäischen Kino umgekehrt leider nie gelungen – weder in Europa noch in Amerika.
Europäisches Kino ist in Amerika nach wie vor ein Nischenprodukt, obwohl es herausragende europäische Filme gibt. An der Qualität kann es demnach nicht liegen. Aber woran dann?
Wenders: Ein Grund liegt sicherlich darin, dass sich die Amerikaner seit jeher radikal geweigert haben, unsere Filme zu synchronisieren. Das Publikum für untertitelte Filme ist dort relativ klein. Umgekehrt werden amerikanische Filme überall in Europa wie selbstverständlich in viele Sprachen synchronisiert und erreichen nicht zuletzt deswegen viele Zuschauer. Allerdings hat das europäische Kino damals sicher auch in vieler Hinsicht am Publikum vorbeiproduziert. Und wir sind eben „verzettelt“ in viele kleine Märkte.
Wenn man es positiv ausdrücken möchte, könnte man auch sagen: Das europäische Kino ist irre vielseitig.
Wenders: Vollkommen richtig, aber dadurch wird ein allgemeines kulturelles Problem deutlich: Alles, was vielseitig und kleiner ist, hat überall in der Welt den Großen, den Supermärkten, Platz zu machen. Wenn Sie so wollen, war das europäische Kino immer ein Einzelhandel. Vielen Leuten ist erst bewußt geworden, was sie verlieren, als dieser Verlust schon in vollem Gange war. Diese Entwicklung haben wir, nicht zuletzt durch die Europäische Film Academy, erfolgreich aufgefangen.
Sie haben gerade die fehlende Synchronisation europäischer Filme in den USA angesprochen. Mittlerweile hat es sich eingebürgert, dass erfolgreiche europäische Produktionen für den US-Markt mit amerikanischen Darstellern nachgedreht werden. Ein Unding, oder?
Wenders: Das belegt den zunehmenden Mangel an Fantasie bei den Studioverantwortlichen. Hollywood hat in den letzten zehn Jahren nur sehr wenig Originelles produziert, und sich vornehmlich auf Sequels und Franchising konzentriert. Und das ist schade, denn das kreative Potenzial ist in Amerika durchaus vorhanden, wie man im Independent-Bereich nach wie vor gut sehen kann. Das amerikanische Mainstreamkino hingegen ist schon lange nicht mehr innovativ. Den europäischen Film empfinde ich da als viel lebendiger und erfindungsreicher.
Die EFA existiert seit nunmehr 24 Jahren, seit 15 Jahren sind Sie ihr Präsident. Abgesehen vom diesjährigen Gewinn des Preises für Ihre Dokumentation „Pina“: Welches waren für Sie persönlich die größten Momente des deutschen und europäischen Kinos seit dieser Zeit?
Wenders: Das waren vor allem die Auszeichnungen für ein Lebenswerk, die wir z.B. an Filmschaffende wie Ingmar Bergmann, Michelangelo Antonioni, Marcello Mastroianni oder Claude Chabrol verliehen haben. Da könnte ich Ihnen jetzt eine lange Liste bewegender Momente geben. Und da begreift man den europäischen Gedanken auch am besten, weil dort gewürdigt wird, wie Filmschaffende auf vorbildliche und jeder für sich einzigartige Art und Weise für das europäische Kino gearbeitet haben. Dieses Jahr sind das Stephen Frears mit dem Lifetime Achievement und Mads Mikkelsen als European Achievement in World Cinema.
Erziehung läuft heutzutage weniger über Sprache und immer mehr über Bilder ab.
Ihr 3D-Dokumentarfilm „Pina“ ist als Bester Dokumentarfilm für den Oscar nominiert. Welche Bedeutung hat der Oscar-Gewinn denn überhaupt für einen Film?
Wenders: Für die Zukunft eines Filmes hat er ein immenses Gewicht. Mehr als jeder andere Filmpreis, aber das mag auch an der langjährigen Tradition des Oscars liegen. Das ist eine kommerzielle Auszeichnung, die einem Film eine ganz andere Aufmerksamkeit garantiert. Diesem Status hängt unser Europäischer Filmpreis noch ein wenig hinterher. Noch.
Auch in Anbetracht der Tatsache, dass sie mit Pina Bausch eine langjährige Freundschaft verbunden hat: Was würde Ihnen der Gewinn der Trophäe bedeuten?
Wenders: Sehr viel, aber nicht nur mir. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich so reingehängt habe und mit dem Film mehr als mit jedem anderen zuvor durch die Weltgeschichte gereist bin. Ich hatte das Gefühl, das für Pina Bausch und dieses einzigartige Ensemble mit zu tun. Wir haben diesen Film ja gemeinsam für Pina gemacht, und der weltweite Erfolg ist eine wunderbare Fortführung unserer Anstrengung, die Kunst der Pina Bausch in die Welt zu tragen.
Sie haben mal gesagt, das Bild habe im 20. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht das Wort übertrumpft und das 21. Jahrhundert sei die Zeit der Bildersprache. Woran machen Sie das fest?
Wenders: Ich mache das daran fest, dass immer weniger gelesen wird, während sich immer mehr Leute in der Tat durch Bilder „bilden“ und davon ernähren: Mangas, Comics, Fernsehen, Computerspiele, Internet – ich kenne so viel junge Leute, die jede Nacht stundenlang vor dem Computer herumhängen! Diese Jugendlichen erfahren eine gänzlich andere „Bildererziehung“ als meine Generation. Erziehung läuft heutzutage einfach weniger über Sprache und immer mehr über Bilder ab. Deshalb versuchen wir mit der Europäischen Filmakademie auch schon seit einigen Jahren, eine Bilderziehung an den Schulen als Pflichtfach einzuführen. Mit diesem Anliegen sind wir bereits bis zur Kultusministerkonferenz gekommen. Wir halten das für dringend notwendig, weil das die Hauptsprache der Jugend ist und der komplexe Umgang mit den Bildern in den Schulen bisher so gut wie nicht gelehrt wird. Die Bilderflut trifft viele Jugendliche vollkommen unvorbereitet, sie haben gar kein Instrumentarium, damit umzugehen.
„Pina“ haben Sie erst gedreht, als die digitalen Möglichkeiten da waren, Ihre Vorstellungen davon, wie der Film aussehen soll, auch wirklich umsetzen zu können. Zur Zeit gibt es eine rege Diskussion darüber, dass zukünftig voraussichtlich einige altgediente Programmkinos schließen müssen, weil sie die Kosten der Umrüstung nicht tragen können. Ist das die Kehrseite der Medaille eines solchen Mehrs an Möglichkeiten?
Wenders: Ja, das ist mitunter so. Aber mit „Pina“ haben in Deutschland z.B. einige Programmkinos die Aufrüstung auf 3D gewagt und das auch nicht bereut. Ich hoffe natürlich, dass in naher Zukunft viele weitere Filme mitziehen. Ganz allgemein findet ja seit einiger Zeit eine Umorientierung vieler unserer Bedürfnisse statt. Ich verstehe durchaus, warum so viele Leute bevorzugt in Cineplexe gehen. Die Möglichkeiten der Bewirtung, die Auswahl der Filme, das ganze Klima sind anders, eben eine Shopping Mall statt eines Einzelladens. Da findet derselbe Umbruch ja auch statt. Wir befinden uns gerade in einem riesigen kulturellen Wandel, der sich am Kino am deutlichsten festmachen lässt. Aber auch hier gilt: Im Verlust bemerkt man oft erst, was einem etwas bedeutet hat, und warum. Ich bin zuversichtlich, daß viele der Programmkinos, die sich bis jetzt gehalten haben, hoffnungsvoll in die Zukunft blicken können.
Das Kino hat schon viele Stürme überlebt, auch vom prophezeiten Tod des Kinos ist derzeit nicht viel zu spüren. Wie sieht ihre Prognose für das Kino in den nächsten zehn Jahren aus?
Wenders: Um das Blockbuster- und Action-Kino muss man sich keine Sorgen machen, die sorgen für sich selbst, auch wenn es dort zunehmend ein wenig fantasielos zugeht. Aber gerade weil ein Großteil der Filme in den Fantasy-Bereich abgedriftet ist, erfreut sich der Dokumentarfilm zunehmender Beliebtheit, und das ist eine tolle Entwicklung. Der Hunger des Publikums nach realitätsbezogenen Filmen ist größer geworden. An der Einzigartigkeit des Kinoerlebnisses ändern auch Großbildschirme oder Beamer zu Hause nichts. Im Gegenteil: Das Interesse an Filmen wird langfristig dadurch noch geschürt.
Sie waren immer schon sehr an alternativen Abspielvarianten und anderen Nutzungsweisen des Mediums Film interessiert. Zur Zeit präsentieren Sie zum Beispiel das „The Beauty Of A Second“-Festival im Internet, bei dem jedermann dazu angehalten ist, einsekündige Filme (also 24 Bilder) einzureichen. Reicht Ihnen das tatsächlich, um eine Geschichte zu erzählen?
Wenders: Es ist zumindest ein interessanter Versuch, ein prägnantes Bild zu schaffen – wenn auch sehr extrem. Aber das ist natürlich nur eine Spielwiese, um anzufangen und ein kleines Ausrufezeichen zu setzen.
Im Gegensatz zu den Einsekundenfilmen geht der Trend von Kinofilmen eher zur Überlänge. Was halten Sie davon?
Das ist die Wiederentdeckung der Langsamkeit. Das sehe ich auch oft an meinen Studenten an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Plötzlich gibt es wieder lange Einstellungen und keine schnellen Schnitte mehr wie zu Hochzeiten des Videoclips.
Im Zuge des „The Beauty Of A Second“-Festials haben Sie gesagt, einer der großartigen Aspekte des Kinos sei die Bewusstmachung des Faktors Zeit. Was finden Sie denn so großartig daran?
Wenders: Wir gehen mittlerweile sehr gedankenlos mit Zeit um. Ich kenne kaum jemanden, der keine Probleme mit seinem Zeitmanagement hat. Die meisten Leute laufen sich selbst hinterher, und es wird immer schlimmer. Das Mehr an Möglichkeiten sorgt zunehmend für ein Weniger an Zeit. Das Kino ist jedoch ein aus der Zeit herausgenommener Ort, weil man dort nicht vorspulen kann. Für zwei Stunden begibt man sich in eine von anderen vorgegebene Zeit. Das Kino ist der einzige Ort, wo das heute noch der Fall ist. Überall sonst wird umgeschaltet oder ausgestiegen.